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Full text of "Zeitschrift für Ethnologie"

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1 


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ZEITSCHBJFT 


FÃœK 


ETHNOtOaiE 


Organ  der  Berliner  Gesellschaft       » 


für 


Anthropologie,  ^  Ethnologie  and  Urgeschichte. 


RedactioDs  -  Commission:  * 


A.  Bastian,  R.  Hartmann,  R.  Virchow,  A.  Voss. 


A 


Zwanzigster  Band. 

1888. 


Mit  tO  Tafeln. 


BERUH. 

f 

Verlag  von  A.  Asher  &  Co. 

1888. 


•  • 


Inhalt. 

Seite 
Seier,  T>r.  E.,  Der  Charakter  der  aztekischen  und  der  Maya-Haadschriften.    (Mit  876 

linkographischen  AbbildungeD)      .    .    .    .    ^ 1,  41 

Qaedenfeldt,  M.,  Eintheilang  und  Yerbreitnog  der  BerberbovölkemDg  in  Marokko. 

(Mit  Tafel  I  und  VI) .-> 98,   146,  184 

Heierli,  J,  Ursprung  der  Stadt  Zürich.    (Mit  Tafelll— V) 138 

Bartels,   Dr.  Max,   Culturelle   und   Rassenunterschiede   in  Bezug   auf  die  Wund- 
krankheiten        169 

Friedrichs,  Karl,   Zur  Matriarchatsfrage 211 

Schwartz,   Dr.  W.,  Die  rossgestaltigen  Himmels&rzte  bei  Indem  und  Griechen  .    .  221 

Boas,   Dr.  F.,   Die  Tsimschian 281 

Besprechungen: 

W.  Osborne,  Das  Beil  und  seine  typischen  Formen  in  vorhistorischer  Zeit,  S.  39.  — 
Alb.  Herrn  Post,  Einleitung  in  das  Studium  der  ethnologischen  Jurisprudenz.  Afrika- 
nische Jurisprudenz,  S.  40.  —  Internationales  Archiv  für  Ethnographie,  redigirt  von 
Schmeltz,  S.  181.  —  Oscar  Baumann,  Fernando  Poo  und  die  Bube,  S.  132.  — 
Joachim  Graf  Pfeil,  Vorschläge  zur  praktischen  Kolonisation  in  Ost -Afrika,  S.  133.  — 
Emil  Schmidt,  Die  ältesten  Spuren  des  Menschen  in  Nordamerika,  S.  134.  —  Rasmus 
B.  Anderson,   Die  erste  Entdeckung  von  Amerika,  übersetzt  von  M.Mann,   S.  134. 

—  Jakob  Heierli,  Pfahlbauten,  Neunter  Bericht,  S.  135.  —  Baron  Wilh.  v.  Landau, 
Travels  in  Asia,  Australia  und  America,  S.  136.  —  Edw.  M.  Curr,  The  Australian 
Bace,  S.  161.  —  Pitt  Rivers,  Excavations  in  Cranbome  Chase,  Vol.  L,  S.  162.  — 
A.Lis8auer,  Die  prähistorischen  Denkmäler  der  Provinz  Westpreussen  und  der  an- 
grenienden  Gebiete,  S.  163.  —  J.  G.  Fräser,  Totemism,  S.  164.  —  G.  Neumayer, 
Anleitung  zu  wissenschaftlichen  Beobachtungen  auf  Reisen,  S.  165.  —  Otto  Keller, 
Thiere  des  klassischen  Alterthums  in  culturgeschichtlicher  Beziehung,  S.  165.  — 
Ernest  Chantre,  Recherches  anthropologiques  dans  le  Caucase,  S.  166.  —  Grimm, 
Die  Pharaonen  in  Ostafrika,  8.217.  —  Henry  O'Shea,  La  maison  basque,  S  218. 
~  Axel  0.  Heikel,  Ethnographische  Forschungen  auf  dem  Gebiete  der  finnischen 
Völkerschaften,  8.  218.  —  China,  Imperial  maritime  customs,  32  and  33  Issue,  S.  220. 

—  Hugo  Kleist  und  Alb.  Frhr.  v.  Schrenck  v.  Notzing,  Tunis  und  seine  Um- 
gebung, 8.220.  —  Friedr.  Ratzel,  Völkerkunde,  Bd.  III.  Kulturvölker  der  Alten 
und  Neuen  Welt,  S. 248.  —  Moritz  Aisberg,  Anthropologie  mit  Berücksichtigung 
der  Urgeschichte  des  Menschen  allgemein  fasslich  dargestellt,  S.  249.  —  J.  W.  Po  well, 
Third  annnal  report  of  tiie  Bureau  of  Ethnology  1881  - 1882,  Fourth  report  1882  —  1883, 
8.  2&0.  -  Grempler,  Der  IL  und  III.  Fund  von  Sackrau,  S.  252.  —  Falb,  Die 
Aades- Sprachen  in  ihrem  Zusammenhange  mit  dem  semitischen  Sprachst amme,  8.2.^8^ 


289380 


IV 

—  Naborre  Campanini,  Storia  documcntalc  del  Museo  di  Lazzaro  Spallanzani, 
8.255.  —  L.  Pi^orini  e  P.  I^trobel,  Gaetano  Ohierici  e  la  Paletnologia  italiaDa. 
Memoria  prcceduta  dalla  vita  narrata  da  N.  Campanini,  S.  255.  —  Gustav  Brühl, 
Die  Cnlturvölker  Alt-Amerika's,  S.  255. 

Druckfehler -Verzeichniss   zu:   E.  Seier,   Der  Charakter   der   aztekischen   und  der  Maya- 
Handschriften  (Zeitschrift  S.  1—66),  S.  256. 


Verhandlungen  der  Berliner  Qtsellschaft  für  Xnthropologi«,  Ethnologie  und  Urgeschichte 

mit  besonderer  Paginirung. 

Ein  chronologisches  Inhalts -VerzAchniss  der  Sitzungen,  sowie  ein  alphabetisches  Namens- 
und Sach-Regi^er  befindet  sich  am  Schlüsse  der  Verhandlungen. 


Verzeichniss  der  Taieln, 

-#  - 

Tafel  I.  Karte  zur  Eintheilung  und  Verbreitung  der  BerBi^r- Bevölkerung  in  Marocco 

(Zdtschr.  f.  Ethnol.  XX.  S.  98). 

1,      II — y.     Karte  der  prähistorischen  Funde  und  Abbildungen  der  betreifenden  Alter- 
tb&mer  in  der  Stadt  Zürich   (Ebendas.  S.  188). 

n      VI.  Ethnographische  Gegenstände  aus  Marocco   (Ebendas.  8.  184). 

VII.  Fig.  1.    Bemaltes  Wassergefäss  aus  Thon  vom  oberen  Surinam  (Verhandl. 

der  anthrop.  Ges.  S.  405).  —  Fig.  2—6.  Bronzeschwert  aus  einem  Hügel- 
grabe im  FHttreTier  Havemark  bei  Genthin  und  Grundrisse  mehrerer 
Gräber  daselbst  (Ebend.  S.  431\ 

„      VIII.        Prähistorische   und   ethnographisch«  Gegenstände  aus  Venezuela   (Ebend. 
8.  467). 

„      IX  —  X.    Grabfunde  ans  einer  altslaTischen  Nekropole  bei  Sobrusan,   Nordböhmen 
(Edend.  8.  490). 


Verzeichniss  der  Zinkographien  und  Holzschnitte 

im  Text. 


(H.  =  Holzschnitt) 


Zeitschrift  für  Ethnologie,  1888. 

ßeite    2—95.    876  Abbildungen  nach  aztekischen  und  Maya- Handschriften. 
^  121.   Waffen  and  Doppelhorn  der  Kif- Berber  in  Marocco. 

Yeihandlimgeii  der  Berliner  Gesellschaft  für  Anthropologie,  Ethnologe 

und  Urgeschichte,  1888. 

Seite  18.    Jadeit -Idol  Ton  S.Felipe,  an  der  Grenze  Ton  Honduras  und  Guatemala. 
^     49.    Fnnde   vom  Umenfelde  auf  dem  Galgenberge  bei  Friedrichsane,   Aschersleben, 

namentlich  Deckelornen. 
«     52— 54.    La  Tene-Fund  ypn  Schmetzdorf,  Kr.  Jerichow  11,  Prov.  Brandenburg. 
^     54.    Eiienfmid  Ton  Rampitz,  Kr.  West-Stemberg. 


IV 

Seite    55.    Kartenskizze  des  Gräberfeldes  von  Gleinau,  Schlesien. 

„  57.    Urnen  und  Knopfnadel  aus  Bronze  von  ebendaher. 

„  63.    Spiralfingerring  aus  Bronze  von  da. 

„  65.    Bronzenadeln  und  Ring  von  da. 

„  66.    Thongeräthe  von  da. 

„  67.    H.    Bronzering  von  Giessmannsdorf  (Kiederlausitz). 

„  95.    Situationsskizzen  der  Ruinen  von  Xochicalco,  Mexico. 

„  %.    Grundriss  der  ersten  Terrasse  von  da. 

„  96 — 106.    Skulpturen  von  da. 

„  106.    Skulpturstück  von  t^atzin  bei  Xochicalco. 

„  107.    Steinbild  von  der  Loma  de  la  Malinche  bei  Xochicalco. 

„  108—109.    Hieroglyphisch^  Figuren  von  Mexico. 

„  111.    Gesichtsbecher  aus  Thon  von    dem  Mirador  von  Miacatlan  und  Embleme  der 

Orte  Miacatlan  und  Cuatetelco. 

„  119.    Steingeräthe  aus  einem  Depotfunde  bei  Bagemühl,  Kr.  Prenzlau. 

„  128.    Eiserner  Gürt«lhaken  von  Giessmannsdorf,  Niederlausitz. 

„  141.    H.    Bronzefibel  mit  farbigen  Einlagen  von  Schwabsburg,  Rheinhessen. 

„  151—153.    Urnen  und  Brochen  von  Gleinau,  Kr.  Wohlan. 

f,  158.    Thongefässe  von  Kl.-Ausker  bei  Wohlau. 

„  158 — 154.    Stücke    eines   Bronze fundes    in    einem   Bronzeeimer  von   Kreuz   au   der 

Ostbahn.  * 

„  154.    Steinaxt  von  Ober-Sannitz,  Kr.  Goldberg- Uaynau,  Schlesien. 

„  157.    Moderne  Gesichtsumen  aus  dem  Bayerischen  National -Museum. 

^  158—159.    Bronze-   und   Steingeräthe,   namentlich   Pfeilspitzen  aw   der  Umgebung 

von  Oranienburg,  Prov.  Brandenburg. 

„  172.    Kerbholz  aus  Siebenbürgen. 

„  178.    Situationsplan  des  Burgwalls  von  Schiwialken,  Kr.  Pr.-Stargardt^  Westpr. 

„  180.    Pferdegebiss   aus  Hirschhorn  und  Knochen  aus  dem  Pfahlbau  von  Corcelettes, 

Neuenburger  See. 

„  181.    Eiserner  Schlüssel  aus  einem  äjptischen  Grabe  der  Zeit  Ramses  II. 

„  187.    H.    Schweineschädel. 

„  199.    U.    Doppelknöpfe  aus  Eberzähnen  von  Mellentin,  Neumark. 

„  206 — 207.    Megalithische  Gräber  von  Gretesch  und  Hekese  im  Osnabrückschen. 

„  210.    Gemuschelte  Feuersteingeräthe  aus  einem  ägyptischen  Grabe  von  Gebelen,  dem 

alten  Krokodilopolis. 

„  211.    Augen  einer  ägyptischen  Holzmaske,  mit  schwarzer  Schminke  verziert. 

„  212.    Auge  des  Kolosses  von  Ramses  II.  bei  Mitrahinne,  Memphis,  und  Schminkbüchsc 

nebst  Pistill  von  Theben. 

„  215—216.    Wetzmarken  an  der  Tempelwand  von  Kamak. 

„  217.    Ankeraxt  aus  Diorit  von  der  Serra  do  Herval,  Brasilien. 

„  222 — 228.    Schädel  des  Bos  primigenius. 

„  225.    Bearbeiteter  Metatarsalknochen  desselben  Thieres. 

„  244.    Grundriss  eines  japanischen  Hauses. 

,.  247.    Gekrümmte  Bronzenadeln  von  der  Kulpa,  Krain. 

„  248.    Gemmen  vom  Alsent3rpas  von  Holwerd,  Friesland,  und  Spannum  im  Westergoo. 

^  254 — 255.    Grabfunde  von  Droskau,  Kr.  Sorau,  Niederlausitz. 

^  257.    Kartenskizzen  des  Zomkowisko  bei  Gostomie,  Kr.  Carthaus,  Westpr. 

„  262-268.   Kartenskizzen  des  Schlossberges  von  Spengawsken  am  Zduny-See,  Westpr. 

„  264.    Urnen  aus  Steinkistengräbem  von  Blumberg  an  der  Randow. 

„  265.    Urnen  und   Bronzen  aus  einem  Steinkistengrabe  von  Boeck  bei  Nassenheido, 

Vorpommern. 

„  267.    Schwirrholx  von  Neu -Guinea  mit  Thierzeichnongen. 

„  274.    H.    Knopf  aus  Eberzahn  von  Mellenthin,  Neumark. 

M  279 — ^282.    Geräthe  zum  Diebesorakal  in  Java. 

„  284.    Speerspitze  aus  Feuerstein  von  Qr.- Gastrose,  kr.  Guben,  nebst  GefUssrest 


vn 

S«it«  2H5.    Lanzanspitzen  aus  Feaerstein  von  Rückersdorf,  Kr.  Lnckau,  und  von  Neuzolle, 
Kr.  Guben,  sowie  bronzener  Flachcelt  von  Gr.  -  Gasfrose. 
.,    286.    Eisenfnnde  in  Hügelgräbern  von  Homo,  Kr.  Guben,  und  mittelalterliches  Gefäss 
von  Magdeburg. 

•  291.    Kartenskizzen  der  Schwedenschanze  bei  Stocksniühle,  Kr.  Marienwerder. 

•  292.    Baoemhaus  aus  dem  Kr.  Deutsch  -  Krone. 

M  296.    Pferdekopf  und  Storchschnabel  als  Giebelverzierung  in  Westprcussen. 

^  901.    Altes  Haus  von  Lüschcrz  (Locras)  am  Bieler  See  mit  Speicher. 

.,  802—804.    Grundrisse  von  älteren  Häusern  in  Hom,  Lippe -Detmold. 

.  807.    H.    Alsengemme  aus  Enger,  Reg.-Bez.  Minden. 

.,  811.    Grabfeben  am  Extemsteine,  Westfalen. 

«  814.  Thürbalken  mit  der  Jahreszahl  184G  von  Marpach,  Gem.  Heimenschwand,  C'anton 
Bern. 

^  817.    Importirte  Feuersteinknollen  aus  schweizerischen  Pfahlbaustationen. 

.,  819.    Verzierte  Knochenscheiben  aus  alte«^  Gräbern  von  Caldera,  Chile. 

.,  822.  Gesichtsume  von  Strzepcz,  Kr.  Neustadt,  Westpr.,  nebst  Einzeichnung  (In- 
schrift?). 

«  328.    Spitxmützen-Ume  von  ebenda. 

.,  824.    Kartenskizzen  des  Schlossberges  von  Neustadt,  Westpr. 

•  826.    Slavische  ümenscherben  Von  da. 

.,    827.    Geschiebestein  mit  Einschnitten  aus  der  Nähe  des  Schlossberges. 

^    827—828.    Kartenskizzen  des  Burgwalls  von  Neustadt. 

p    829.    Skizzen   des  Gisdepka- Burgberges   bei   Kl.-Schlatau,  Kr.  Neustadt,  und   des 

scheinbaren  Burgwalls  von  Pelzan. 
.,    881.    H.    Stein  mit  eingemeisselten  Zeichen  in   der  Nähe   des  Schlossberges   bei 

Neustadt. 

•  382.    H.    Yorchristliche  rechtwinklige  Kreuzzeichen. 

•  884.    Hufeisen  und  Hammer  im  Moor  von  Marienbad,  Böhmen. 

y,  839.    Metallmörser  aus  dem  Moor  von  Lnbtow  bei  Pyritz,  Pommern. 

n  342.    Bearbeiteter  Homkem  des  Bos  primigenius  aus  dem  Moor  von  Barnow,  Hinter- 

pommem. 

„  848.    Knochenharpune  von  ebendaher. 

.,  8^    Eselshnfe  (Dufr  el  homär)  aus  dem  Wadi  Ssaniir,  Aegypten. 

^  355.    Fenerstein- Artefakte  von  Helwan  bei  Cairo. 

,  856.    DesgL  aus  dem  Wadi  Tarfeh,  Arabische  Wüste. 

«  867.    DesgL  ans  dem  Fayum,  jenseits  des  Birket-el-Qurnn. 

„  859—861.    DesgL  vom  Gebel  Assas,  W.  von  Luqsor. 

«  862.    Aegyptischer  Behaustein  (Schlagstein)  aus  Homstein. 

^  863—364.    Aegyptische  Reibsteine. 

9  865.    Aegyptischer  Klopfstein. 

^  868—869.    Aegyptische  Morpholithen. 

^  878.    Freiwillig  gesprungene  Feuersteine  aus  Aegypten. 

.  384—885.    Thonscherben  von  Bohon  gegenüber  von  Wadi  Haifa,  Nubien. 

.  386.    Thonscherben  mit  Wellenlinien  von  El  Kab. 

.,  388—890.    Funde  von  Thon  und  Glas  von  Medinet-madi  (Dionysias?)  im  Fayum. 

^  891.    Moderner  Hirtenstab  (Scepter)  von  Epidanros,  Peloponnes. 

,  408.    Deformirter  Schädel  vom  Baksan,  Nordkaukasus. 

,  420.    Silberne  Büchse  zu  Augensalbe  von  Madras. 

.,  486.    Fände  der  römischen  Zeit  von  Liebesitz,  Kr.  Guben. 

,  487.    Fände  von  Starzeddel,  Kr.  Guben. 

.,  440    441.    Perlen  ans  Eberzahn. 

.  446.    Bmstachmuck  ans  Eberzahn  aus  einem  Steinzeitgrabe  von  Plan,  Meklenburg. 

•  455—458.    Alterthfimer  der  Huaxteca,  Mexico. 

«    470— 47S.    Schädel   eines  Ponka,   eines  Peruaners  (Pachacamac) ,  eines  Skelets  von 
Bhmiberg  und  einer  Mumie  von  Hawara. 


vm 

Seite  473.    Alter  Wetterzeij^er  ans  Oberbayern. 

-  474.    Almenschlösser  aus  Oberbayem  und  Kbrnstanipfen  aus  der  Priej^iitz. 
^  479—480.    Bronzebeigaben  aus  einem  Grabe  bei  Scbönau,  Böhmen. 

.,  494—495.    Kartenskizzen  dos  Burgwalls  von  St.  Johann,  Kr.  Pr.  Stargardt,  Westpr. 

.,  499.    Burgwall  von  Owidz-Gut,  in  demselben  Kreise. 

«  503—504.    Westpreussische  Bnrgwälle  im  Kr.  Putzig  u.  s  w. 

«  558.    Pfeilspitzen  aus  Feuerstein  vom  Höhbeck  a.  Elbe. 

-  558.    Portal  des  Doms  von  Havelberg. 

.,  560.    Gemme  von  Havelberg.  * 

-  563.    Goldene  und  bronzene  Armringe  von  Bagemühl,  Kr.  Prenzlau. 

..  565.    Syenithammer  und  Thonscherben  von  Adersleben,  Kr.  Oschersleben. 

n  566.    Bronzespiralring  von  Zauchel,  Kr.  Sorau,  Niederlausitz. 

^  567.    Hirschhomhammer  von  Salzkotten,  Kr.  Friedeberg,  Neumark. 

„  568.    Mittelalterliche  Thonscherben   von  Biberteich,   Kr.  West-St^rnberg,   und  von 

Guben.  * 

„  583.    Bronzen  aus  Gräbern  von  Radewege,  Brandenburg  a.  Havel. 

^  584.    Thongefässe  aus  Gräbern  von  Kadewege  und  Butzow. 

.,  589—590.    Bronzeschale  nebst  Depot  aus  dem  Moor  von  Murchin  bei  Anclam. 

„  591.     Bronzemesser  aus  demselben  Moor. 

.,  592.     Grabfund  von  Südende -Lankwitz  bei  Berlin. 

^  594.    Kappe  und  Hui  der  Kru- Neger. 

.,  597.    Situationsskizze  des  Gräberfeldes  von  Dassendorf  im  Sachsenwalde. 

-  597 — 600.    Grabumen  von  da. 


I. 

Der  Charakter  der  aztekischen  und  der  Maya- 

Handschriften. 

Vorgetragen  in  der  Sitzung  vom  16.  Juli  1887  der  Berliner  Gesellschaft  für  Anthropologie, 

Ethnologie  und  Urgeschichte 

von 

Dr.  E.  SELER 

in  Berlin.  » 


Die  Art  und  Weise,  wie  in  mexikanischen  Handschriften  einem  Gedanken 
Ausdruck  gegeben  wird,  hat  man  in  neuerer  Zeit  fticht  unpassend  einem 
Rebus  verglichen.  In  der  That,  die  Bilder,  mit  welchen  im  Codex  Men- 
doza  die  Namen  von  Personen  und  Orten  wiedergegeben  werden,  sind 
Rebus  im  eigentlichen  Sinne,  Wortrebus  oder  Silbenrebus.  Für  die 
einzelnen  Worte  oder  Silben,  aus  denen  der  Name  des  Orts  oder  der  Person 
besteht,  treten  die  Bilder  von  Gegenständen  gleicher  Benennung  oder  gleichen 
Klanges  ein,  unter  Nichtberücksichtigung,  bezw.  absichtlicher  Hin tenansetzung 
der  Vorstellung,  welche  das  betreflPende  Wort  oder  die  betreflPende  Silbe 
repräsentirt.  Ich  führe  als  Beispiele  die  Ortsnamen  Quauhtikan,  Quauh- 
nahnac,  Tollantzinco,  Xilotepec,  Tepeyacac  und  Texcoco  (Figur 
1 — 6)  an.  Die  beiden  ersten  Namen  bedeuten  „am  Walde"  und  sind 
zusammengesetzt  aus  den  Silben  quauh  (Wurzel  des  Wortes  quahuitl, 
^Baum",  „Wald")  und  aus  den  Postpositionen  tlan  und  nahuac,  die  beide 
„in,  an«,  bei"  bedeuten.  Dem  entsprechend  zeigen  die  Bilder  uns  auch  einen 
Baum.  Aber  die  Silbe  tlan  ist  ausgedrückt  durch  zwei  Zahnreihen,  denn 
tlan-tli  heisst  der  „Zahn".  Und  die  Silbe  nahuac  ist  ausgedrückt  durch 
eine  Mundöilhung  mit  dem  Züngelchen  davor,  das  allgemein  als  Zeichen 
der  Rede  fungirt;  denn  nahuatl  heisst  „die  deutliche  Rede".  Tollan- 
tzinco bedeutet  „Klein -Tollan",  und  Tollan  selbst  bedeutet  „Ort,  wo 
Binsen  wachsen".  Demgemäss  zeigt  uns  das  Bild  (Fig.  3)  ein  Bündel 
Binsen,  aber  die  Endung  tzinco,  „klein",  ist  durch  den  Hintern  eines 
Menschen  ausgedrückt,  denn  tzintli  heisst  „der  Hintere".  Xilotepec 
heisst  „Ort  des  jungen  Maiskolbens"  und  ist  entsprechend  ausgedrückt 
durch  eine  (mit  grüner  Farbe  gemalte)  Figur,  die  überall  als  Zeichen  des 
Berges  (tepetl)  fungirt,  und  durch  zwei  junge  Maiskolben  (xilotl)  mit  den 
grossen  heraushängenden  Narbenbüscheln.  Tepeyacac  heisst  „an  dem 
Bergvorspnmg"  oder  „an  der  Bergspitze",  zusammengesetzt  aus  dem  Worte 

Zctodirift  Ar  Bthaolofi«.    Jahrf.  ltU)8.  1 


2  E.  Sei.EB; 

tepetl  „Berg"  und  yacatli  „Naa«",  mi<i  ist  ilem  unUprechciKl  darKestellt 
durch  das  Zuichen  des  Berges  (griln  gemalt)  mit  einer  (bniiiii  gemHile») 
Nase  daran.  Texcoco  heisst:  „wo  die  Felseiiblumi«  (toxiotl)  wtiflist". 
Das  Bild  zeigt  uiia  eiiieu  in  drei  Spitzen  getlieilteii  und  mit  der  doppelten 


Farbe  des  Steine  gemalten  Berg  und  darauf  zwei  Blanien.  Die  Silbe  c. 
CO,  welche  „in,  an"  bedeutet,  ist  in  <ler  ganzen  Reihe  nicht  ausgedrückt. 
Sie  versteht  sich  von  selbst,  da  der  Leser  der  Handschrift  aus  dem  ganzen 
Bilde  ersieht,  dass  es  sich  um  Ortsnamen  handelt. 

Unter  den  Begriff  des  Rebus  fällt  in  gewisser  Weise  auch  die  Art, 
wie  die  alten  Mexikaner  ihre  (iötter  mit  Symbolen  und  Attributen  aus- 
etafBrten  und  umgaben.  Ks  lieisst  das  religiöse  Denken  und  Fühlen  dieser 
alten  Öötzeiianbeter  doch  zu  gering  anschlagen,  wenn  die  spanischen 
Eroberer  und  die  mönchischen  Ajiostel  annahmen,  dass  die  göttliche  Macht, 
die  unter  diesem  oder  jenem  Namen  verehrt  wurde,  auch  in  der  scheutts- 
lichen  oder  bizarren  Form  gedacht  wurde,  in  welcher  der  Gott  in  Stein  gehauen 
oder  in  den  Handschriften  dargestellt  wurde.  Im  Oegentheil:  (iesiclits- 
bildung.  Bemalung,  Schmuck,  Waffen,  Geräthe,  die  dem  tiott  gegeben  oder 
die  neben  ihm  angebracht  wurden,  —  sind  alles  nur  Mittel,  um  den  Gott 
zu  Charakter isi reu,  um  in  der  unbehülflichen  Weise  einer  symbolischen 
Schrift  die  Eigenschaften  und  die  besondere  Natur  des  Gottes  zum  Aus- 
druck zu  bringen.  Ks  ist  dlis.  wie  gesagt,  in  gewisser  Weise  auch  ein 
Rebus,  aber  kein  Wortrebus  mehr,  sondern  ein  Gedankenrebus. 

Was  nun  die  ganzen  Handschriften  und  die  Darstellungen  der  Monu- 
mente angebt,  so  muss  ich,  im  Gegensatz  zu  einer  jüngst  ausgesjirochenen 
Ansicht,  entschieden  behaupten,  dass  die  S]>rache  derselben,  wenigstens  in 
ihrer  Ãœberwiegenden  Mehrheit,  entschieden  unter  den  letzteren  BegrilT. 
den  des  Gedankenrebus,  fällt.  Wenn  wir  auf  den  ersten  Blättern  des 
Cod.  Mendoza  eine  Anzahl  von  Jahren  mit  ihren  Zeichen  angegeben  finden, 
daneben    das  Bild    eines  Königs    mit  seiner  Namensbieroglyphe.    und   ihm 


Der  Charakter  der  asstekischen  und  der  Maya-HandschrifWu.  3 

«^oj^iMiilhor  dl«  Hieroglyphen  einer  Anzahl  von  8ta<lten  und  Ortschaften,  und 
vor  jeder  da«  Bild  des  brennend<'n  Tempels,  das  Symbol  der  Unterwerfung 
od«»r  Zi»rstörunj»:,  so  lasst  sich  dies  kaum  mehr  in  einen  sprachlichen  Satz 
zusammenbringen.  Ks  ist  Sprache  in  Bihlern  und  Symbolen,  ein  (leihinken- 
rebus,  bc<leutcnd,  dass  der  König  di«»8<»s  Namens  so  und  so  lange  regierte 
und  die  und  die  Städte  unterwarf.  Noch  deutlicher  tragen  den  Charakter 
di»s  (ledankenrebus  die  hinteren  Blatter  des  Codex  Mendoza,  wo  wir  neben 
«leii  IIierogly])hen  der  Städte  die»  Zahl  und  den  Charakter  der  von  ihnen 
zu  leistenden  Tribute  in  deutlichen  Bild«»rn  oder  verständlichen  Symbolen 
angegi'ben  finden.  Und  ebenso  die  anderen.  Die  einzelnen  Hieroglyphen  (Orts- 
und Personennamen)  repräscMitiren  eine  Art  von  Silbenschrift  in  Bildern,  — 
vielleicht,  in  manchen  Handschriften  (Codex  Viennensis  und  die  verwandten), 
auch  ilie  einzelnen  Symbole,  —  aber  der  Gesammtinhalt  erhebt  sich  nicht 
über  den  Charakter  einer  bildlichen  und  symbolischen  Darstellung;  zu- 
sammenhängende Sätze  shid  in  der  oben  erläuterten  Weise  nicht  geschrieben 
worden. 

Hinsichtlich  der  Maya- Handschriften  hat  ValBNTINI  schon  im  Jahre 
1880  die  Ansicht  ausgesproidien,  dass  das  hieroglyphische  Alphabet,  welches 
in  dem  Geschichtswerk  des  Bischofs  LaNDA  überliefert  ist,  spanisches  Mach- 
werk sei.  Thatsache  ist,  dass  die  Versuche,  mit  Hülfe  dieses  Alphabets 
die  Maya -Handschriften  zu  entziflTern,  vollständig  missglückt  sind.  Einen 
audeni  Weg  hat  Professor  CYRUS  THOMAS  und  in  neuerer  Zeit  Dr.  SCHELLHAS 
eingeschlagen,  nehmlich  den  <ie8  unabhängigen  Studiums  der  Handschriften 
selbst,  und  der  Letztere  hat  als  seine  Ansicht  ausgesprocluMi,  flass  die 
Maya-Schrift  imPrincip  ideographisch  sei  und  sich  nur  zur  Vervollständigung 
der  ideographischen  Hierogly])henbilder  vielleicht  einer  Anzahl  feststehender 
phonetischer  Zeichen  bediene.  Auch  ich  habe  «lie  Ueberzeugung  gewonnen 
und  sie  in  einem  früheren  Vortrage  ausgesprochen,  dass  die  Maya-Hiero- 
glyjdien  wesentlich  ideographischer  Natur  sind.  Wie  wir  indes  eben  an 
«len  aztekischen  Handschriften  gesehcm  haben,  V(»rträgt  sich  eine  im  All- 
gemeinen ideographische  Schreibweise  sehr  wohl  mit  phonetischer  Con- 
stitution der  einzelnen  Hieroglyphen,  und  es  wäre  zuvör<lerst  noch  erst  zu 
prüfen,  was  man  in  dieser  Beziehung  von  den  Maya -Hieroglyphen  zu 
urtheilen  hat. 

Hier  möchte  ich  nun.  ohne  im  I^rincip  zu  negiren.  dass  phonetisch 
constituirto  Hieroglyphen  möglich  sind  und  auch  vorkommen.  -  ich  würde 
solche  zu  allererst  auf  den  Steininschriften  suchen,  wo  v(»rmuthlich  Namen 
von  Personen  und  Ortschaften  eine  gewissi»  RoUe  spielen  werden.  —  doch 
als  meine  Ansicht  ausspn'chen,  dass  in  den  üblichen  Hieroglyphen  der 
Handschriften  phonetische  Elemente  fehlen  und  nur  sporadisch  vertreten  sind. 

Es  liegt  das  gewissermaassen  in  der  Natur  der  Sache.  Da  in  der 
Maya-Sprache  die  meisten  Dingwörter  Monosyllaba  sind  oder  durch  eine 
beschrankt«»  kleine  Zahl    von  Suffixen  von  Monosyllabis  sich  ableiten,    so 

1* 


4  E.  Seleb: 

boten  för  die  schriftliche  Unterscheidung  die  in  einem  Worte  enthaltenen 
Vorstellungselemente  entschieden  mehr  passende  und  leichter  zu  verwerthende 
Mittel,  als  sie  der  Klang  der  Worte  darbieten  konnte. 

Wir  kennen  eine  Anzahl  von  Hieroglyphen,  deren  Lautwerth  mit  Sicher- 
heit festgestellt  gelten  darf,  und  bei  denen  wir  auch  über  die  Bedeutung  der 
Worte  im  Allgemeinen  nicht  im  Unklaren  sind.  Das  sind  die  von  LANDA  uns 
überlieferten  Hieroglyphen  der  Monatsnamen.  Hier  zeigt  sich  nun,  dass 
einsilbige  Worte  durch,  aus  mehreren  Elementen  bestehende  Hieroglyphen, 
mehrsilbige  durch  einheitliche  Zeichen  wiedergegeben  sind.  Die  drei 
Monate  yax,  zac,  ceh  werden  durch  die  Hieroglyphen  Fig.  7,  8,  9  aus- 
gedrückt. Der  untere  Theil  der  Hieroglyphe  ist  in  allen  drei  derselbe  und  iden- 
tisch mit  dem  Tageszeichen  cauac.  Der  obere  Theil  der  ersten  Hiero- 
glyphe kommt  auch  in  der  Hieroglyphe  des  Monatsnamens  yaxkin 
(Fig.  10,  11)  vor,  und  da  der  untere  Theil  dieser  Hieroglyphe,  wie  es 
scheint,  kin,  „den  Tag"  oder  „die  Sonne",  bezeichnet,  so  möchte  man 
schliessen,  dass  das  Element  Fig.  12  in  der  That  mit  yax  übersetzt  werden 
mu8s,  ein  Wort,  welches  „grün"  oder  „blau",  aber  auch  „das  erste,  ursprüng- 
liche" bedeutet.  Die  oberen  Theile  der  beiden  anderen  Hieroglyphen 
kehren  in  einer  Reihe  von  vier  Elementen  (Fig.  V6  — 16)  wieder,  welche 
(wie  schon  SCHELLHAS  erkannte)  mit  den  vier  Himmelsrichtungen,  die  durch 
die  Hieroglyphen  Fig.  18 — 21  bezeichnet  werden,  in  der  Weise  zusammen- 
geordnet sind,  dass  sie  den  wechselnden  Bestandtheil  sonst  gleichartiger 
Hieroglyphen  bilden,  welche  in  der  Begleitung  der  genannten  Hieroglyphen 
der  vier  Himmelsrichtungen  auftreten,  während  das  Element,  welches  ich 
eben  als  vermuthlich  den  Lautwerth  yax  habend  bezeichnet  habe,  in  ganz 
gleicher  Weise  einer  fünften  Himmelsrichtung  entspricht,  die  auf  den 
einander  ergänzenden  Tafeln  des  Cod.  Tro  36  und  des  Cod.  Cortez  22  in  der 
Reihe  der  Hieroglyphen  der  Himmelsrichtungen  zu  sehen  ist  und  die 
Oestalt  der  Figur  17  hat.  Da  diejenigen  Gegenstände,  welche  mit  einer 
der  vier  Haupthimmelsrichtungen  in  Verbindung  gebracht  wurden,  von  den 
Maya  durch  eine  bestimmte  Farbe  ausgezeichnet  wurden,  —  und  zwar  der- 
gestalt, dass  den,  durch  die  Tageszeichen  ix,  muluc,  kan,  cauac  bezeich- 
neten Himmelsrichtungen,  die  allgemein  mit  den  Himmelsrichtungen  chikin 
Westen,  xaman  Norden,  lakin  Osten,  nohol  Süden  identificirt  werden, 
die  Farben  zac  „weiss",  chac  „roth",  kan  „gelb",  ek  „schwarz"  ent- 
sprechen — ,  so  liegt  die  Vermuthung  nahe,  dass  die  Elemente  Fig.  13 — 16 
eben  diese  vier  Farben  bezeichnen.  Da  weiter  von  diesen  vier  Elementen 
die  Fig.  14  in  der  Hieroglyphe  des  Monatsnamens  zac  „weiss",  die  Fig.  13 
in  der  des  Monatsnamens  ceh  „Hirsch",  d.  i.  des  rothen  Thieres,  ausser- 
dem Fig.  13  als  auszeichnendes  Merkmal  in  der  Hieroglyphe  einer  Göttin 
vorkommt  (Fig.  28),  einer  Begleiterin  des  Chac,  die  im  Codex  Dresden 
67  a  und  74  mit  roth  er  Farbe  und  mit  Tigertatzen  dargestellt  wird, 
so  liegt  die  weitere  Vermuthung  nahe,  dass  eben  das  Element  Fig.  14  den 


D«i  Chtnktor  der  utekisclieii  nnd  der  Uaya-Hutdachrifteti.  5 

Lautwerth  xac  „weiss",  das  Element  Fig.  13  den  Laatwerth  chac  „roth" 
und  dem  entsprechend  die  Figg.  16  und  15  bezw.  du»  Laatwerth  kan  „gelb" 
und  ek  „schwarz"  haben.  Dann  wflrde  aber  weiter  folgen,  daas  die  Hiero- 
ttlyphen  Fig.  18 — 21,  von  denen  man,  nach  der  gaozon  Art  ihres  Vor- 
kommeus,  mit  Bestimmtheit  annehmen  kann,  dasa  sie  die  Tier  Haupt- 
himmelsrichtungen bezeichnen,  über  deren  Identificirung  im  Einzelnen  aber 
man  noch  immer  im  Unklaren  ist,  —  DE  ROSNV  (Vocab.  hierat.)  liest 
18-21  Osten,  Norden,  Westen,  Sflden;  CYKÃœS  THOMAS  (Shedy  Manuacr. 
Troano)    und    nach    ihm   FÃœBSTEMANN    und    SCHELLHAS,    bezw.  Westen, 


«/^  «ß27)  'ii^  '', 


Norden,  Osten.Sflden;  C^TtÃœS  THOMAS(Thinl  Ann.ReportBureau  of  Ethnology 
p.  61):  Westen,  Süden,  Osten,  Norden — in  Wirklichkeit  ganz  anders,  nehmlich 
Fig.  18  mit  xaman  „Norden".  Fig.  19  mit  chikin  „Westen",  Fig.  20  mit 
nohol  „8Qden"  und  Fig.  21  mit  lakin  „Osten"  gleichgesetzt  werden 
müssen.  Die  fünfte  Himmelsrichtung  Fig.  17,  von  der  im  Cod.  Cortcz  22 
die  Varianten  Fig.  22,  23  vorkommen,  bezeichnet  dann  ohne  Zweifel  die 
Senkrechte,  die  Bewegung  von  oben  nach  unten  oder  von  unten  nach  oben. 
Ihr  ist,  wie  au»  Codes  Tro  30— 31d  und  14bc  hervorgeht,  entsprecliend 
da«  Element  Fig.  12  coordinirt.  welchem  wir  den  Lautwerth  yax.  d.  \\. 
die  Farbe  „grün"  oder  „blau"  zuschreiben.  —  die  Farbe  des  Himmel!«  unil 
de»  Himmolsbaumes,  des  yaxche  oder  der  Ceiha  (Bombax  Ceiba). 


6  E.  Selkr: 

In  den  besprochenen  Fällen  haben  wir  also,  wie  es  scheint  hioro- 
glyphische  Elemente  mit  bestimmtem  Lautwerth,  und  in  der  Figur  10,  11 
sogar  eine  phonetisch  constituirte  Hieroglyphe  vor  uns.  Daraus  folgt  aber 
keineswegs,  dass  die  genannten  Elemente  nur  in  dieser  phonetischen  Be- 
deutung gebraucht  werden  können,  noch  weniger,  dass,  wo  hiemach  durch 
den  Wortlaut  eine  phonetische  Constitution  indicirt  erschiene,  eine  solche 
auch  nothwendig  eintreten  muss.  Im  Allgemeinen  stehen  in  der  Schrift 
die  Vorstellungselemente  durchaus  an  erster  Stelle.  Und  selbst,  wo  pho- 
netische Constitution  nahe  zu  liegen  scheint,  sehen  wir  dieselbe  in  der 
Regel  vermieden.  So  folgt  in  der  Reihe  der  Monatsnamen  hinter  dem 
yaxkin  (der  grünen  oder  ersten  Sonne)  sechs  Monat  später  der  kau k in 
(die  gelbe  oder  reife  Sonne).  In  der  Hieroglyphe  dieses  Namens  ist  aber 
weder  das  Element  kan  ^gelb"*,  noch  das  Element  kin  „Sonne"  enthalten, 
sondern  zwei  andere  (Fig.  24,  25),  von  denen  das  eine,  das  Hauptelement, 
bloss  noch  in  der  Hieroglyphe  des  Hundes  (Cod.  Dresden  7a,  13c,  21b) 
vorkommt. 

Das  Gleiche  ergiebt  sich  aus  der  Betrachtung  der  Hierogly|)hen,  mit 
welchen  in  den  Handschriften  die  dargestellten  göttlichen  oder  mythischen 
Personen  bezeichnet  sind.  In  der  weitaus  überwiegenden  Mehrzahl  der 
Fälle  zeigen  diesidben  den  Kopf  der  betreffenden  Figur,  nur  in  der  Regel 
versehen  mit  einem  oder  dem  anderen  auszeichnenden  Merkmal,  das  a])er 
an  keiner  Stelle  eine  Beziehung  auf  eine  bestimmte  Namensform  vermuthen 
lässt.  So  zeigt  die  Hierogly))h(»  des  Tigers  (Fig.  26)  den  Kopf  des  Tigers 
und  davor  das  Element  chak  „roth",  —  vernmthlich,  weil  der  Tiger  als 
der  rothe  gedacht  ist  als  welcher  er  auch  im  Cod.  Dresden  47  rec^hts  unten 
abgebildet  ist.  Die  Hieroglyphe  des  Vogels  im  Cod.  Dresden  8  a  (3)  (Fig.  27) 
zeigt  denselben  kahlen  Vogelkopf  der  Figur,  mit  einer  Art  Schleife  auf 
dem  Schnabelfirst,  die  aiu»h  der  Kopf  der  Figur  zeigt.  Die  oben  erwähnte, 
in  der  Gesellschaft  des  Regengottes  erscheinende,  Wasser  aus  einem  Kruge 
ausgiessende,  rothgemalte  und  mit  Tigerkrallen  versehene  alte  Göttin  ist 
hieroglyphisch  (vergl.  Fig.  28)  durch  den  Kopf  einer  alten  Frau  ausg(»drückt, 
mit  dem  mehrfach  erwähnten  auszeichnenden  Merkmal  Fig  13,  wcdchem 
wir  oben  den  Lautwerth  chak  „roth"  beilegten.  Die  Hieroglyphen  (Muer 
anderen,  im  Codex  Tro  ebenfalls  als  Greisin,  in  der  Dn»sd(»ner  Handschrift, 
wie  es  scheint.  jug(Midlicher  dargestellten  Göttin  (Fig.  2U)  zeigt  einen 
ähnlichen  Frauenkopf  mul  davor  als  auszeichnendes  Merkmal  das  Element 
Fig.  14,  dem  wir  oben  den  Ijautwerth  zak  ^ weiss"  beilegten.  Ein  schwarzer 
Gott,  dem  meiner  Ansicht  nach  der  Name  Ekchuah  beizulegen  ist,  weil 
er  im  Codex  Tro  mit  einem  Skorpionschwanz  gezeichnet  ist  und  (»kchuh 
im  Maya  der  grosse  schwarze  Skorpion  heisst,  —  ist  hieroglyphisch  durch 
denselben  prägnanten  Ko]>f  des  Gottes  mit  dem  Zeichen  imix  davor 
(Fig.  30)  bezeichnet.  Ekchuah  ist  der  Gott  der  Cacaopflanzer,  der  Kauf- 
leute   und    Reisenden    un<l,    nach    dem    Priester   ITERN.\NI)RZ,    der  IhMÜgc» 


I>er  Charakter  der  aztekischen  und  der  Maya-Hand8chrift«ii.  7 

(leint,  «lor  die  Enlo  mit  dem  anfilllte,  was  sie  uöthig  hatte,  -^  d.  h.  der 
(lott  des  Wac'hsthums,  iles  Gedeihens,  des  Heichthums;  und  im  ix  ist,  wie 
ieh  unten  erweis(Mi  werde,  ghdch  seinem  mexikanischen  Aequiyalente 
cipaetli,  das  Symbol  der  Fruchtbarkeit.  Den  (Jott  mit  dem  kan-Zeiehen, 
«1er  als  Assistent  des  Liclit-  und  Ilimmelsguttes  Itzamnä  erseheint  und 
dessen  Hi«»r«)j;Iy|)he  (Fig.  31)  das  juji:en<lIiohe  üesicht  dieses  Gottes  und 
daver  das  Symbol  «h's  Wassers  zeigt,  un<l  den  Gott  mit  dem  Brandstreifen 
über  dem  (i«»sicht,  dessen  Hieroglyphe  (Fig.  32)  vor  dem  Kopf  des  Gottes 
anseheinend  die  Zahl  11  zeigt,  habe  ich  schon  in  meinem  früheren  Vor- 
trage erwähnt.  Icli  kann  diesen  auch  den  eigenthümlichen  Gott  anreihen, 
d(»ssen  Gesichtszüge  wie  von  d(»n  Windungen  einer  Schlange  gebildet  er- 
scheinen, und  der  in  gewisser  Weise  dvw  Assistenten  des  Regengottes  Chac 
bildet.  Auch  ilie  Hieroglyphe  dieses  Gottes  (Fig.  33)  zeigt  den  Kopf  des 
Gottes  und  davor  als  auszeichnendes  Merkmal  eine  Figur,  wie  ein  aus- 
gerissenes Auge.  —  Es  ist,  soweit  ich  augenblicklich  die  Sache  zu  über- 
sehen im  Stande  bin,  durchaus  nicht  immer  mOglich,  festzustellen,  worin 
denn  die  Natur  «lieses  auszeichnenden  Merkmals  besteht,  welches  in  der 
Hieroglyphe  dem  Kopf  des  Gottes  beigegeben  i*it.  Dass  es  aber  im 
Wesentlichen  auf  Vorstellungselemente,  auf  Eigenschaften  und  Beziehungen 
des  Gottes  zurückgeht,  das  unterliegt,  meine  ich,  nach  dem  Angeführten 
keinem  Zweifel. 

Für  die  wesentlich  ideographische  Natur  der  Maya-Hieroglyphen  spricht 
fenier  die  Ven*'endung  gewisser  gleichartiger  Hieroglyphen  zum  Ausdruck 
sehr  verschiedener  Verhältnisse.  So  giebt  es  eine  Hieroglyphe,  auf  die  wir 
später  noch  zu  sprechen  kommen  werden  (Fig.  34 — 3ö),  deren  constituirende 
Elemente  von  einer  Matte  und  dem,  aus  der  Figur  einer  stützenden  Hand 
hervorgegangenen  Bilde  eines  Trägers  gebildet  werden,  die  aber  einerseits 
(Cod.  Tro  20*,  19*c)  das  in  einer  Rückentrage  Tragen,  bezw.  Getragen- 
werden, andererseits  (Cod.  Tro  22*,  21* d)  das  Sitzen  auf  einer  Matte, 
endlich  noch  (Cod.  Tro  l(>*a,  5*b)  einen  Tempel  mit  seinem,  aus  einer 
Matte  oder  aus  Rohrgeflecht  bestehendem  Dach  zur  Anschauung  bringt. 

Auf  den  Blättern  65 — 69  b  der  Dresdener  Handschrift  wird  eine 
Reihe  von  Hieroglyphen,  welche  Namen  und  Attribute  des  Regengottes 
Chac  geben,  jedesmal  eingeleitet  durch  die  Hieroglyphe  Fig.  37.  Und 
ebenso  wenlen  auf  dem  unteren  Drittel  der  Blätter  29  —  41  derselben 
Handschrift  die  verwandten  Hieroglyphengruppen,  welche  dort  die  Reihe  der 
Chac-Darstellungen  begleiten,  jedesmal  (»ingeleitet  durch  eine  Hieroglyphe, 
die,  in  den  secundären  Elementen  variirend,  die  Gestalt  der  Figuren  38 — 43 
zeigt  Endlich  wird  im  Codex  Perez  2 — 3  und  6—7  eine  der  eben  er- 
wähnten ähnliche  Reihe  von  Darstellungen,  —  in  welchen  nur  statt  des 
Chac  der  auch  sonst  als  Seitenspiel  des  letzteren  auftretende  Gott  mit 
dem,  aus  den  Windmigen  einer  Schlange  gebildeten  Gesicht  (vgl.  die  Hiero- 
glyphe Fig.  33)  eine  Rolle  spielt,  —  jedesmal  eingeleitet  durch  die  Hiero- 


8 


E.  Seler: 


glyphe  Fig.  44.  Das  Hauptelement  dieser  Hierogljrpheii  stellt  ohne  Zweifel 
eine  geschlossene  Faust  dar.  Auf  die  secundären  Elemente  werde  ich 
gleich  noch  zu  sprechen  kommen.  Es  sind  theils  Synonyme  des  Mannes, 
theils  solche  des  Vogels.  Durch  die  Faust  könnte  das  Packen,  Greifen 
zur  Anschauung  gebracht  sein,  und  die  ganze  Hieroglyphe  demgemäss 
den  Fänger,  Krieger,  Jäger  bedeuten.  Das  scheint  auch  aus  den  Anfangs- 
darstellungen    des   sogenannten    Jagdkalenders    des  Codex  Tro  (18 — 19a) 

r 1^^ 


hervorzugehn,  wo  die  Darstellungen  des  Jägers,  der  mit  Spiess  und  Wurf- 
brett zur  Jagd  auszieht  oder  das  Wild  gebunden  auf  dem  Rücken  heim- 
bringt, von  Hieroglyphengruppen  begleitet  sind,  die  am  Kopf  die  Hiero- 
glyphe Fig.  45  zeigen,  —  eine  den  vorigen  (z.  B.  der  Figur  39)  vollkommen 
homolog  constituirte  Hieroglyphe.  Aber  gleiche,  homolog  constituirte 
Hieroglyphen  (Fig.  48 — 50)  sehen  wir  auch  im  Cod.  Tro  26 — 29* c  verv^'endet, 
wo,  wie  08  scheint,  Eroberung  imd  Krieg  dargestellt  ist  durch  die  Figur 
des  Todesgottes  und  seines  Assistenten,  des  Gottes  mit  dem  Brandstreifen, 
die  mit  dem  Speer  und  der  brennenden  Fackel  dem  (durch  Steinunterlage, 


Der  Charakter  der  astekischen  and  der  Maja- Handschriften.  9 

Sftulo  oder  Wand  mit  Verbindungsstück  und  Mattendach  bezeichneten) 
Tempel  nahen.  Endlich  sehen  wir  im  Cod.  Tro  17  c  die  ganz  gleiche  Hiero- 
glyphe Fig.  47  verwendet,  um  die  Kasteiung  mittels  Durchziehens  Yon 
Rohr  durch  die  durchlöcherte  blutende  Zunge  zu  bezeichnen,  —  ein  Vor- 
gang, der  an  einer  weit  entfernten  Stelle,  Codex  Tro  17*b,  durch  die  das- 
selbe Haupteleraent  aber  allerdings  ein  anderes  secundäres  Element  ent- 
haltende Hieroglyphe  Figur  46  gekonnzeichnet  ist.  —  Solche  Vorkommnisse 
lassen  sich  yereinigen,  wenn  man  annimmt,  wie  ich  es  aussprach,  dass  die 
Maya-Hierogl3rphen  zu  Lettern  abbreviirte  Bilder  sind.  In  einem  Bilde 
haben  verschiedene  Vorstellungen  Kaum.  Das  Wort,  das  fertige  Wort 
wenigstens,  hat  seine  eng  begrenzte  Sphäre. 

Noch  eindringlicher  spricht  für  das  Vorherrschen  des  ideographischen 
Elements  die  ungemeine  Fülle  von  Varianten.  Es  kommt  direkte  Ersetzung 
einer  Hieroglyphe  durch  eine  andere,  ganz  anders  geartete  vor.  Ein 
schönes  Beispiel  dafür  liefern  die  Bezeichnungen  des  Monats  Moan  auf 
den  Blättern  46 — 50  der  Dresdener  Handschrift.  Hier  finden  wir  einmal 
die  Figuren  51,  52,  welche  den  Kopf  dieses  mythischen  Vogels  zeigen,  so 
wie  er  z.  B.  an  der  vollen  Figur  im  Cod.  Dresden  10  a  (Fig.  53)  zu  sehen  ist, 
—  nur  verbunden  mit  einem  Element,  welches  wir  schon  in  der  Hieroglyphe 
der  Himmelsrichtung  von  oben  nach  unten  oder  von  unten  nach  oben 
vorfanden  (^ig.  17,  22,  23).  Das  andere  Mal  finden  wir  dafür  die  Hiero- 
glyphe  Fig.  54,  deren  Elemente  —  jedes  einzelne,  wie  es  scheint  —  nichts 
anderes  bedeuten,  als  den  Vogel  oder  den  sich  Bewegenden,  Fliegenden. 
Noch  häufiger  ist  die  Variation  secundärer  Elemente  in  homologen  Reihen 
sonst  gleichartiger  Hieroglyphen.  Ich  habe  schon  in  meinem  vorigen  Vor- 
trage hervorgehoben,  dass  ganz  allgemein  die  Elemente  Fig.  55,  Fig.  56, 
und  Fig.  57  —  51)  synonym  auftreten.  Es  erklärte  sich  uns  das  sehr  ein- 
fach dadurch,  dass  Fig.  55  —  eine  Abbreviatur  der  Fig.  60  —  und  Fig.  56 
Symbole  des  Mannes  sind,  und  dass  auch  die  beiden  Augen  (Fig.  57 — 59)  als 
Symbole  des  Mannes  gebraucht  werden.  Ich  wies  dort  nach,  dass  die 
beiden  Elemente,  Fig.  60  und  die  Figur  57,  58,  für  die  Zahl  20  gebraucht 
werden,  weil  20  die  Zahl  der  Finger  und  Zehen  des  Menschen  ist.  Ich 
machte  dort  aber  schon  darauf  aufmerksam,  dass  auch  die  Figuren  62 — 64 
den  vorigen  (insbesondere  der  Figur  55  und  57)  synonym  gebraucht  werden, 
und  ich  kann  diesen  noch  die  Elemente  Fig.  61,  65  und  65a  hinzufügen. 
Die  Zeichnung,  wie  sie  die  Elemente  Fig.  61,  62,  63,  65a  darbieten,  er- 
scheint ganz  gewöhnlich  an  dem  Halse  von  Töpfen  und  Krügen,  die 
Gegend  der  Mündung  markirend.  Die  Figur  64  scheint  sich  naturgemäss 
als  eine  Zalmreihe  zu  geben.  Die  ganze  Reihe  dieser  homologen  und  den 
Ausdrücken  für  „Mann,  Mensch**  synonym  gebrauchten  Element«»  scheint 
denmach  ursprünglich  Mund,  Schlund,  Rachen  zu  bedeuten.  Dafür  spricht 
auch,  dass  die  Hieroglyphe  einer  Gottheit,  der,  wie  ich  meine,  der  Name 
Uac   mitun  ahau  zukommt,   einmal  (Codex  Dresden  28)  durch  einen  Kopf 


10  E.  Srler: 

mit  offenem  Rachen  dargestellt  ist,  das  andere  Mal  (Codex  Dresden  5  b) 
durch  einen  Kopf,  der  statt  des  Mundes  das  Ehmient  Figur  61  enthält. 
Dafür  spricht  ferner,  dass  das  Element  Fig.  61  d(»m  Element  Fig.  23 
synonym  auftritt.  Vergleiche  z.  B.  di(^  in  derselben  Reihe  (Codex  Dresden 
19  —  20b)  homolog  gebrauchten  Hieroglyphen  Fig.  77,  78.  Das  Element 
Fig.  73  habe  ich  schon  früher  als  Symbol  des  Messers  erkannt,  mid  ich 
habe  damals  schon  auf  die  mexikanischen  Darstellungen  des  Messers  Ter- 
wiesen,  welche  die  Schärfe  oder  Schneide  desselben  dm*ch  (»ine  an  seiner 
Kante  angebrachte  Zalmreihe  zum  Ausdruck  bringen.  Den  obigen  Reihen 
ist  aber  nun  noch,  wie  z.  B.  der  Vergleich  der  in  derselben  Reihe  liomolog 
gebrauchten  Hieroglyphen  Fig.  38 — 43  zeigt,  eine  weitere  Reihe  vonElementen, 
welclie  dem  Ausdruck  für  „Mann,  Mensch"  gelegentlich  synonym  gebraucht 
werden,  beizugesellen,  nehmlich  die  Reihe  Fig.  66 — 72  und  Fig.  74.  Hier  zeigt 
die  Figur  66  eine  Zeichnung,  die  in  ganz  gleicher  Weise  auf  dem  Schnabel 
eines  merkwürdigen,  im  Cod.  Dresden  6 — 7  b  und  mit  menschlichem  Lt»ibe  im 
Cod.Cortez20 — 21d  abgebildeten  Vogels  wiederkehrt.  Fig.  74  biklet  denHaupt- 
theil  der  Hieroglyphe,  durch  welche  im  Cod.  Dresden  16 — 17  c,  17 — 18b  und 
Codex  Tro  19 — 20  c  die  auf  den  Frauengestalten  hockenden  Vögel  be- 
zeichnet werden.  Das  Element  tritt  in  den  Attributen  des  Todesgottes 
und  verwandter  Gestalten  vollständig  äquivalent  dem  Eulenkopf  auf; 
wir  haben  es  eben  in  der  Hieroglyi)he  Fig.  54,  einem  Synonym  des 
mythischen  Vogels  moan,  angetroffen.  Auch  die  anderen  Figuren  der 
Reihe  dürften  sich  wohl  am  richtigsten  als  Kopf  nnd  Flügel  oder  Flügel- 
paar eines  Vogels  deuten  lassen.  Wie  wäre  aber  ein  solches  Vorstellungs- 
element in  Zusammenhang  mit  den  Begriffen  Mann  und  Mensch  zu  bringen? 
Ich  glaube,  der  Zusammenhang  liegt  in  der  Verbindung  der  Begriffe  Vogel 
und  Gesicht,  iles  Sonnenvogels  und  des  Sonnengesichts.  Man  vergleiche 
die  Figur  über  der  Göttergt^stalt  auf  der  Cedernholz})latte  von  Tikal.  — 
Wie  dem  auch  sei,  die  Synonymität  dieser  verschiedenartigen  Elemente 
lässt  sich  nur  durch  ehie  ideographische  Constitution  der  Maya- 
Hieroglyphen  begreifen  und  ist  meines  Erachtens  der  stärkste  und  aus- 
schlaggebende Beweis  für  die  oben  aufgestellte  Theorie. 

Aehnlich  geartete  Vorkommnisse  lassen  sich,  bei  einem  sorgfiiltigen 
Durchmustern  der  Handschriften,  zu  Dutzenden  ausfindig  machen.  Sie 
zeigen  mis  den  Weg,  auf  welchem  man  versuchen  muss,  zu  einem  Ver- 
ständniss  der  Maya-Handschriften  vorzudringen. 

Die  Tageszeicheu  der  aztekischen  und  der  Maya-Handschriften 

und  ihre  Gottheiten. 

„Wie  in  Europa**,  sagt  P.  SAHAGüN  in  der  Einleitung  zu  dem  vierten 
Buch  seiner  Historia  de  las  cosas  de  la  Nueva  Espana,  „di(»  Astrologen 
dem  neugeborenen  Kinde  das  Horoskop  stellen,  so  gab  es  auch  unter 
den    Eingeborenen    Neuspaniens    Leute,    tonalpouhque  genannt,    welche 


I)or  Charakter  dor  aztokischen  und  der  Mava-Handsrhrift4»n. 


11 


über  Loben  uii<l  Tod  und  die  Lebt»ns8ohicksalo  der  neugeborenen  Kinder 
AufsehluKH  gaben".  I)ies«»Iben  grilndeten  aber  ihre  WisHenschaft  nicht  auf 
die  Beobachtung  der  (Jestinie,  sonih^rn  «ie  bedienten  «ich  zu  ihren  Vorher- 
Hiigungen  tdner  Anzahl  von  20  Zeichen,  deren  Krfindung  Quetzah'oatl 
zugt»Hchrieben  wilrd«».  Ihre  Vorhersagungakunst  war«»  dah<*r  keine  ernst- 
hafte Wissenschaft,  sondern  Lug  und  Trug  und  abt^rgh'lubisches  Wesen, 
gegi»n  weh*he8  «lie  Diener  der  Kirche  <lie  Pflicht  hätten,  mit  aHen  ihnen 
zu  (lebote  stehenden  Mittehi  zu  Fehh»  zu  ziehen. 

Der  Name  tonalpouh<iue  b«Mleutet  ,,Sonnenzjlhh»r'',  und  die  20 
Zeichten,  die  SaHACiUN  nennt.  sin<l  die  bi»kannten  20  Tageszeichen, 
weh'he  die  Grundlage  des  aztekiachcMi  Kalenders  bilden.  Der  Ursprung 
dieser  Zeichen  ist  unbekannt,  ihre  Erfimhnig  abt»r  jedenfalls  uralt,  da  sich 
die  Namen  <lersen)en  genau  in  der  gh»ichen  Weise,  nur  dialektisch  variirt, 
bei  den,  weit  entfernt  von  der  Hauptmasse  dor  Nation  an  dem  grossen 
Sflsswassersee  von  Nicaragua  wohnenden,  aztekisch  redenden  Nicaragua  im 
Gebrauch  fanden,  die  ohne  Zweifel  schon  lange  Zeit  von  iliren  Brüdern 
getrennt  lebten.  Der  tiebrauch  dieser  Zeichen  war  aber  auch  keine 
Besonderheit  der  Nahua-Stamme.  sondern  in  gleicher  Weise  auch  den 
Maya-8tämmen  von  (luatemala.  Chiapas  und  Vucatan.  den  Mixteca  und 
Zapoteca,  den  Torasca  von  Michoacan,  also  den  hauptsächlichshni  Kultur- 
nationen von  CentralamtTika,  bekannt. 

Die  üblichen  mexikanischen  Aufzählungen  der  20  Zeichen  beginnen 
mit  dem  Zeichen  cipactli.  Dagegen  zeigt  die  Liste  der  20  Zeichen, 
welche  die  Bewohner  d(»s  Dorfes  Teoca  in  Nicaragua  dem  katechisirenden 
FkANCIöCO  de  BOBADILLA  als  die  Namen  der  (wottheiten  nannten,  die  sie 
an  «len  Anfangstagen  ihrer  Wochen  verehrten,  an  erster  Stelle  das  Zeichen 
acatl.  das  in  <ier  üblichen  Aufzählung  den  dreizehnten  Platz  einnimmt. 
Ebenso  beginnt  die  Liste  der  Tageszeichen,  welche  in  der  alten  Relation 
über  die  Landschaft  Meztitlan  —  <»in  kleiner,  von  aztekisch  redenden 
Leuten  bewohnter  Gebirgsdistrict  an  <len  GnMizen  der  Iluaxtc^ca  —  gegeb<»n 
ist,  mit  dem  Zeichen  acatl.  Ich  führe  in  dem  Folgenden  alle  drei  Listen 
in  der  üblichen  Reihenfolge  auf. 


(Mexico): 

Nicaragua: 

Meztitlan: 

L 

cipactli 

cipat 

tetechi  hucauls 

2. 

ehecati 

acat 

ecatl 

3. 

calli 

cali 

calli 

4. 

cuetzpalin 

quespal 

ailotl 

5. 

coatl 

coat 

coatl 

6. 

miquiztli 

misiste 

tzontecomatl 

7. 

ma^-atl 

macat 

mazatl 

8. 

tochtli 

tosti» 

tochtli 

9. 

atl 

at 

atl 

10. 

itzcuintli 

izquindi 

izcnin 

12 


E.  Seler: 


(Mexico): 

11.  oQomatli 

12.  malinalli 

13.  acatl 

14.  ocelotl 

1 5.  quauhtli 

16.  cozcaquauhtli 

17.  oUiii 

18.  tec  patl 

19.  quiahuitl 

20.  xochitl 


Meztitlan: 
o(;oma 
itlan 
acatl 
ozelotl 
cuixtli 
teotl  i  tonal 
nahüs  oUi 
tec  patl 
quisa  hütl 
ome  xoch  i  tonal 


Nicaragua: 

oQomate 

malinal 

agat 

oQelot 

Gate 

coscagoate 

olin 

tapecat 

quiaüit 

sochit 

1.  cipactli  wird  verschieden  erklärt,  bald  als  Schwertfisch  (SaHAGÜN), 
bald  als  Schlangenkopf  (DURAN  —  „cabeza  de  sierpe,  pues  la  pintan  asf 
y  la  etimologia  del  vocablo  lo  declara").  Der  Codex  Fuenleal  nennt  ihn 
„un  pexe  grande,  que  es  como  Cayman".  Fig.  80  (Codex  Land),  81  (Cod. 
Vat.  A.)  und  82  (Cod.  Borgia  30)  zeigt  einige  der  hauptsächlichsten  Formen. 
Die  Farbe  ist  grün  oder  schwarz,  z.  Th.  mit  anders  gefärbten  kreisrunden 
Flecken.  Auffallig  ist  das  Fehlen  des  Unterkiefers.  Mitunter  sieht  man 
das  Ungeheuer  in  den  Handschriften  auch  in  ganzer  Figur  dargestellt. 
Dann  zeigt  es  einen  langgestreckten  Reptilkörper,  den  Rückenfirst  mit 
Stacheln  besetzt,  vier  Füsse  mit  Erallen  und  Eidechsenschwanz,  dazu 
mitunter  Ohren.  Vom  Kopf  ist  auch  hier  gewöhnlich  nur  der  Oberkiefer 
gezeichnet.  In  andern  Darstellungen  sieht  man  ein  Thier  in  Fischgestalt, 
mit  haifischartigem  heterocerkem  Schwanz. 

Nach  dem  Codex  Fuenleal  wäre  aus  dem  cipactli  die  Erde  erschaffen. 
Dem  Zeichen  präsidirt  im  Cod.  Borgia  i^O  und  im  Cod.  Vatican.  B.  10  u.  76 
der  Gott  Tonacatecutli,  „der  Herr  unsers  Fleisches",  der  mit  dem 
Ometecutli,  „dem  Herrn  der  Zeugung"  identisch  ist,  und  dessen  Gattin 
Tonacacihuatl,  „die  Herrin  unsers  Fleisches",  in  Tracht  und  Attributen 
mit  der  Xosbiquetzal,  der  Göttin  der  blumigen  Erde,  übereinstinmit 
Ohne  Zweifel  ist  das  Zeichen  Symbol  der  Erde  als  des  Sitzes  der  Frucht- 
barkeit. Auch  den  Astrologen  galt  das  Zeichen  als  glückyerheissendes 
Symbol  der  Fruchtbarkeit.  Die  nach  ihm  benannten  Tage  sind  glückliche 
ersten  Ranges,  sie  bringen  Kindersegen  und  mehren  Reichthum,  Glück 
und  Macht. 

Der  Patron  dieses  Zeichens,  Tonacatecutli,  ist  im  Cod.  Vatic.  A 
und  Telleriano  Remensis  in  rosiger  Farbe  (als  Himmelsgott),  reich  ge- 
kleidet, auf  einem  Bett  von  Maiskolben  zu  sehen.  Und  über  ihm  ist  ein 
copilli,  eine  Königskrone,  zu  sehen,  mit  Maiskolben  gefüllt.  Nach  den 
Interpreten  trugen  nur  die  drei  Götter  Tonacatecutli,  Xiuhtecutli,  der 
Feuergott,  und  Mictlantecutli,  der  König  der  Unterwelt,  eine  Krone  — 
als  Ausdruck  des  Wortes  tecutli  „Herr",  oder  als  die  Herrscher  in  den 
drei  Reichen  Himmel,  Erde  und  Hölle.   In  den  anderen  Handschriften  ist  ein 


V.,  Chmkt„  te  ..,*.,1„.  „,„l  ,w  M.,..ll»a..l,ri(.... 


14  E.  Seler: 

in  lichten  (gelben)  Farben  gemalttT  (lott  zu  sehen,  zum  Theil  mit  Attri- 
buten Quetzalcoatrs  versehen,  der  im  Cod.  Borgia  unter  der  Oberlippe  eine 
Art  von  Ring  zu  hängen  hat,  welcher,  wie  es  scheint^  eine  missverstandene 
Bildung  darstellt,  nehmlich  den  eingekniftenen  Mundwinkel,  wodurch  in 
anderen  Handschriften  dieser  Gott  als  der  uralte,  ursprüngliche,  der  Vater 
von  Göttern  und  Menschen  bezeichnet  wird.  Im  Codex  Telleriano-Re- 
mensis  und  Vaticanus  A  ist  ihm  gegenüber  seine  Gemahlin  Tonacacihuati 
od<»r  Xosbiquetzal  gezeichnet,  die  in  den  anderen  Handschriften  fehlt. 
In  allen  Handschriften  aber  ist  über,  bezw.  neben  ihm  ein  Menscheupaar 
zu  sehen,  unter  einer  gemeinschaftlichen  Decke  einander  gegenüber  sitzend 
oder  sich  verstrickend,  oder  sich  an  den  Händen  haltend  und  das  aus  dem 
Munde  strömende  Leben  vereinigend,  —  ohne  Zweifel  alles  Symbole 
geschlechtlicher  Vc^reinigung. 

Unklar  ist  der  Name,  der  für  das  Zeichen  in  der  Liste  von  Meztitlau 
angegeben  wird.  Das  Wort  ist  offenbar  verderbt,  ich  vermag  auch  durch 
Conjectur  keinen  Sinn  hineinzubringen. 

2.  ehecatl  bedeutet  „Wind".  Sein  Patron  ist  der  Windgott  „Quetzal- 
coatl".  Dargestellt  wird  das  Zeichen  durch  den  Kopf  dieses  Gottes, 
—  verschieden,  je  nach  der  verschiedenen  Darstellungsweise  des  Gottes 
selbst.  Meist  sieht  man  die  rothe  Vogcdschnabelmaske  des  Idols  von 
Cholula.    Vgl.  Fig.  83. 

Den  Astrologen  galt  das  Zeichen  als  Symbol  der  Unbeständigkeit  und 
Veränderlichkeit.  Die  unter  ihm  geborenen  sind  leichtsinnig,  imbeständig, 
veränderlich,  ruhelos  (DURAN).  Nach  anderer  Auffassung  ist  ehecatl  das 
Zeichen  der  Ruhelosen,  der  Umlierirrenden.  der  verschiedene  Gestalten  An- 
nehmenden, der  Wehrwülfe,  der  ZaubtTer  (SaHAGUN). 

Patron  dieses  Zeichens  ist  (Juetzalcoatl,  der  Windgott.  Der  Name 
wird  verschieden  erklärt.  Quetzalli  ist  die  grüne  Schwanzfeder  des 
Vogels  Pharomacrus  mocinno,  das  Wort  wird  aber  auch  allgemeiner  im 
Sinne  von  „Schatz,  Kostbarkeit**  gebraucht,  coatl  oder  cohuatl  ist  die 
„Schlange",  bedeutet  aber  auch  „Zwilling".  MenDIETA  (11.19)  sagt:  — 
en  SU  lengua  llamaban  cocoua  „culebras",  porque  dicen  que  la  prima 
mujer  que  pariö  dos,  se  llamaba  coatl,  y  de  aqui  es  (jue  nombraban 
culebras  a  los  mellizos,  y  decian  que  habran  de  comer  ä  su  padre  y  madre, 
si  no  matasen  al  uno  de  los  dos.  Der  Nanu»  Quetzalcoatl  wird  demnach 
theils  als  „grüne  Federschlange",  theils  als  „el  admirabh;  mellizo",  „der 
wunderbare  Zwilling",  erklärt. 

Quetzalcoatl  war  der  (rott  von  Cholula,  des  Ilauptsitzes  ])riesterlicher 
Weisheit  und  priesterlicluT  Kultur,  darum  wird  der  Gott  stets  mit  priester- 
lichen Attributen  ausgestattet:  dem  spitzen  Knochen,  der  zu  ßlutent- 
zi(dmngeu  diente,  den  abgeschnittenen  Sjdtzen  der  stachligen  Agave- 
Blätter,  auf  denen  man  das  Injrausströmende  Blut  sammelte,  und  dem 
Kopalbeutel.      Ihm    gegenüber    ist    im    Codex    Telleriano-Remensis    und 


Der  ("harakter  der  axt^ekischeii  und  der  Maya- Handschriften.  15 

V>iti(*anurt  oin  junior  PrioHtor  zu  «ohon.  dor  Ruthen  o<l(»r  Kolin»  <lurch  «lio 
«lun*lilörh<Tt«»  liluh^ndo  Zuufj^o  zioht:  (/0<1.  Bor»;iai  53  und  Vatican.  B  47  <la- 
;C«'j;«*u  ein  Ti»ni]M»l  und  ein  l)ot4'nd(»r  MruKcli.  Im  Uebriji:(»n  ist  dor  (lott 
thidls  mit  der  rothon  Vo^^idschnabcdnuiHkc»  dt»s  Idol«  von  Cholula  (v»i;l.  Fij^.  83), 
theil«  mit  menschlicdion  Zflf::i»n  darji:o8tellt.  Bosondero  Attribute»  von  ihm 
sind  ein  eigentliAndicdi  j^eformtos  Ohr^(»hanj;(^  und  eine»  als  Bnistplattc» 
•;etni;f<»ne  MuHchel.  Das  ist,  wie  aus  der  Zeichnung  in  dem  SAHAGUK-Manu- 
MTipt  der  Biblioteea  Laurentiana  zu  Florenz  deutlich  hervorgeht,  das  „yoel 
del  viento**,  das  ^tieschmeidc»  des  Windgottes",  und  nicht,  wie  BriNTON 
(Ilero  Myths  p.  121)  annimmt,  ein  Windrad  (yahualli  ehecatl)  in  Gestalt 
eines  Pentagramms.  Im  Cod.  Borgia30  imd  an  den  entsprechenden  Stellen  Avis 
Vaticanus  B.  ist  über  dem  Gott  noch  (»ine,  vom  Pfeil  durchbohrte,  Rauch  aus 
den  Nüstern  schnaubende  Feuerschlange  zu  sehen  (Ideogramm  des  Wortes 
quetzaleoatl?). 

8.  ealli  „Haus"  Fig.  84.  Sein  Patron  ist  der  Gott  Tepeyollotl,  das 
„Herz  der  Berge",  dargestellt  als  Tiger,  über  der  Berghöhle  sitzend.  Ihm 
gegenüber  ist  im  Codex  Telleriano  Rcmensis  und  Vatic.  A.  der  Gott 
Quetzal coatl  dargestellt,  einen  Gefangenen  am  Scho])f  haltend.  Im  Cod. 
Borgia  52  und  Cod.  Vat.  B.  46  dagegen  steht  ihm  die  (iföttin  Tla(?olteotl 
gegenüber,  ebenfalls  einen  Gefangenen  am  Schopf  haltend.  Und  im  Cod. 
Borgia  20  und  Cod.  Vatic.  B.  10  und  77  ist  neben  ihm  dieselbe  Gottin,  die 
bekanntlich  auch  den  Namen  Tlaolquani,  <lie  „Kothfresserin",  führt,  <lurch 
einen  Excremente  fressenden  Menschen  und  das  Symbol  <ler  Nacht  (des 
Mondes)  dargestellt. 

Den  Astrologen  ist  das  Zeichen  ein  Symbol  der  Ruhe.  So  werden 
auch  die  unter  diesem  Zeichen  Geborenen  ruhige,  häusliche  Leute  (DURAN). 
Kaufleute  betrachten  di(»ses  Zt»ichen  als  be8ond(»rs  günstig  zur  Heimkehr. 
—  Das  Haus  ist  aber  Jiueh  das  Zeichen  des  Westens,  der  Gegend,  wo  die 
Sonne  zu  den  Todti»n  hinabgeht,  des  Ab(»nd8.  Daher  ist  es  die  Z(»it,  wo 
die  Dämmerungsgestalten,  die  Gespenster,  die  Cihuateteö  zur  Erdt»  hinab- 
steigen, den  Kindeni  Krankheiten  bringend,  dit»  Männer  zur  Sünde  und 
zum  Verbrechen  reizend.  Darum  ist  das  Zeicht»n  (»in  unheimliches,  V(»r- 
brechen,  Kriegsgefangenschaft  und  Tod  auf  dem  Opferaltar  verbfirg(»nd. 

4.  euetz  paltn  Fig.  85  (Cod.  Vat.  A.)  und  86  (Cod.  Borgia,  Cod.  Land). 
mit  blauer  Farbe  (Fig.  85)  oder  die  vordere  Hälfte  blau,  die  hintere  roth 
gemalt.     Wird  allgmein  mit  „lagartija".  „Kid(»chse",  übersetzt. 

Den  Astrologen  gilt  das  Zc»ichen  als  Symbol  des  Ueberflusses  und  des 
sorglosen  Genusses.  Denn  (wie  DURAN  angiebt)  die  Eid(»chse  klebt  an  <ler 
Wand  und  es  fehlen  ihr  nie  die  Fliegen  und  kleinen  Mücken,  die  ihr  gerade 
in  den  Mund  fliegen.  Der  lnter])ret  «les  ('od.  Vatic.  A.  sagt  geradezu,  die 
Eidechse»  ^significa  Tabbondanza  delT  acqua".  Das  wird  man  verstehen, 
wenn  man  sich  erinnert,  dass  dem  Mexikaner  Ueberfluss  un«!  Ged(»ihen  und 
reichlich  Wasser  sich  deckende  Begriffe  sind.     Die  genannte  symbolische 


16  E.  Seler: 

Bedeutung  des  Thieres  spricht  sich  auch  in  dem,  von  dem  Worte  cuetz 
palin  gebildeten  Zeitworte  cuetz  palti,  onicuetz  paltic  aus,  für  welches 
in  dem  Wörterbuche  MOLINA's  die  Bedeutung  „glotonedr^j  d.  i.  ^prassen, 
schlemmen"  angegeben  ist. 

Die  Liste  von  Meztitlan  nennt  das  vierte  Zeichen  anders,  nehmlich 
ailotl,  soll  heissen  xilotl,  d.  i.  der  junge,  noch  weiche  Maiskolben,  — 
ebenfalls  ein  bekanntes  Symbol  des  Ueberflusses. 

Der  Patron  dieses  Zeichens  ist  der  Gott  Huehuecoyotl,  d.  h.  „der 
alte  Coyote",  —  im  Cod.  Borgia  und  Vaticanus  B.  in  Gestalt  eines  Coyote 
oder  mit  Coyotekopf  abgebildet,  im  Cod.  Telleriano  Remensis  und  Vaticanus 
A.  mit  rother  Farbe  gemalt  und  in  weissen  Coyotepelz  gehüllt.  Die 
Interpreten  identificiren  ihn  mit  Tatacoada,  dem  Gott  der  Otomf.  Man 
ist  versucht,  an  den  Coyotlinahuatl,  den  „Coyote-Geist"  zu  denken,  der 
nach  SAHAGUN  von  den  Amanteca,  den  Federarbeitem  des  Quartiers  Amantlan, 
verehrt  ward.  Die  Amantec«  wollen  die  ersten  chichimekischen  Ein- 
wanderer in  Mexico  gewesen  sein  und  aus  ihrer  ursprünglichen  Heimath 
die  Verehrung  Coyotlinahuatrs  mitgebracht  haben. 

Vor  dem  Gotte  wird  ein  Mensch  in  liegender  Stellung  und  ihm  gegen- 
über eine  weinende  Frau  in  knieender,  halb  zurückgewandter  Stellung  dar- 
gestellt. Die  Interpreten  nennen  die  letztere  Ixnextli  (Asche  in  den 
Augen"?). 

5.  coatl  „Schlange"  Fig.  87  (Cod.  Telleriano  Remensis)  und  88  (Cod. 
Borgia).  Die  Färbung  ist  grün  oder  braun  (gelb).  Die  Schlange  der 
Tageszeichen-Liste  unterscheidet  sich  dadurch  bestimmt  von  der  in  den  Ab- 
bildungen vielfach  und  auch  auf  den  Monumenten  vorkommenden  Schlange, 
der  gewöhnlich  die  Färbung  der  rothen  Corallenotter  gegeben  wird. 

Die  Schlange  lebt  nackt,  ohne  eigenes  Haus,  heute  sich  hier  in  einem 
Loche  bergend,  morgen  in  einem  andern.  Darum  hat  auch  der  nach  der 
Schlange  benannte  Tag  Nacktheit,  Armuth,  Heimathlosigkeit  im  Gefolge. 
Es  ist  das  Zeichen  der  Reisenden  und  der  Krieger  und  ward  von  den- 
jenigen erwählt,  die  ihr  Haus  verlassen  und  zu  Handel  oder  Krieg  in  die 
Feme  ziehen  wollten. 

Die  Patronin  dieses  Zeichens  ist  die  Göttin  Chalchihuitlicue,  die 
Göttin  der  Quellen  und  Bäche,  des  fliessenden,  bewegten  Wassers,  —  da- 
her Symbol  der  Unruhe  und  des  Wandems,  die  in  dem  Wasserstrom, 
welcher  von  ihren  Schultern  fliesst,  Männer,  Weiber  und  die  mit  Reich- 
thümem  gefüllten  Kisten  fortschwemmt. 

6.  mtqutztlt  „Tod"  oder  tzonteeomatl  „Schädel"  Fig.  89  und  90.  Die 
Farbe  des  Knochens  ist  vielfach  durch  gelbe,  roth  punktirte  Flecke  imitirt; 
der  Unterkiefer  mitunter  durch  besondere  Farbe  markirt.  In  herkömmlicher 
Weise  sind  an  der  Basis  der  Zähne  das  Zahnfleisch  durch  rothe  Farbe  und 
über  den  Augenhöhlen  die  die  Augenbrauen  tragenden  Wülste  mit  blauer 
Farbe  bezeichnet.    Ziemlich  regelmässig  ist  auf  der  Wölbung  oder  an  der 


Der  ('liarakt^r  der  iiztpkiachen  um)  itcr  Miiyn-llaniWIiriftfD. 


83 


«ifht  iiiHii  iIciiHulbeii  Ti>|il'.  in  w(jk-)ieiii  iiiBiwelilicIit'.  Glit^lmaauieii  kochoD. 
Im  Ciiil.  Itorgia  50  ist  ciii  zähiH-flt-tsclieiuh-ü  l'iijiehouer  gezoiclinct,  mit 
Tinori>niiikfn,    «las  mit  Attrilnitt-ii  (Jm-tztilcoatrs  iiuBgpatattpt  ist  um)  i-iiien 


KtrrltroobKiipn  Knochen  in  der  Ilanil  hält.  Arhiilich  in  iIit  (>nt«prechpii<len 
Stfllc  di'»  Cod.  Vat.  D.  33  und  ähnlidi  audi  im  Cod.  Tellcriano  Kvmeiuis  und 
Vnticanus  A.  Aber  im  Cod.  Borgia  5U  und  im  Yaticanuit  B.  33  sind  dem  Un- 
^^hcntr  gegt^nflber  eine  in  StQcke  gprisHunc*  Schlange,  ein  mit  Blutstreifen 
T<>r»M"h<'nc«t  GefSKx,   OpfeiynlH-n  nnrf  das  Sonnrazeichen  nahui  oIHn  „viw 


34  £•  Seler: 

ollin"  über  vierfachen  Parbenstreifen  (grün,  gelb,  blau,  roth)  zu  sehen. 
Im  Cod.  Telleriano-Remensiö  und  Yaticanus  A.  dagegen  ist  der  Figur 
gegenüber  ein  anderes  Ungeheuer  gezeichnet  (Fig.  1 59),  genau  entsprechend 
den  Ungeheuern,  die  auf  der  Unterseite  der  kleinen  Steinnäpfe  zu  sehen 
sind,  von  denen  JESUS  SANCLAZ  im  Band  III  der  Anales  del  Museo  Nacional 
de  Mexico  melirere  abgebildet  hat,  (ein  ganz  gleiches  (iefass  befindet 
sich  auch  im  Königl.  Museum  für  Völkerkunde  zu  Berlin)  und  die  auf  der 
Innenseite  das  Zeichen  der  Sonne  (oll in)  zeigen.  Das  Ungeheuer  auf  der 
Unterseite  der  Steinnäpfe  (Fig.  160)  verschluckt  ein  Feuersteinmesser  oder 
speit  ein  Feuerstoinmesser  aus.  Das  an  den  entsprechenden  Stellen  des 
Cod.  Telleriano-Remensis  und  Vaticanus  A.  gezeichnete  entlässt  dagegen 
aus  seinem  Rachen  eine  Figur,  welche  die  Attribute  Tläloc's  und  Quetzal- 
coatl's  vereinigt,  ähnlich,  wie  der  Nahuiehecatl  des  Cod.  Telleriano- 
Remensis  II.  12  und  Vaticaims  A.  28,  —  welche  aber  auf  ihrem  Rücken 
eine  helle  Sonnenscheibe  trägt,  von  der,  wie  es  scheint,  eine  Feuerschlange 
ausgeht. 

Die  Interpreten  nennen  die  Hauptfigur  Xolotl  und  erklären  ihn  als 
Herrn  der  Zwillinge.  Das  dieser  Hauptfigur  im  Cod.  Telleriano- 
Remensis  gegenüberstehende,  eben  beschriebene  Ungeheuer  (Fig.  159)  mit 
der  seinem  Rachen  entsteigenden  Figur  nennen  sie  Tlalchi tonatiuh  und 
erklären  es  als  die  Wärme,  die  von  der  Erde  der  Sonne  mitgetheilt  wird, 
oder  auch  als  die  Sonne,  die  hinabsteigt,  um  den  Todten  zu  leuchten. 

In  dieser  sehr  eigenthflmlichen  Figur  verknüpfen  sich  verschiedene 
Darstellungen.  Der  Name  Xolotl  bedeutet  „Zwilling**:  nach  SahaguN 
im  engeren  Sinne:  eine  Zwillingsbildung  der  Maispflanze;  me  xolotl  eine 
doppelte  Agavepflanze,  axolotl  die  im  Wasser  lebende  Larve  des  Ambly- 
stoma  mexicanum.  Die  Azteken  betrachteten  eine  Zwillingsgeburt  als  ein 
Portentum,  als  etwas  Widernatürliches,  Unheimliches,  Unglückbringendes. 
Sie  hatten  den  Glauben,  «lass,  w<»nn  beide  Zwillinge  am  Leben  blieben, 
der  eine  davon  unfehlbar  seine  Elteni  tödten  und  verzehren  würde.  Darum 
tödteten    die  Eltern  gleich  bei  der  Geburt  den  einen  von  den  Zwillingen. 

Der  Zwilling  ist  also  der,  der  getödtet  werden  muss.  Und  darum 
wird  Xolotl  zum  Repräsentanten  des  Menschenopfers.  Als  solcher 
erscheint  er  in  den  Mythen.  Als  die  eben  geschaflFenen  Lichtgt^stime, 
Sonne  und  Mond,  am  Himmel  nicht  weiter  gehen  wollten,  beschlossen  die 
Götter,  sich  zu  oj>fem,  um  durch  ihren  Opfertod  den  Gestirnen  Leben  und 
Bewegung  zu  verleihen.  Nach  SAHAGUN  ist  Quetzalcoatl  derjenige,  der 
das  Opfer  vollzieht,  und  Xolotl  der,  welcher  sich  weigert,  sich  tödten  zu 
lassen,  so  weint,  dass  seine  Augen  aus  den  Höhlen  treten,  und  flieht, 
schliesslich  aber  doch  erwischt  und  getödtet  wird.  Nach  MeNDIETA  ist 
Xolotl  derjenige,  der  das  Opfer  an  seinen  Brüdern  vollzieht  und  darnach 
sich  selber  opfert.     Y  asi  aplacado  el  sol  hizo  su  curso. 

Nach  einem  andeni  Mythus  ist  Xolotl  derjenige,  der  zu  den  Todten 


Der  Charakter  der  aztekischen  uud  der  Maya- Handschriften.  35 

hinabsteigt   und  von  dort  den  Todteiikiiocheii  holt,    aus  dessen  Stücken 
die  Menschen  entstehen. 

Die  hier  vorliegenden,  oben  ])e8chriel>enen  A])bilduiigen  zeigen  den 
Bezug  auf  das  Menschenopfer  in  klarster  Weise:  der  Toi>f,  in  welchem  die 
Monschengebeine  sieden,  —  mit  dem  Menschenopfer  verband  sich  Menschen- 
fresserei, —  die  aus  den  Höhlen  tretenden  Augen,  da«  Gefäss  mit  den 
Blutstreifen,  die  in  Htücke  gerissene  Feuerschlange,  endlich  die  Beziehung 
zur  Sonne  und  zum  Zeichen  der  Sonne,  —  denn  der  Sonne  wurden  die 
ausgerissenen  Herzen  dargebracht.  Auch  dass  der  Gott  mit  Attributen 
Quetzalcoatrs  ausgestattet  wird,  —  Quetzalcoatl,  der  Gott  von  Cholula,  ist 
<ler  Gott  der  Priester,  der  Priester  xar  iSoxijv-  Endlich  der  sogenannte 
Tlalchitonatiuh,  die  zu  den  Todten  hinabgehende,  von  dem  Ungeheuer 
verschluckte  Sonne.  Auch  die  oben  beschriebenen,  übrigens  höchst 
sorgfältig  gearbeiteten  Steinnäpfe,  die  auf  der  Unterseite  dasselbe  Un- 
geheuer zeigen,  sind  von  jeher  als  Kultusgegenstände,  als  Behälter  für  das 
Blut  der  Opfer,  gedeutet  worden. 

18.  tecpatl  „Feuerstein^.  Es  ist  dies  der  Stein,  aus  welchem  die 
Opfermesser  gefertigt  wurden,  wie  MOTOLINIA  (c.  6  p.  40)  ausdrücklich 
hervorhebt  —  und  nicht  Obsidian  (itztli),  wie  man  häufig  angegeben  findet 
und  wie  sogar  im  SaHAGUN  zu  lesen  ist.  Die  Abbildungen  zeigen  auch  stets 
einen  hellen  Stein,  in  Form  einer  Lanzenspitze,  die  eine  Hälfte  (Fig.  J33) 
oder  auch  beide  Enden  blutroth  gefärbt.  Mitunter  ist  die  zackige  Kante 
des  Steines  und  der  muschelige  Bruch  der  Schlagfläche  deutlich  markirt 
(Fig.  134):  die  schneidenden  Eigenschaften  sind  durch  eine  Zahureihe  am 
Rande  markirt  (Fig.  135,  Cod.  Vaticanus  A.).  Oder  es  ist  das  ganze  Stein- 
messer metamorphosirt  in  ein  Gesicht  mit  langen  Schneidezähnen  (Fig.  136 
Cod.  Vat.  B.)  oder  in  einen  Todtenschädel  mit  klaffendem  Gebiss  (Fig.  137 
Cod.  Borgia).  Im  Cod.  Bologna  ist  statt  des  einfachen  SteinmesscTs  häufig 
eine  schwarze  menschliche  Figur,  die  einen  tecpatl  als  Kopf  trägt,  ge- 
zeichnet 

Der  Stein  ist  das  Zeichen  der  Dürre  und  Unfruclitbarkeit,  darum 
bleiben,  nach  DUBAN,  die  unter  seinem  Zeichen  Geborent^n,  seien  es 
Männer  oder  Weiber,  unfruchtbar,  ohne  Nachkonmienschaft.  Der  Stein  ist 
aber  auch  der  schneidige,  er  liefert  das  Material  für  Waff(»n  jeder  Art.  Da- 
rum sind,  nach  SaHAüUN,  die  unter  seinem  Zeiclien  geborenen  Männer 
schneidig  und  tapfer,  ansehnlich  und  reich,  die  Weiber  männlichen  Charakters, 
klug  und  reich.  Nach  dem  Inter|)reten  des  Cod.  Vaticanus  A.  werden  die 
unter  diesem  Zeichen  Geborenen  gute  Jäger  und  Edelleute. 

Als   Patron  dieses  Zeichens  ist  in  allen  Handschriften  die  bahl  mehr, 

bald  minder  deutlich  erkennbare,  d.  h.  bald  mehr,  bahl  minder  realistisch 

gezeichnete  Figur  des  Truthahns  angegeben.    Die  Liter])reten  nenncm  ihn 

Chalchinhtotolin,  ^das  Smaragdhuhn^,  oder  vielleicht  einfach  das  „blaue 

Huhn**,    —    die    Farben   grün    und  blau  werden  in  centralamerikanischen 

8* 


36  1^*  Sbler: 

Sprachen  confundirt,  —  und  identiticiren  ihn  mit  Tezcatli]>oca.  In  der 
That  trägt  der  Vogel  im  Cod.  Telleriano-Remensis  und  Vaticanus  A.  an 
der  Schhlfe  den  rauchenden  Spiegel,  das  Attribut  Tezcatlipoca's.  Und  im  Cod. 
Borgia  29  ist  über  dem  Vogel  der  Spiegel  und  daneben  ein  Wasserstroni 
zu  sehen,  —  entweder  ebenfalls  Symbol  des  rauchenden  Spiegels  oder 
Hieroglyphe  von  Chaico  Atenco,  der  Stadt  Tezcatlipooa's.  Dem  Vogel 
gegenüber  ist  im  Cod.  Telleriano-Remensis  und  Vaticanus  A.  ein  Jüngling 
gezeichnet,  mit  Kopal  un<l  Kopalbeutel  (Xi(iuipilli)  in  der  Hand,  der 
mittelst  eines  spitzen  Vogelschnabels  (oder  eines  vogelschnabelartigen  In- 
strumentes) sich  Blut  aus  dem  Ohre  entzieht.  Im  Cod.  Borgia  21)  und  ent- 
sprechend im  Cod.  Vat.  B.  4  und  77  ist  eine  ahnliche  Kasteiung,  —  das  Opfer 
des  eigenen  Blutes,  die  Selbstopferung,  —  ausgedrückt  durch  einen  Jüngling, 
der  mit  einem  spitzen  Knochen  sich  das  Auge  ausbohrt  (das  Auge  aus 
seiner  Höhlung  treibt,  vgl.  Xolotl!).  Ringsum  ein  Kranz  von  blutbe- 
sprengtem Grase.  Endlich  im  Cod.  Borgia  51  und  entsprechend  im  Cod.  Vati- 
canus B.  32  ist  dem  Gotte  gegenüber  die  blutbefleckte,  dornige  Spitze  eines 
Agave -Blattes,  in  einem  Bündel  blutbefleckten  Grases  steckend,  zu  sehen. 
Bekanntlich  wurde  das  Blut  das  man  sich  durch  Einschnitte  in  die  Zunge, 
die  Ohren  oder  andere  Köri)ertheile  entzog,  auf  den  SpitziMi  von  Agave- 
Blättern  (sogenannten  Maguey- Domen)  gesammelt,  diese  dann  in  Grasballen 
gesteckt  und  diese  Ballen,  als  Beweis  der  vollzogenen  Kasteiung,  dem  Gotte 
dargebracht,  bezw.  in  Haufen  auf  den  Mauern  der  Mönchsklöster  und  der 
Erziehungshftuser  aufgestellt. 

Tezcatlipoca  ist  der  Patron  der  telpochcalli,  der  Junggesellenhäuser, 
einör  Art  von  Klubhäusern,  in  welchen  die  unverheiratheten  jungen  Leute 
die  Nacht  zubrachten  und  die  jüngeren  Ijcute  von  den  älteren  Kriegern  im 
WaflTenhandwerk  unterrichtet  wurden.  Diese  Häuser  hatten  den  genannten 
socialen  Zweck  und  gleichzeitig  eine  eminente  militärische  Bedeutung. 
Denn  bei  plötzlichem  Allarm  war  hier  gleich  eine  Schaar  waff*enfahiger 
Männer  beisammen.  Die  jungen  Leute  wurden  hier  unter  strenger  Zucht 
gehalten,  denn  <»s  war  eine  religiöse  Institution,  und  insbesondere  waren 
Kasteiungen  und  Blutentziehungen  in  der  genannten  Art,  als  Stählungen 
der  Mannheit  und  Uebungen  in  der  Selbstüben^indung,  durchaus  im 
Schwünge. 

So  wird  denn  auch  das  Zeichen  tecpatl  den  andern  Kriegs-  und  Jagd- 
göttem,  Huitzilopochtli,  dem  aztekischen,  und  Camaxtli,  «lem  tlaxkal- 
tekischen  Kriegsgott)  zugeschrieben.  —  Und  weil  man  bei  dem  Zeichen  an 
Kasteiungen  und  Bhitentziehungen  dachte,  «lamm  brachten  (nach  SaHAGÜN 
4,  21)  die  Puhiuefabrikanten  den  ersten  Pulque  von  diesem  Tage,  der 
huitztli,  „Dorn'',  (d.  i.  der  beissende,  prickelnde?)  genannt  wurde,  dem 
Gotte  Huitzilopochtli  als  Opfer  dar. 

19.  qHiahultl  ^  Regen"  wird  im  Cod.  Mendoza  mehrfach  durch  fallende 
Wassertropfen    ausgedrückt.     Vergl.  Cod.  Mendoza  42,  21  «.  v.    Quiyauh- 


Her  ("haraktor  der  aztokiHrhen  und  der  Muya- Handschriften.  37 

teopaii.  Als  KaltMidtTzeiehfii  ersclu^int  stets  <ler  Kopf  Tlaloc's,  des 
Rogengottcis.  ausgeführt  oder  in  abbn^viirter  P'orin.  Vergl.  dio  Figuren  138 
(Cod.  Telleriano-Kemensis),  139  (Cod.  Lau«!)  un<l  140  (Cod.  Korgia). 

Das  Zeichen  ist,  wie  das  vcTwandte  9.  Zeich<Mi,  ein  unglückliches. 
Blindheit  Lahmheit,  (Joutractur,  Aussatz,  Kratzt»,  Mondsucht  und  Narrlieit, 
—  das  sind  die  Gaben,  weh'he  (nach  V.  DUKAN)  «lieses  Zeichen  den  unter 
ihm  Geborenen  verheisst.  Denn  (b*r  von  d(»n  Bergen  stromende  Regen, 
wie  das  fli(»ssende  Wasser,  sind  nach  mexikaniscliem  (jlauben  die  Krankheits- 
orzeuger.  Natdi  SAHAGUN  w(»rden  die  unter  di(»sem  Zeichen  Geborenen 
(Ähnlicli,  wie  die  unter  dem  zweiten  Zeichen,  d<»m  d(»s  Windes,  Geborenc^n) 
Zauberer,  Wehrwölfe,  übelwirk(»nde  H(»xenmeister.  l)w  Kaufleute  bli<»ben 
an  diesem  Tage  zu  Hause,  deim  Unheil  und  Krankheit  lauert  an  ihm  aui 
allen  Wegen. 

Patron  dit^ses  Zeichens  ist  nach  den  Interpreten  Chantico  oder 
Quaxolotl  (der  „doppelköpfige"*),  die  (iottheit  des  chile  oder  der  rothen 
Capsicum-Pfefferschote.  Der  Capsicum- Pfeffer  war  das  beliebteste  und 
alltäglichste  iiewürz  in  alter  Z(»it,  wie  heute  noch,  in  Mexico.  Er  gehörte 
so  zur  täglichen  Nahrung,  dass  di(»  Enthaltung  von  ihm  densel))en  Werth 
hatte,  wie  in  der  christlichen  Welt  die  Enthaltung  von  Butter-  und  Fleisch- 
speisen. Mit  anderen  Worten,  die  ohne  Pfeffersauce  genossenen  Tortillas 
sind  Fastenspeise.  Die  Gottheit  des  Capsicum-Pfeffers  ward  deshall)  zum 
Sinnbild  des  Fastenbruchs.  Nach  dem  Interpret<Mi  ist  Chantico  der  erste 
Fastenbrecher,  der,  weil  er  vor  dem  Opfer.  —  in  di(»s(T  Zeit  war  das 
Fasten  allgemeine  Vorschrift,  —  einen  gebratenen  Fisch  ass,  von  den 
Göttern  zur  Strafe  in  «»inen  Hund  verwandelt  ward. 

Dass    4*8    sich    bei   <ler  Patronage  dieses  Zeichens  um  Fasten  handelt, 
ist   aus  den  Abbihlungen    deutlich  zu  sehen.     Nicht  überall  indess  ist  der 
Fastenbrecher,   die  Gottheit  <les  Capsicum,  dargestellt.     Im  Cod.  Borgia  30 
und  entsprechend  im  Cod.  Vat.  B.  3  u.  73  ist  ein  (Jott  gemalt,  der  nicht  anders, 
als    der  Sonnengott,   Tonati uh,    gedeutet    werden  kann.     Die  besonderen 
Kennzeichen,    die    anderwärts    di<»sen    (iott  bezeichnen,    sind   hier  absolut 
nicht    zu    verkennen.      Darüber,    bezw.   davor   sitzt    im    Kranz    von    blut- 
besprengtem (rrase  ein  Jüngling,  der  einen  Krug  auf  der  Schulter  hält  und 
in    die    Muscheltrompete  bläst.     Unter  den  Fasten,  die  allgemein  und  von 
allen    zu   halten    siml,    zählt    SAHAGUN   in  erster  Linie  das  netonatiuh- 
^abualo  oder  netonatiuhvahualiztli,  das  „Fasten  zu  Ehren  des  Sonnen- 
gottes^, auf.    Dasselbe  fand,  wie  wir  aus  SAHAGUN  wissen,  alle  203  Tage, 
—  d.  h.    wohl  am  203.  Tage  tler  tonalamatl,  d.  h.  am  Tage  nahui  oll  in, 
„vier  Kugeh,   dem  der  Sonm»  geweihten  Tage,   —    statt.     Der  König  zog 
sich  zu  diesem  Zwecke  in  ein  besonderes  Gebäude,  (juaxicalco  genannt, 
zurück,  wo  er  sich  strengen  Bussübungen  hingab.    Man  tödtete  an  diesem 
Tage  vier  Gefangene,  die  man  chachaume  naunte,  zwei  weitere,  die  Sonne 
UDd  Mond  repräsentirten,  und  darnach  noch  viele  andere. 


38  E.  Selbb:  Aztekische  und  Maja-Uandschrifteo. 

Im  Cod.  Telleriano-Kemensis  und  Yaticanus  Ä.  ist  eine  gelb  gefärbte 
Gottheit  gezeichnet,  die  lange,  fletschende  Zähne  hat  und  im  Ausdrucke  an 
die  Götterfigur  erinnert,  welche  im  Cod.  Viennensis  mit  der  Bezeichnung 
nahui  ollin  (dem  der  Sonne  geweihten  Tage)  angetro£Fen  wird,  welche  aber, 
wie  die  Interpreten  angeben,  eben  jenen  Chantico  oder  Quaxolotl  dar- 
stellen soll.  Und  ihm  gegenüber  ist,  als  Gegenstück,  wie  die  Interpreten 
sagen,  mit  Kopalbeutel  und  Zweigbüschel  in  der  Hand,  in  einer  Einfassung, 
welche  an  die  des  fastenden  Jünglings  in  der  eben  besprochenen  Darstellung 
erinnert,  Quetzalcoatl-Ce  acatl  gezeichnet,  der  fromme,  die  Gebräuche 
haltende  Priester. 

Im  Cod.  Borgia  52  endlich  und  entsprechend  im  Cod.  Yaticanus  B.  31 
sehen  wir  eine  Frau,  in  kostbarem  Gewände,  das  Haupt  mit  rother  Kapuze 
bedeckt,  und  ihr  gegenüber  einen  Mann,  in  einer  Kiste  eingeschlossen, 
mit  Agavedomen  und  Zweigbüscheln  in  der  Hand.  Nach  SAHAGÜN  2.  Anhang 
ist  Quaxolotl  Chantico  eine  Göttin,  der  am  Tage  ce  xochitl  in  ihrem 
Tempel  Tetlauman  Sklaven  geopfert  wurden. 

20.  xochitl^  „Blume^,  erscheint  als  Kalenderzeichen  stets  in  ziemlich 
stylisirter  Form.  Vergl.  Fig.  141 — 145.  Häufig,  wie  man  sieht,  mit  Wurzeln 
am  untern  Ende  gezeichnet.  Mitunter  (z.  B.  im  Cod.  Borgia  30)  trifft  man 
auch,  statt  der  einzelnen  Blüthe,  einen  ganzen,  Blüthen  tragenden  Baum. 

Die  Blume  ist  das  Symbol  des  Kunst-  und  Geschmackvollen  und  das 
Zeichen  der  Göttin  Xochiquetzal,  der  Patronin  weiblicher  Hand-  und 
gewerblicher  Kunstfertigkeit.  Darum  werden,  wie  DüRAN  und  SAHAGÜN 
übereinstimmend  angeben,  die  unter  diesem  Zeichen  Geborenen  geschickte 
Handwerker,  Maler,  Silberschmiede,  Stoffweber  und  Bildschnitzer,  die 
Weiber  geschickte  Wäscherinnen,  Weberinnen  und  Stickerinnen. 

Die  Tutelargottheit  dieses  Zeichens  ist  in  allen  Handschriften  ziemlich 
übereinstimmend  und  unverkennbar  dargestellt,  —  im  Cod.  Telleriano- 
Remensis  und  Yaticanus  A.  mit  dem  tzotzopaztli,  dem  Holz,  das  zum 
Festschlagen  der  Gewebefäden  dient,  in  der  Hand.  Im  Cod.  Borgia  30  und 
entsprechend  im  Yaticanus  B.  3  u.  76  ist  über  der  Göttin  die  Göttin  Tona- 
cacihuatl,  —  ihre  andere  Modification,  —  als  alte  Frau  mit  eingekniffenem 
Mundwinkel  gezeichnet.  Im  Cod.  Telleriano-Remensis  und  Yaticanus  A 
sieht  man  ihr  gegenüber  eine  nächtliche  Gottheit,  die  in  die  Maske  eines 
fabelhaften,  schwarz-  und  blaugefleckten  Thieres  gekleidet  ist  und  den 
rauchenden  Spiegel  Tezcatlipoca's  an  der  Schläfe  trägt.  Auch  im  Cod.  Borgia53 
und  entsprechend  im  Yaticanus  B.  30  ist  ihr  gegenüber  eine  gespenstische 
Gottheit,  —  schwarz,  mit  rundem  Eulenauge,  —  gezeichnet.  Beides,  wie 
es  scheint,  Gottheiten  des  nächtlichen  Dunkels,  die  sich  der  Xochiquetzal, 
als  der  Gottheit  der  Erde,  naturgemäss  associiren. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Bespreehongen.  39 


Besprechungen. 

W.  OSBORNE.     Das    Beil    und    Beine  typischen  Formen  in  vorhistorischer 

Zeit    Dresden  1887,  Warnatz  &  Lehmann.     67  8.  u.  19  lithograph. 

Tafeln. 

Der  Verf.  hat  rieh  die  Aafgabe  gestallt,  die  Geschichte  des  Beils  in  seiner  all- 
mihhchen  Entwickeluiig  während  der  Torhistorischen  Zeit  zu  yerfolgen,  —  eine  grosse, 
gewiss  sehr  dankenswerthe  Untersuchung,  da  rie  in  mehreren  Beziehungen  gewisser- 
maatsen  den  Leitfaden  zu  der  Geschichte  der  vorhistorischen  Cultur  überhaupt  bietet 
Manche  Tortreffliche  Vorarbeiten  dazu  lagen  vor.  Der  Verf.  hat  dieselben  nicht  in  der 
Ausdehnung  benutzt^  als  es  erforderlich  gewesen  w&re:  sowohl  die  schwedische,  als  die 
italienische  Literatur  hat  er,  letztere  fast  ganz,  bei  Seite  liegen  gelassen.  Andererseits 
fjMst  er  den  Begriff  der  vorhistorischen  Zeit  sehr  eng;  er  spricht  fast  nur  von  Europa. 
Die  gerade  fBr  dieses  Ger&th  so  ergiebigen  Funde  Amerikas,  auch  die  prftcolumbischeo, 
werden  ebenso  wenig  berührt,  als  die  weiten  und  so  überaus  wichtigen  Arbeitsgebiete 
Oceaniens,  Ariens  und  Afrikas.  Um  so  weiter  fasst  er  den  Begriff  des  Beiles  selbst 
Man  mag  sich  darin  fugen,  dass  er  die  Celte  und  Aexte  der  Metallzeit  s&mmtlich  Beile 
nennt,  aber  es  erscheint  nicht  mehr  zul&srig,  jeden  geschlagenen  Stein  der  palftollthischen 
Zeit  ebenso  zu  bezeichnen.  Nichts  von  dem,  was  auf  TaL  I  dargestellt  ist,  würde  wohl  ein 
gewöhnlicher  Sterblicher  als  Beil  anerkennen;  bei  dem,  was  die  Taf.  n  bringt,  h&ngt  Alles 
davon  ab,  wie  man  die  Gregenstände  betrachtet.  Wenn  man  ein  steinernes  Lanzenblatt 
oder  eine  primitive  Pfeilspitze  umdreht  und  die  Spitze  hinten,  die  breite  Rundung  vom 
hinsetzt,  so  kann  man  glauben,  ein  Urbeil  vor  sich  zu  haben.  So  aber  ist  das  Verfahren 
des  Vert  Dafür  fehlen  die  „H&mmer",  die  man  doch  in  eine  n&here  Beziehung  zu  den 
Beilen  (und  KeOen)  setzen  muss,  gänzlich.  Es  kann  zugestanden  werden,  dass  die  Grenzen 
zwischen  den  verschiedenen  Ger&then,  namentlich  der  Vorzeit,  sehr  schwankende  sind  und 
dass  hinfig  das  eine  Ger&th  in  das  andere  übergeht  Aber  daraus  folgt  doch  nicht,  dass 
man  in  einer  Arbeit  welche  genau  genommen  eine  (jeschichte  der  Technik  sein  soll, 
klbifltliche  und  willkürliche  Abschnitte  bilden  darf.  Die  Technik  der  Vorzeit  hat  rieh, 
gerade  wie  in  der  Neuzeit,  nirgends  an  einem  einzigen  Ger&th  für  sich  entwickelt.  Die 
Knast  des  Schleifens,  des  Bohrens,  des  Giessens  ist  für  Kugeln  genau  ebenso  aus- 
gebildet worden,  wie  für  Beile,  und  was  die  Formen  anbetrifft,  so  Iftsst  rieh  der  Hohlcelt 
von  der  Lanzen-  und  Pfeilspitze  mit  Dülle  nicht  trennen,  so  wem'g  als  die  Ornamente 
des  Cell«  oder  der  Axt  ohne  Kenntniss  der  auch  sonst  üblichen  Ornamente  verst&ndlich 
werden.  Mit  anderen  Worten,  die  einzelne  Form  muss  im  Zusammenhange  der  Zeit  be- 
trachtet werden.  Der  Verf.  giebt  häufig  chronologische  Hinweise,  aber  er  führt  dieselben 
sieht  ans.  Mindestens  hätte  man  erwarten  dürfen,  dass  er  in  positiver  Weise  den  Nach- 
weis führen  würde,  welche  Formen  älter  und  welche  jünger  rind.  Er  versucht  dies 
gelegentlich,  z.  B.  für  den  Flachcelt,  aber  in  den  meisten  Fällen  begnügt  er  rieh  damit, 
die  eine  Form  aus  der  andern  in  speculativer  Weise  abzuleiten.  Der  gesunde  Menschen- 
verstand ist  viel  werth,  aber  er  äussert  rieh  sehr  verschieden  bei  Prometheus  und  bei  Epi- 
metheus.  Darum  rieht  die  heutige  Alterthumswissenschaft  den  Nachweis  von  der  wirklichen 
Aufeinanderfolge  der  Dinge  allen  Vermuthungen  über  die  Entwicklung  derselben  vor;  rie 
hat  rieh  darin  der  Methode  der  Naturwissenschaften  angeschlossen.  Die  mühsame  und 
durch  die  Beigabe  zahlreicher  Tafeln  sehr  anschauliche  Arbeit  des  Verf.  könnte  eine  recht 
braaehbare  Unterlage  für  eine  weitergehende  Untersuchung  in  dem  bezeichneten  Sinne 
bilden.  Vielleicht  liefert  er  uns  in  einer  zweiten  Arbeit  die  geschichtlichen  Beweise 
für  die  Richtigkeit  sriner  Argumentationen.  Dabei  wäre  es  jedoch  erwünscht  die  Namen 
nnd  Citate  richtiger  wiedergegeben  zu  sehen.  So  schreibt  der  Verf.  constant  Thomson 
(pt  Thomsen),  Chartaillac  (st  Cartailhac),  Pulsky  (st  Pulszky).  Auch  die  Orts- 
namen sind  mehrfach  falsch  wiedergegeben  z.  B.  C^hiusci,  Sülger.  Auf  S.  51  lässt  der 
Verl  Hohlcelte  mit  doppelten  .Henkeln*'  im  Kaukasus  vorkommen,  obglrich  Ref.  in 
Mtoer  ihm  wohlbekannten  Monographie  über  Koban  (8. 1S9)  das  Vorkommen  von  Gelten 
im  Kaakaras  in  Abrede  gestellt  hatte;  vergleicht  man  nun  das  beigefügte  Citat  (Evans, 


40  Besprechungen. 

Bronze  Implements  p.  143),  so  ergiebt  sich,  dass  ein  Celt  von  Kcrtsch  (ibid.  Fig,  179) 
gemeint  ist.    Aber  Eertsch  liegt  doch  nicht  im  Kaukasus ! 

Was  die  von  dem  Verfasser  bevorzugte  Eintheilung  betrifft,  so  ist  sie  eine  weitere 
Ausführung  der  Classiücation  des  Um.  G.  de  Mortillet.  Er  unterscheidet  unter  den 
Steinbeilen  ungeglättete  (gesplitterte  und  geschlagene)  und  geglättete,  welche  letztere  er 
in  gelochte  und  ungelochte  trennt;  bei  den  Metall])eilen  trennt  er:  A.  den  Celt  mit 
5  Unterabtheilungen  (Flachcelt,  Kragencel,t,  Leistencelt,  Lappencelt  und  Hohlcelt),  B.  die 
Axt  mit  4  Unterabtlieilungen  (gerade  und  geschwungene  Schmal-,  bezw.  Breitait).  Ob 
diese  Eintheihmg  sich  allgemeine  Geltung  verschaffen  wird,  muss  die  Zeit  lehren.  Es  ist 
Äusserst  schwer,  für  jede  Form  ganz  zutreffende  Namen  zu  finden.  So  dürfte  der  Name 
Leistencelt  kaum  als  ein  durchweg  zutreffender  anzuerkennen  sein.  Immerhin  ist  es  gut, 
dass  auch  in  Deutschland  ein  neuer  Versuch  der  Eintheilung  der  Celte  gemacht  worden 
ist.  Für  die  Steinbeile  hat  der  Verf.  sich  einer  so  weitgehenden  Aufgabe  der  Formen- 
Diagnose  nicht  unterzogen. 

Die  beigegebenen  zahlreichen  Abbildungen  sind  sehr  lehrreich,  obwohl  einzelne  leicht 
zu  Missverständnissen  Anlass  bieten  können.  So  sind  auf  Taf.  XVI  Fig.  2  und  Taf  XVII 
Fig.  10  zwei  Bronzeäxte  von  Koban  nach  den  Tafeln  des  Ref.  wiedergegeben,  an  denen 
die  Fäden,  mit  denen  die  Objekte  für  die  photographische  Wiedergabe  befestigt  waren,  in 
der  Art  wiederholt  worden  sind,  dass  es  den  Eindruck  machen  muss,  als  seien  sie  Bestand- 
theile  der  Aexte  selbst  Rüd.  Virchow. 

Alb.  HERM.  Post.  Einleitung  in  das  Studium  der  ethnologischen  Juris- 
prudenz. Oldenburg,  Sehulze'sche  Hof  -  Buchhandlung.  8.  53  S.  — 
Afrikanische  Jurisprudenz.  Etlmologisch-juristische  Beiträge  zur  Kennt- 
niss  der  einheimischen  Rechte  Afrikas.  2  Theile  in  1  Bande.  Olden- 
burg u.  Leipzig  1887.  Schulze'sche  Hof-Buchhandlung.  8.  480  und 
192  S. 

Der  Verfasser,  Richter  am  Landgerichte  zu  Bremen,  hat  im  vorliegenden  Werke  den 
ersten  Versuch  einer  allgemeinen  Codification  des  afrikanischen  Rechts  gemacht,  dessen 
Bedeutung  um  so  mehr  anerkannt  werden  muss,  als  ein  äusserst  umfassendes  und  genaues 
Quellenstudium  der  Arbeit  zum  Grunde  liegt.  Das  Buch  wird  sowohl  für  Reisende  imd 
Colonialbeamte,  als  auch  für  wissenschaftliche  Forscher  einen  grossen  Werth  erlangen,  und 
wir  begrüssen  es  als  einen  grossen  Schritt  zur  Begründung  der  ..ethnologischen  Jurisprudeni*, 
wie  der  Verf  selbst  die  neue  Disciplin  bezeichnet.  Zu  bedauern  ist,  dass  er  das  ali- 
ägyptische Recht  von  seiner  Untersuchung  ausschliesst  und  adch  die  Araber  nur  gelegentlich 
erwähnt,  obwohl  doch  in  beiden  Beziehungen  starke  Einflüsse  nachzuweisen  sind.  Auch 
die  Stellung  der  priesterlichen  Elemente  in  der  Organisation  der  afrikanischen  Gesellschaft 
hätte  eine  grössere  Berücksichtigung  verdient.  Immerhin  wird  es,  wie  wir  hoffen,  von 
nachhaltigen  Folgen  sein,  dass  hier  zum  ersten  Male  das  Gesammte  der  Rechtsanschaunngen 
eines  so  grossen  Gebietes  vom  Standpunkte  der  Fachwissenschaft  aus  einer  übersichtlichen 
Ordnung  unterzogen  worden  ist. 

In  der  besonders  erschienenen  .Einleitung  in  das  Studium  der  ethnologischen  Juris- 
prudenz*"  zeigt  der  Verf.  die  Breite  der  Studien,  auf  welchen  er  seine  Darstellung  aufbaut, 
und  die  streng  philosophische  Methode,  nach  welcher  er  seine  Untersuchungen  angestellt 
hat.  Er  beweist  darin,  dass  die  Rechtswissenschaft  des  Studiums  der  unkultivirten  Völker 
nicht  entbehren  kann,  dass  vielmehr  die  ethnologische  Jurisprudenz  auf  das  Studium 
der  Rechte  der  geschichtslosen  Völker  das  erheblichste  Gewicht  legen  muss,  ^da  nur  in 
den  Rechten  dieser  Völker  die  Keimbildungen  des  Rechtslebens  aufgefunden  werden 
können,  und  diese  für  eine  allgemeine  Entwickelungsgeschichte  des  Rechtslebens  von  der 
höchsten  Bedeutung  sind**.  Aber  er  warnt  vor  einer  einseitigen  Vertiefung  in  die  Rechts- 
verhältnisse eines  einzelnen  Stammes,  da  erst  in  der  Erkenntniss  allgemein  gültiger  Gesetze 
ein  Maassstab  für  die  comparative  Betrachtung  gefunden  werden  könne.  So  lehrt  er,  dass 
die  Geschlechterverfassung  eine  über  die  ganze  Erde  verbreitete  und  bei  den  Natur- 
völkern ausschliesslich  vertretene  Organisationsfonn  ist,  welcher  charakteristiscbe  Rechts* 
anschauungen  entspringen,  die  sich  an  vielen  Orten  wiederholen.  RuD.  Vikohow. 


Der  Charakter  der  aztekischon  nnd  der  May a- Handschriften.  17 

S<»ite  (le8  Schädels  ein  krei8run(l(»8  Loch  ausgeschnitten.  Der  Anblick  der 
Sc*hftdel  war  den  Mexikanern  gehlufig  vom  tzampautli,  dem  Schädelgerüst, 
wo  auf  quer  <lurch  die  Schläfe  gestosscMien  St^uigen  die  Köpfe  der  den  Göttern 
geopferten  Sclaven  und  Kriegsgefangenen  aufgereiht  waren.  Mitunter  sind, 
statt  des  kn^isrunden  Loches  an  <l(»r  Seite,  verschieden  gefärbte,  concentrische 
King(»  auf  dem  Wirbel  des  Schädels  zu  sehen,  die  vielleicht  auf  eine  Prä- 
paration des  Schädels  deuten.  Statt  eines  einfachen  Schädels  wird  auch  der 
Kopf  Mictlante(*utli*s,  des  Todesgottes,  gezeichnet,  der  zu  dem  Todten- 
s<*hädel  noch  eine  schwarze,  zerzauste  Pernick*»,  Ohren  mit  weissem,  bmid- 
ortigimi  Pflock  und  ein  Feuer8teinme8s*»r  vor  der  Nase  trägt  (Fig.  90). 

Der  Tod  ist  ein  Unglück  und  erweckt  traurige  (jedanken.  So  sind 
auch  die,  unter  diesem  Zeichen  Geborenen  unglücklich  und  tram'ig,  schwäch- 
lich, krank  und  feige. 

Als  Patron  dieses  Zeichens  ist  im  Cod.  Borgia  28  eine  Frau  gezeichnet 
mit  der  Lippenseheibe  Tonacatecutli's  (Ometecutli's),  die  vom  über  der 
Stirn  eine  Meerschnecke  trägt  und  deren  ganze  Gestalt  von  nächtlichem 
Dunkel  sich  abhebt.  In  den  entsprechenden  Stellen  des  Codex  Vat.  B. 
(Blatt  9  u.  78)  ist  ein  Gott  gezeichnet,  ebenfalls  mit  der  Lippenscheibe 
(eingekniffenem  Mundwinkel)  Tonatecutli's,  aber  mit  dunklem  (blauem) 
Leibe.  Auch  im  Cod.  Borgia  49  und  im  Cod.  Vat.  B.  43  sehen  wir  einen  Gott 
mit  der  Lippenscheibe  (dem  eingekniffenen  Mundwinkel)  Tonacatecutli's, 
aber  hier  als  steifrückigen,  alten  Mann  mit  dem  Stabe  in  der  Hand.  Und 
ihm  gegenüber  steht  der  Sonnengott.  Ebenso  haben  Cod.  Telleriano  Re- 
mensis  und  Vaticanus  A.  zwei  Figuren :  einen  Gott,  der  als  auszeichnendes 
Merkmal  dieselbe  Meerschnecke  trägt,  wie  die  Frau  im  Cod.  Borgia  28,  und 
ihm  gegenüber  wieder  den  Sonnengott. 

Dem  Zeichen,  welches  „Tod"  bedeutet,  sind  hier,  gleichsam  zur  Com- 
pensation.  die  Gottheiten  der  Geburt  als  Patrone  gesetzt.  Die  Frau 
auf  Blatt  28  des  Cod.  Borgia  ist  Tonacacihuatl,  als  Göttin  der  Geburt 
gedacht.  Das  beweist  die  Meerschnecke.  Denn  die  Schnecke  ist  das  Symbol 
des  Mutterleibes.  Wie  die  Schnecke  aus  dem  Gcdiäuse,  so  kommt  der 
Mensch  aus  dem  Leibe  seiner  Mutter  hervor.  Die  männlichen  Gottheiten 
bezeichnen  den  Mond  (Metztli).  Der  Mond  hat  Beziehung  zu  den  Weibern 
und  verursacht,  nach  den  Interpreten,  die  (Jeburt  der  Menschen.  Darum 
ist  die  Meerschnecke  (tecciztli)  auch  sein  Symbol  und  Tecciztecatl, 
^der  mit  der  Meerschnecke",  der  hauptsächlichste  der  Namen,  unter  denen 
der  Gott  bekannt  ist. 

7.  macatl  „Hirsch**.  Der  langgestreckte  Kojif  dieses  Thieres  wird 
gezeichnet  ohne  Geweih  (Fig.  91)  oder  mit  Geweih  (Fig.  92),  das  letztere 
dann  blau  gemalt,  wie  andere  Ilorn-  und  Hauttheile  (Nägel,  Nasenschleim- 
haut u.  a.).  Statt  des  Kopfes  finden  wir  im  Cod.  Fejervtiry  (Fig.  93)  den 
Fuss  des  Thieres  mit  dem  gespaltenen  Huf. 

Der  Hirsch    ist   ein  Thier    des  Waldes  und  des  Feldes.     Für  die,  an 

Ztflwckrift  fb  EtliaolOfU.    Jahrg.  1888.  2 


18  E.  Seler: 

diesem  Tage  Geborenen  resultirt  (iaraus  ein  Hang,  in  die  Ferne  zu  schweifen 
und  sich  dem  Waldleben  zu  ergeben.  Insofern  trifft  das  Zeichen  in  seiner 
Bedeutung  mit  dem  Zeichen  coatl  zusammen  und  gilt,  wie  dieses,  auch 
als  Zeichen  der  Krieger. 

Der  Patron  dieses  Zeichens  ist  Tläloc,  der  Gott  des  Regens,  der 
Gewitterschauer,  der  mit  dem  Blitze  tödtende  Gott,  —  vielleicht,  weil  er 
gleichzeitig  der  Gott  der  Berge  ist.  Oder  sollte  vielleicht,  ähnlich  wie  bei 
dem  vorigen  Zeichen,  eine  Compensation  durch  die  absolute  Gegensätzlich- 
keit bezweckt  worden  sein?  Der  Hirsch  ist,  nach  den  Interpreten,  Symbol 
der  Dürre.  —  Im  Cod.  Telleriano-Remensis  und  Vaticanus  A.  ist  dem  Gott 
eine  Figur  gegenübergestellt,  welche  Attribute  Tläloc's  (des  Regengottes) 
und  QuetzalcoatFs  (des  Windgottes)  vereinigt  und  die  von  den  Interpreten 
als  Nahuiehecatl  („vier  Wind")  bezeichnet  wird. 

Tläloc  ist  den  Mexikanern  insbesondere  der  mit  dem  Blitz  tödtende, 
in  der  Fluth  ertränkende,  in  Tlälocan  über  die  Seinen  herrschende  Gott. 
Die  unter  dem  Zeichen  „Hirsch"  Geborenen  und  so  dem  Gotte  Tläloc 
Verfallenen  fürchteten  daher,  bei  jedem  Gewitter  vom  Blitz  erschlagen,  bei 
jedem  Bade  ertränkt,  von  dem  Herrscher  Tläloc  als  sein  Eigenthum  reclamirt 
zu  werden. 

8.  tochtU  „Kaninchen".  Ein  Kopf,  ähnlich  dem  des  vorigen  Zeichens, 
aber  durch  das  runde  Auge,  die  längeren,  mehr  hängenden  Ohren  und  die 
beiden  Schneidezähne  unterschieden  (Fig.  94  u.  95). 

Das  Zeichen  ist  ein  glückliches.  Das  Kaninchen,  sagt  man,  nährt 
sich  ohne  Arbeit  und  Mühe  von  dem  Grase  des  Feldes.  Darum  werden 
die  unter  seinem  Zeichen  Geborenen  mühelos  reich. 

Im  Mexikanischen  ist  tochtli  der  Ausdruck  für  „Rausch,  Berauscht- 
heit". Sie  bilden  das  Zeitwort  tochtilia,  oninotochtili,  für  welches 
MOLINA  die  Bedeutung  giebt:  „hazerse  concyo,  o  hazerse  bestia,  o  tomarse 
bruto  el  hombre".  Nach  P.  SAHAGUN  wurde  der  Wein  centzontotochtin, 
d.h.  „400  («-20X20)  Kaninchen"  genannt,  weil  er  die  Ursache  unzähliger 
Arten  von  Betrunkenheit  wäre.  —  So  sehen  wir  denn  auch  als  Patronin 
des  Zeichens  tochtli  die  Personification  der  Magueypflanze,  der  Agave 
americana,  aus  welcher  der  b(»rauschende  Pulque  bereitet  wird.  Als  Gott- 
heit führt  sie  den  Namen  Mayahuel.  Sie  ist  (als  Pflanze)  als  Göttin 
gedacht  und  war  nach  SAHAGUN  diejenige,  welche  zuerst  den  Saft  der 
Magueypflanze  extrahiren  lehrte,  —  in  uralter  Zeit,  als  noch  die  Olmeca 
und  Huixtotin  im  Lande  waren,  —  und  ist  nach  dem  Inteqireten  des  Codex 
Telleriano  Remensis  die  Gemahlin  PantecatFs,  des  Pnliiut^-Ciottes,  den  wir 
unten  noch  zu  erwähnen  haben  werden.  —  Die  Darstellung  der  Göttin  ist 
in  allen  Quellen,  die  wir  hier  angezog(»n  haben,  ziemlich  uniform.  Wir 
sehen  die  Göttin  vor  den  8tachlig(»n  Blättern  der  Agave  sitzen  oder  daraus 
hervorwachsen.  Daneben  der  bekränzte  und  geschmückte  Topf,  aus  welchem 
das  Getränk  herausschäumt.    Eine  Figur,  in  vergnügter  Haltung  (iie  Fahne 


Der  Charakt/T  dor  uKti*kischen  und  der  Maya-IIaiid8chrift^n.  19 

8chwiii[;on<l,  mit  ernstor  Mioiir  aus  dor  Pulqiioschale  trinkoiul  odor  nii; 
der  Puh|UOrtchttli>  in  der  Hand  zur  trunkenen  IUmIo  anlu»b(»nd,  —  »cheint 
den  Kauseh  zur  Darstellung  bringen  zu  sollen. 

9.  atl  ^Wasser".  Das  Wasser  erseheint  als  Tag(»8zeielien  stdten  in 
der  Weise,  wie  nuin  es  als  hieroglypliisches  Element  im  Cod.  Mendoza  und 
sonst  vielfach  verw(»n<let  fiinlet,  nehmlieh  als  blauer,  verzweigter  Strom, 
mit  einem  Wellensaum  oder  mit  weissen,  runden  oder  länglichen  Tropfen 
am  Ende  d(»r  Verzweigungen.  Immerhin  haben  wir  eine  dem  ähnliche 
Zeichnung  in  der  Fig.  96  des  Co<l.  Vatic.  B.  47  u.  48.  In  der  Regel  ist, 
statt  des  einfachen  Wasserstromes,  ein  (Jefass  mit  Was8(»r  g(»zeichnet,  ent- 
wiMler  ein  einfaches  WasstTgefass  (KürbisgefSiss),  wie  in  Fig.  97  des  Cod. 
Telleriano  Remensis,  oder  aber,  und  dies  ist  der  häufigere  Fall,  das  aus 
dem  (lefäss  herausfliessendo  Wasser  ist  der  wallenden  Federhaube  eines 
Vogels  verglichen.  So  wird  <lem,  das  W^asser  bergenden  Gefass  die  Gestalt 
eines  Vogelschnabels  gegeben,  mit  Eck-  und  Backzähnen  an  der  Aussen- 
seite  des  Gefiisses,  und  in  das  Wasser  hin(Mn  wird  das  Auge  eines  Vogels 
gezeichnet  (Figg.  100,  101).  Eine  Combination  beider  Darstellungsweisen 
zeigt  die  eigenthümlich  oniamentale  Fig.  98  (Cod.  Land.). 

Das  W'asser,  oder  genauer  gesagt,  die  Zeit,  in  der  das  W^asser 
lH»rrscht,  die  Regenzeit,  und  die  Oertlichkeiten,  wo  W^asser  im  Ueberfluss 
vorhanden  ist,  verursachen  Krankheiten,  Rheumatismen,  Fieber,  Ausschlag. 
Darum  ist  das  Zeichen  ein  unglückliches,  hfit  Krankheit  und  Tod  für  die 
<lavon  Betroffenen,  bezw\  unter  ihm  Gehörnen  im  Gefolge. 

Als  Patron  diesc^s  Zeichens  ist  wieder  das  entgegengesetzte  Princip, 
der  Herr  des  Feuers,  IxcoQauhqui,  „der  Gelbgesichtige*',  Xiuhtecutli, 
„der  Herr  d(»s  Jahres"  (oder  der  Herr  des  Smaragds),  oder  Xiuhatlatl, 
„das  blam»  Wurfbrett",  genannt,  —  mit  gelber  Farbe  im  Cod.  Telleriano- 
Remensis  un<l  Vaticanus  A.,  mit  rother  im  Cod.  Borgia  und  Vaticanus  B. 
gemalt,  der  untere  Theil  des  Gc^sichts  und  ein  Querstreifeii  über  das  Auge 
schwarz.  Das  gegensätzliche  Element,  das  Wasser,  ist  als  breiter  Strom 
auch  hier  neben  dem  Gott  zu  sehen,  —  an  die  eigenthümliche  Stelle  im 
SaHAüüN  (»rinnenid,  wo  der  Feuergott  d(»r  „Vater  aller  (iötter"  genannt 
wird,  <ler  in  der  Wasserherberge  residirt  un<l  zwischen  den  Blumen,  nehmlich 
den  zinnengekrönten  Mauern,  eingehüllt  in  „Wolken  von  Wasser",  —  offenbar 
das  Ft?uer  als  Blitzfeuer  gedacht,  ganz  wie  der  indische  Agni  „der  aus  dem 
Wasser  (i(»borne"  genannt  winl. 

In  <len  Passagen,  wo  diese  Götter  als  Patrone  der  W^ochen  angeführt 

sind,  ist  gegenüber  <lem  Feuergott  ein  weissgefärbter  Gott  zu  sehen,  neben 

dem  im  Cod.  Tell(»riano- Remensis  und  Vaticanus  A.  <las  Zeichen  ce  acatl 

„eins    Rohr"  —  der    Tag    des  Verschwindens    (<les  Todes)    QuetzalcoatFs, 

an    welchem    dies(»r  (lott    sich  in  den  Morgenstern  verwandelt  haben  soll. 

Die    Interjireten    erklären    daher    diese  Figur   als    das  Bild  Tlahuizcal- 

pantecutli*s,    des  Morgensterns.     Ce    acatl    ist    aber  auch  der  Tag,    au 

2^ 


20  ^-  Seler: 

welchem  der  Tradition  nach  der  Himmel  geschaffen  wurde  (Cod.  Tell.- 
Rem.  IL  32),  der  Tag  des  Weltanfangs,  des  Anfangs  der  Zeitrechnung 
(„il  primo  gionio  quando  cominciö  il  tempo",  sagt  der  Interpret  des  Cod. 
Vaticanus  A.).  Wenn  der  Jahresanfang  auf  den  Tag  ce  acatl  fiel,  fasteten 
alle  eine  ganze  Woche  von  13  Tagen  lang.  Denn  an  diesem  Tage  war  die 
vorige  Weltperiode  zu  Grunde  gegangen  und  hatte  die  neue  Weltperiode 
begonnen,  und  an  diesem  Tage  erwartete  man  auch  die  Zerstörung  der 
gegenwärtigen  Welti)eriode.  Dies  hatte,  nach  der  allgemeinen  Anschauung, 
durch  Feuer  zu  geschehen.  Die  Idee  des  Weltuntergangs,  wie  sie  sieh 
an  das  Bild  des  Feuergottes  knüpft,  ist,  meiner  Ansicht  nach,  durch  die, 
dem  Feuergotte  an  den  genannten  Stellen  gegenüberstehende  Figur  und 
die  Legende  ce  acatl  ausgedrückt. 

10.  itzcnlntli  „Hmid".  Der  Kopf  des  Thieres  wird  gezeichnet  schwarz 
und  weiss  gefleckt,  wie  er  auch  im  Cod.  Mendoza,  wo  das  Bild  des  Hundes 
als  hieroglyphisches  Element  viel  verwendet  wird,  regelmässig  erscheint. 
Mitunter  erscheint  aber  das  Bild  des  Hundes  auch  roth  gemalt  (Fig.  103). 
Der  Himd  wurde  bei  den  alten  Mexikanern  als  Schlachtthier  gemästet. 
Nebenbei  aber  spielte  er  eine  wichtige  Rolle  bei  den  Leichenfeierlieh- 
keiten.  Um  nach  dem  Todtenreiche  zu  gelangen,  musste  die  Seele  des 
Abgeschiedenen  den  Chiconahuapan,  den  „neunfachen  Strom",  über- 
schreiten, und  dies  konnte  nur  mit  Hilfe  eines  rothen  Hundes  geschehen. 
Darum  versäumte  man  nie,  dem  Todten  einen  solchen  Hund  in  das  Grab 
mitzugeben.  Eben  deshalb  ist  aber  auch  die  rothe  Farbe  auszeichnendes 
Merkmal  für  den  Hund  geworden.  Die  Fig.  103  zeigt  gleichzeitig  den 
Hund  mit  abgeschnittenen  Ohrspitzen.  Das  ist  durch  den  lappigen  obem 
Rand  des  Ohres  und  die  gelbe  Farbe  des  Randes  —  in  den  Bilderschriften 
allgemein  für  todte  Körpertheile  oder  Wundränder  verwendet  —  angedeutet. 
Es  scheint,  dass  den  Himden,  elie  man  sie  dem  Todten  ins  Grab  nach- 
warf, die  Ohrspitze  abgeschnitten  ward.  Denn  dasselbe  rotlie  Ohr  mit 
der  abgeschnittenen  Spitze  (dem  gelben,  lappigen,  obem  Rande)  finden  wir 
für  sich  allein  als  Bezeichnimg  des  Tageszeichens  itzcuintli  verwendet 
(Fig.  104). 

Der  Hund  ist  das  Zeichen  der  grossen  Herren,  der  Herrscher  und 
Richter  auf  der  Erde.  An  diesem  Tage  wurden  die  Todesurtheile  aus- 
gesprochen und  die  unschuldig  Eingekerkerten  freigelassen.  Könige,  die 
an  diesem  Tage  erwählt  wurden,  hatten  besondere  Chancen.  Und  die 
Menschen,  die  an  diesem  Tage  geboren  wurden,  wurden  grosse  Herren, 
reich  und  mächtig,  freigebig,  lassen  sich  gern  bitten  und  ertheilen  gern 
Gnadengeschenke. 

Der  Patron  dieses  Zeichens  ist,  bezeichnend  genug,  Mictlentecutli, 
der  Todesgott,  als  solcher,  theils  in  männlicher,  theils  in  weibliclier  Gestalt, 
im  Cod.  Borgia  26  und  an  den  entsprechenden  Stellen  des  Cod.  Vaticanus  B. 
7  und  80  gezeichnet.    Neben  ihm  der  aufgesperrte  cipacter,  (Erd-)  Rachen, 


Der  Charakter  der  aitekischen  und  der  Maya- Handschriften.  21 

Tragbahre  und  ein  an  Diarrhoe  und  Hamergus«  leidender  Mensch  (Affe). 
In  den  andern  Stellen  des  Cod.  Borgia  45,  Vat.  B.  39  und  im  Cod.  ToUeriano 
Keniensis  und  Vaticanus  A.  ist  auch  hier  wieder  die  Gegensätzlichkeit 
zum  Aus<lruck  gebracht:  <lem  Todewgotte,  dem  Herrscher  in  der  Unterwelt, 
dem  Ke)>rAHentanten  der  Nacht  wird  der  Sonnengott,  Tonatiuh,  der  Herr 
des  Tages,  gc^genübergestellt. 

11.  O^^omatli  „Affe**.  Der  Affe  ist  eine  mythologische  Gestalt.  Darum 
finden  wir  ihn  kaum  einfach  realistisch  <largestellt.  Zum  wenigsten  trägt  er, 
nach  Art  der  Fürsten  und  (rötter,  Schmuck  in  dem  Ohr  (Fig.  106),  und  zwar 
in  «ler  Kegel  den,  wie  es  scheint,  etwas  barbarischen  Ohrschmuck  des 
Gottes  TepeyoUotl  und  seiner  Begleiter.  Statt  des  sich  nach  vom  sträubenden 
Kopfhaares  sieht  man  häufig  einen  Busch  grünen  Malinalligrases  (vgl.  das 
nächste  Zeichen).  Gelegentlich  auch  (Cod.  Borgia  16)  ist  die  ganze  Figur 
in  Malinalli-Gras  gekleidet  (Fig.  107).  Und  im  Cod.  Telleriano  Kemensis 
und  Vaticanus  A.  trägt  der  Kopf  des  Affen  regelmässig  die  Kopfbinde  des 
Windgottes  Quetzalcoatl  (Fig.  105).  —  Der  Affe  hat  Beziehungen  zum 
Windgott.  Er  ist  eben  der  schnelle,  der  flüchtige.  Auch  den  arischen 
Inilern  ist  der  Affe  Hänumau  der  vätaja,  der  „Sohn  des  Windes".  In 
mexicanischen  Codices  findet  sich  widerholt  eine  merkw^ürdige  Darstellung, 
wo  wir  *ien  Todesgott  und  den  Windgott  Quetzalcoatl  Rücken  an  Rücken 
gelehnt  dasitzen  sehen.  Im  Cod.  Land  1 1  findet  sich  eine  ganz  gleiche  Dar- 
stellung, wo  wir  aber  statt  des  Windgottes  die  unverkennbare  Figur  des  Affen 
mit  dem  Rücken  gegen  den  Todesgott  gelehnt  finden;  erstorer  hält  das 
Opfennesser,  letzterer  das  ausgerissene  Herz  in  der  Hand.  Dass  wir  also 
den  Affen  mit  den  Attributen  des  Wiudgottes  bekleidet  finden,  kann  nicht 
weiter  Wunder  nehmen.  In  dem  Ausputz  mit  Malinalli-Gras  scheint  sich 
eine  Beziehung  zum  Tode  zu  offenbaren.  Das  Gesicht  des  Affen  imitirt 
den  Todtenschädel.  Und  ganz  an  unsere  Fig.  107  erinnernd,  sehen  wir  im 
Cod.  Borgia  44  das  Skelet,  welches  dem  Sonnengott  den  abgerissenen  Kopf 
einer  Wachtel  darbringt,  in  Malinalli-Gras  gekleidet. 

Der  Affe  ist  lustig  und  spasshaft  und  weiss  seine  Gliedmaassen  geschickt 
zu  benutzen.  Darum  werden  auch  die,  unter  seinem  Zeichen  Geborenen 
in  allerluuxl  —  aber,  wie  es  scheint,  hauptsächlich  brotlosen  —  Künsten 
geschickte  und  erfahrene  Leute,  Künstler,  Sänger,  Tänzer,  Clowns  und 
Spassmacher,  —  den  Frauen  ähnlich,  fröhlichen  Gemüths,  doch  nicht  sehr 
ehrbar. 

Als  Patron  dieses  Zeichens  ist  im  Cod.  Borgia  26,  un<l  entsprechend  im 
Cod.  Vatic.  B.  80  ein  (lott  gezeichnet,  dessen  nähere  Beziehung  durch  einen, 
n(»ben  ihm  im  Wasser  mit  dem  Netz  fischenden  Menschen  zum  Ausdruck 
gebracht  ist.  Da  an  dieser  Stelle  in  der  Aufzählung  der  Gottheiten,  gegen- 
über dem  Cod.  Vatic.  A.  und  Telleriano  Remensis,  eine  Differenz  auftritt, 
indem  diese  —  und  die  ihnen  entsprechenden  Stellen  des  Cod.  Borgia  und 
Vaticanus  B.  —  den  Gott  hier  auslassen  und  dafür  am  Schlüsse»  <ler  Reihe 


Di-r  i'hxrakter  An  utfkiMhfD  and  der  Uaya-UandKluift^iL  23 

den  FoutTgott  liiazufageii,  hd  bin  ic}i  nicht  im  Stanile.  ffir  diosen  Qott 
fint-ii  bfHtimmti'ii  Nanioii  anzn^tOjpii.  [cli  glaube  ilni  im  Cod.  Borgia  24  (wo 
(>r  in  Parallele  zu  XocliiiiiiPlzJil  sti-licn  würdo)  und  an  veracliiedenen  Sudlou 
dfs  Cüdi'x  Vienm-nsiK  unter  dt-ni  Namen  eliii-oinci  xocliitl  „sieboii  ßlmiie" 
wiederzni-rkeniivii,  und  wilrdi*  deitlinlb  ^oneigt  »ein.  in  ihm  ein  niAnnlicliea 
Annlogon  der  Xo{'liii)ui'tziil  anzunehmen,  «Um  zu  der  obon  gezeigten  lk>- 
deutung  deti  Zeicliena  TortrefTlitli  |>atiseu  wQrde. 

12.  malllialll    winl    von    den    alten  Autoren    als   „rierta  yorra",    „ein 

*"'"    g"ogräfieo8    de 


gcwigseti 


r>ExiüiEL 


Mt'xico)  ixt  e«:  —  planta  de  los  (iramineos.'  conoeido  per  „ziicnte  del 
(.'arbonero".  dura.  aA|iom.  Hbroim.  (|ue  fresca  sin'e  piirn  formar  las  ancati  del 
carbon  y  para  ooi^iui  que  la«  aKegurnn.  <l.  h.  uIko  .Strohoeil"  oder  „Oros, 
an»  dem  man  Stroliseile  fertigt".  Damit  seheint  die  Etymologie  de» 
Wortes  zu  ntimnien.  Wir  tiinlen  im  MOLINA:  malius,  onitlamatin. 
.toreer  »onlel  encima  del  muflo-;  malinqui-ninliunlli  „cosa  torcida". 

Im  Cod.  Mendoza  13.  14.  finden  wir  de»  Ort  Malinaltepee  durch 
einen  lier;;  dargestellt,  der  auf  «einem  (iipfel  eine  krautartige  Pflanze  mit 
^•dben  Itliithenköpfen  (Fig.  108)  trügt.  I»  dems<dben  Codex  41.  11  dagegen 
ist  deroelbe  Ort  dureli  einen  Berg  dargeittellt.  der  auf  seinem  (iipfel  die 
Fig.   109   tragt,  d.  li.  einen  Todtenaclu^del.  detuen  Wölbung  gleichsam  er- 


24  £)•  Seler: 

setzt  ist  durch  den  grünen,  mit  gelben  Blütlienköpfen  besetzten  Busch 
dieses  Krauts.  Letztere  Combination  ist  auch  die  übliche  Darstellung  des 
Tageszeichens  malinalli.  Vgl.  die  Fig.  110  (Cod.  Telleriano  Remensis). 
Doch  findet  sich  daneben  auch  z.  B.  im  Cod.  Borgia  26  die  Fig.  111,  welche 
den  ganzen  Busch  der  Pflanze  mit  den  gelben  Blüthenähren  und  zwei 
aufgesteckten  Fähnchen  zeigt.  —  Anderwärts  ist  das  Tageszeichen  darge- 
stellt durch  einen  blutigen  Kiefer  mit  einer  Zahnreihe  (Fig.  114  Cod. 
Fejerväry),  denen  noch  bisweilen  ein  herausgerissenes  Auge  (Fig.  113  Cod. 
Land)  oder  ein  herausgerissenes  Auge  und  ein  grüner  Busch  (Federn?) 
hinzugefügt  ist  (Fig.  112  Codex  Laud).  Wie  das  eine  Darstellimg  des 
Wortes  malinalli  sein  soll,  ist  schwer  erfindlich.  Ich  glaube,  dass  der 
andere  Name  itlan,  der  in  der  Liste  von  Meztitlan  für  dieses  Zeichen 
gebraucht  wird  und  der  mit  „sein  Zahn"  übersetzt  werden  kann,  hier 
herangezogen  worden  rauss. 

Das  Zeichen  hat  einen  bösen  Ruf.  Die  alten  Autoritäten  SaHAGUN 
und  DüRAN  erklären  es  —  ich  weiss  allerdings  nicht,  ob  vollständig  un- 
beeinflusst  durch  biblische  Traditionen  —  als  Sinnbild  der  Vergänglich- 
keit, das  Gras  des  Feldes,  das  schnell  dahinwelkt.  DüRAN  hebt  dabei 
die  Vergänglichkeit  des  Uebels  hervor.  Wie  das  Gras  des  Feldes  jedes 
Jahr  welkt  und  im  nächsten  wicMh^r  frisch  ergrünt,  so  verfielen  auch  die 
unter  diesem  Zeichen  Geborenen  jedes  Jahr  in  eine  schwere  Krankheit, 
erholten  sich  aber  wieder  von  derselben.  SAHAGUN  dagegen  hebt  die 
Vergänglichkeit  <les  Glückes  für  die  unter  diesem  Zeichen  Geborenen 
hervor.  Anfangs  vom  Glück  begünstigt,  wür<len  sie  plötzlich  wieder  ins 
Elend  zurückgeschleudert.  Sie  würden  viele  Kinder  bekommen,  diese 
ihnen  aber  der  Reihe  nach  wegsterben.  Darum,  giebt  er  an,  vergliche  man 
dieses  Zeichen  einem  reissenden  Thier. 

Patron  dieses  Zeichens  ist  ein  Gott,  der  von  den  Interpreten  Pantecatl, 
der  Gott  des  Weines,  genannt  wird.  Als  Götter  des  Weines  (d.  h.  des 
Pulque,  des  aus  der  Agave  americana  bereiteten  berauschenden  Getränkes) 
wird  im  SAHAGUN  eine  ganze  Reihe  von  Götter  angegeben:  Tezcatzoncatl, 
Yiauhtecatl,  Izquitecatl,  Acolhua,  Tlilhua,  Pantecatl,  Toltecatl, 
Papaztac,  Tlaltecayohua,  Ometochtli,  Tepuztecatl,  Chimalpane- 
catl,  Colhuatzincatl.  Wie  man  sieht,  haben  die  meisten  dieser  Namen 
patronymische  Form.  Man  möchte  vermuthen,  dass  durch  diese  ver- 
schi(Mh»nen  Namen  die  beson<leren  Marken  «les  Getränke«  bezeichnet  worden 
seien.  Der  Name  Pantecatl  üiuM  sich  auch  darunter,  und  ihm  wohnt 
eine  besondere  Bedeutung  inne,  <\o\u\  Pantecatl  heisst:  der  von  Panotlan 
(Pantlan,  Panuco)  d.  i.  der  lluaxteki».  Nach  der  Tradition  aber  ward  der 
Pulque  unter  den  Olmeca  Iluixtotin  (d.  i.  den  Bewohnern  der  atlantischen 
Golf küste,  südlich  von  Vera  Cruz)  erfunden,  und  bei  dem  (Jelage,  welches 
zu  Ehren  der  Erfindung  gegeben  ward,  zeichnete  sich  Cuextecatl 
^iJuaxtecatl),  der  Häuptling  der  Cuexteca  oder  lluaxteca,  durch  seine 
Unmässigkeit  aus. 


Der  OharakteT  der  attekiBchen  und  d«r  Mftjft-HandjchrifteD. 


i& 


Pantcoatl  wird  (üenialil  tlcr  Mayahiicl,  <lcr  riRftin  iler  Agavppflaiizp, 
gonaunt,  und  iliiii  wird  das  bosondcn-  V4>rilii'ii)it  zugoscliriebcii,  dio  nar- 
kotisehvn  Wurzeln  i-iiMi'ckt  zu  haben,  dio  man  dem  l'uiquu  zuHetzto,  um 
doKtioD  borauHt-liondi*  Wirkung;  zu  steigern. 

Der  (iott  wird  ii)  barbarisclipr  Tratdit  ilargt-Btellt  (Fig.  I4C),  mit  einem 
NaHcnriiig,  wi«  ihn  dio  (liittiii  Tfteoinnnn  oder  Tlavolteotl  trügt,  und 
auch  in  der  Tracht  an  die  letztere  (lottin  erinnernd.  Da«  i»t  «in  bvzoich- 
nender  Xug.  Denn,  wie  wir  unten  zu  urwälinen  liaben  worden,  aeheint 
auch  die  genannte  (iijttin  linaxtekinehon  Urnprung»  zu  sein.  Der  <iott  int 
mit  kriegeriKcIien  Knibh>nn>n  ansgestattet:  ilnii  gegenüber  oder  vor  üini 
herschreitend  ist  ein  Tiger  gezeichnet,  oder  in  Adler-  und  Tigertraclit  ge- 
kleidete Krieger,  —  Sinnbilder  der  Tapferkeit  (quauhtli  ocelotl  „Adler- 


Tiger"  int  Ilezeichnung  der  hervorragendsten  nnd  tapferMten  Krieger). 
Denn  der  Itauueh  macht  tajifer;  auch  durften,  wie  ch  «cheint.  an  den 
Pulqupgt'liigen  mir  alte  Männer  und  Soldaten  Theil  nehmen. 

Der  KnltuH.  der  mit  dem  l'nlquegott.  bezw.  mit  dem  Pulque  «ellwt 
Ketriehen  wunle,  bat  noch  «eitle  besondere  Hedeiitung.  Ohne  Zweifel 
wurde  unter  dem  llilile  des  Weins,  des  kräftig  und  stark  ninehenden,  der 
Hegen  verstnudeii.  der  der  Krde  Kraft  und  Starke  giel)t.  Der  Regengott 
selbst  heisst  bekmiiitlicb  TliiUtc  d.h.  „Wein  der  Krde".  In  der  llelacion 
von  Meztitlan  sind  als  Hau|>tgütter  genannt:  Ometocbtli.  Tezcatiipuca. 
llueitonantzlii  .1.  h.  der  Weiiigott  (Hegengott),  der  (iott  der  Dürre  und 
des  Winters  nn<l  die  (iottin  der  Krde.  Von  dein  tiott  des  Weines  (Ome- 
tnchtli)  wird  hier  erzählt,  dass  ihn  Tezcatlipuca  erschlägt,  dass  aber 
der  Tod  desselben  nur  wie  der  Schlaf  eiiu-s  Trnukeneii  sei,  dass  nachher 
fler  (Iott  gesund  und  frisch  wieder  auferstehe,  —  ein  durchsichtiger  Mythns, 


26  S*  Seleb: 


I  der  uns  den  Wechsel  von  Dürre  und  Regen,  von  Kälte  und  Wärme,  von 

Winter    und    Sommer  veranschaulicht.     Aus   dieser  mythischen  Bedeutung 
I  des  Weines  (Pulque's)  leiteten  sich  ohne  Zweifel  die  strengen  Strafen  ab, 

!  die    auf  den    unberechtigten  Genuss  desselben  gesetzt  waren,  und  die  die 

!  Spanier   so    in  Erstaunen  setzten  und  von  ihnen  als  (Tij)fel  pädagogischer 

Weisheit  gepriesen  wurden.  Der  Genuss  des  Pulque,  ausser  in  den  durch 
den  Kultus  streng  vorgeschriebenen  Fällen,  war  einfach  ein  Sakrileg  und 
ward  als  solches  gebührenderweise  mit  dem  Tode  bestraft. 

13.  ocatl  „Rohr".  Als  hieroglyphisches  Element  im  Codex  Mendoza 
häufig  durch  die,  aus  den  steugelumfassenden  breiten  Blätteni  sich  auf- 
bauende Maisstaude  ausgedrückt.  Als  Tageszeichen  durch  den  Pfeil- 
schaft, mit  (Fig.  118.  lU))  oder  ohne  (Fig.  115 — 117)  Feuersteinspitze,  aber 
regelmässig  mit,  unterhalb  des  Scliaftendes  angebrachten  Federn  bezeichnet. 
Wie  das  Rohr  inwendig  hohl  und  marklos  ist,  so  sollten  auch  die 
unter  diesem  Zeichen  Geborenen  hohle  Köj)fe  ohne  Herz  und  ohne  Ver- 
stand sein,  Leckermäuler,  Müssiggänger. 

Als  Patron  dieses  Zeichens  ist  im  Cod.  Borgia  27  ein  Tezcatlipoca  mit 
verbundenen  Augen  gezeichnet.  Dem  entspricht  im  Cod.  Borgia  46  eine 
Gruppe,  bestehend  aus  der  Figur  Tezcatlipoca 's  (Fig.  148)  und  eines 
Gottes  mit  ganz  verbundenem  Gesicht,  dessen  Kopf  von  einer  homartig 
gekrümmtem  Mütze  bedeckt  ist,  von  der  ein  Pfeilschaft  ausgeht  (Fig.  149). 
Ganz  die  gleichen  charakteristischen  Attribute  trägt  die  ents])rechende 
Figur  des  Codex  Vaticanus  A.  und  des  Codex  Telleriano-Remensis,  die 
von  den  Inteq>reten  als  Itztlacoliuhqui,  Gott  der  Kälte  und  weiter  der 
Verhärtung,  der  Verblendung,  der  Sünde  erklärt  wird  und  dem,  wie  sie 
angeben,  auch  ein  Sternbild  am  südlichen  Himmel  entsprechen  soll.  Als 
Nebenfiguren  sieht  man  im  Cod.  Borgia  27  einen  Excremente  fressenden  Men- 
schen, im  Cod.  Borgia  46  einen  Pulquetopf  und  einen  am  Boden  liegenden 
Menschen,  endlich  im  Cod.  Vaticanus  A.  und  Telleriano-Remensis  das 
Bildniss  der  gesteinigten  Ehebrecherin. 

Der  Name  Itztlacoliuhqui  bedeutet  „das  Scharfe,  Gekrümmte"  oder 
„das  krumme  Obsidianmesser".  Als  Gott  der  Kälte  wird  Itztlacoliuhqui 
auch  von  SaHAGüN  bezeichnet.  Der  Zusamnu»nhang  mit  Tezcatlipoca, 
der  in  den  (erwähnten  Darstellungen  vorliegt,  spricht  sich  übenlies  im 
Namen  — Itztli,  „der  Obsidian",  ist  einer  der  Namen  Tezcatlipoca's  — 
und  in  der  Bedeutung  des  Gottes  aus.  Denn  Tezcatlipoca,  „der  rauchende 
Spiegel",  ist  ohne  Zweifel  der  Gott  der  Dürre  und  der  Kälte,  des  Winters 
und  der  Dunkelheit,  der  Moloch  <ler  mexikanischen  Mytliologie.  Und 
ebenso  ist  er  der  die  Sünde  strafende  Gott. 

Zu  den  Festlichkeiten  des  Besenfestes  (ochpaniztli),  <lie  zu  Ehren 
der  Erdgr>ttin  Teteo  iunau  o^ler  Toci  gefeiert  wurden,  gehört  «las  Auf- 
treten Cinteotl  Itztlacoliuhqui's.  Zu  <lem  Zwecke  wurde  von  dem 
zu  Ehren    der  Göttin    geköpften  Opfer    (»in  Stück    «ler  Schenkelhaut    ent- 


Der  Charakter  der  aztekischen  und  der  Maja -Handschriften.  27 

nommen  und  daraus  die  Maske  itztlacoliuhqui  gearbeitet.  Die  Maske 
bestand  aus  einer  Kapuze  aus  Federarbeit,  welche  sich  nach  hinten  ver- 
längerte und  mit  einer  hahnenkanimartigen  Krone  en<lete,  —  die  Beschreibung 
entspricht  genau  der  Art,  wie  die  hornartig  gekrümmte  Mütze  Itztlacoliuhqui's 
im  Cod.  Telleriano-ltemensis  und  Vaticanus  A.  dargestellt  ist.  Mit  dieser 
Maske  ward  dann  Cinteotl,  der  Sohn  der  Teteoinnan,  bekleidet,  der  in 
dieser  Verkleidung  bei  den  weiteren  Festlichkeiten  eine  bedeutende  Rolle 
zu  spielen  hatte. 

Es  hat  zunächst  etwas  Befremdendes,  den  Namen  der  Maisgottheit 
(Cinteotl)  mit  dem  des  Gottes  der  Kälte  (Itztlacoliuhqui)  verbunden 
zu  sehen.  Nach  der  Auffassung  der  Mexikaner  gingen  sowohl  die  günstigen, 
wie  <lie  schädlichen,  in  einer  Sphäre  sich  geltend  machenden  Einflüsse  von 
derscdben,  in  dieser  Sphäre  herrschenden  Gottheit  aus.  Nach  dem  Cod. 
FiKMileal  sendet  Tlaloc  sowohl  das  gute  Wasser,  welches  die  Saaten  wachsen 
lässt,  wie  das  böse,  welches  die  Saaten  ersäuft,  das  kalte,  welches  die 
Felder  vereist,  und  den  Schnee,  der  die  aufkeimenden  Saaten  unter  seiner 
Decke  begräbt.  Der  Interpret  des  Cod.  Telleriano-Remensis  erklärt  die 
Fruchtbarkeit  und  Nahrung  spendende  Erdgöttin  Tonacacihuatl  als  „la  que 
causava  las  hambres",  die,  welqhe  die  Hungersnöthe  verursacht.  Und  nach 
DURAN  erhält  die  Göttin  der  Maisfrucht  den  Namen  Chicome  coatl 
„Sieben  Schlange**  wegen  des  Unheils,  das  sie  in  den  unfruchtbaren  Jahren 
anstiftet,  wenn  das  Korn  erfriert  und  Hungersnoth  eintritt 

14.  ocelotl^)  „Tiger**  oder  richtiger  „Jaguar  (Felis  onca)".  Es  wird 
entweder  das  ganze  Thier  gezeichnet,  durch  das  gelbe  oder  braune,  gefleckte 
Fell  und  die  mit  langen,  gekrümmten  Klauen  versehenen  Pranken  leicht 
kenntlich.  Seine  reissenden  Eig(»nschaften  sind  häufig  noch  durch,  in  der 
Peripherie  des  Thieres  angebrachte  Feuersteinmesser  besonders  gekenn- 
zeichnet. Oder  es  ist  nur  der  Kopf  gezeichnet  (Fig.  120,  121),  durch  die 
Rundung  und  die  Flecken  ebenfalls  leicht  kenntlich.  Endlich  wird,  wie 
beim  Hunde,  nur  das  Ohr  gezeichnet  (Fig.  122,  Cod.  Fejervary),  dessen 
Besonderheit  in  der  Breite  und  Rundung  und  in  der  schwarz  gefärbten 
Spitze  liegt. 

Die  kriegerischen  Eigenschaften  <les  Thieres  vererben  sich  auch  auf 
«lie  unter  diesem  Zeichen  (leborenen.  Sie  werden  tapfer  und  unerschrocken, 
aber  auch  gewaltthätig  und  lasterhaft,  insbesondere  in  erotischen  Dingen, 
und    nehmen,    wio  die  Krieger  überhaupt,    ein  unglückliches  Ende.     Auch 


1)  Ich  habe,  dorn  Gebrauch  der  spanischon  Historikor  gemäss,  dieses  Wort  in  der 
liege]  mit  .«Tiger*  übersetzt  Ich  glaubte,  nicht  so  penibel  sein  zu  dürfen,  weil  kein 
Mensch  in  Mexico  an  den  bengalischen  Tiger  denken  wird.  Der  Name  yaguar  oder 
jahuora  bedeutet  übrigens  in  der  Sprache,  aus  der  das  Wort  entnommen  ist^  jedes 
reissende,  fleischfressende  Thier,  Hund,  Katie  u.  s.  w.  und  wird  sogar  auf  Fische,  Vögel 
und  Insecten  angewendet.  Der  ocelotl  der  Mexikaner  heisst  im  <ruarani  yagnar-et^, 
.das  Achte  Raubthier*. 


28  E.  Seler: 

die  Frauen,  die  unter  diesem  Zeichen  geboren  sind,  worden  hochmüthig 
und  lasterhaft. 

Patron  dieses  Zeichens  ist,  nach  Angabe  der  Interpreten,  Tla^olteotl, 
auch  Ixcuina  und  Tlaelquani  genannt.  Der  Name  Tlavolteotl  heisst 
„Gottheit  der  Liebe";  die  Göttin  ist  aber  keineswegs  eine  Patronin  der 
Sinnenlust  und  der  Schamlosigkeit  („la  Venere  impudica  e  plebea",  wie 
BOTUßlNI  angiebt),  sondern  umgekehrt,  eine  Göttin  der  sittlichen  Gebunden- 
heit, Patronin  der  Ehe.  Vor  ihrem  Bilde  steinigte  man  die  Ehebrecherinnen. 
Und  diejenigen,  welche  sich  in  diesem  Punkte  vergangen  hatten,  waren 
genöthigt,  zu  ihren  Priestern  zu  gehen  und  dort  ihre  Sünde  zu  beichten. 
Aber  nach  mexikanischer  Auffassung  wurden  sie  durch  diese  Beichte  auch 
ihrer  Sünde  vollständig  quitt,  straflos  auch  der  weltlichen  Gewalt  gegenüber. 
Und  darum  heisst  die  Göttin  Tlaelquani,  die  „Dreckfresserin",  weil  sie 
den  Schmutz  der  Sünde  vollkommen  wegnimmt. 

Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dass  diese  Göttin  mit  der  Erdgöttin 
Teteoinnan  oder  Toci  identisch  ist.  Im  Cod.  Telleriano-llemensis  mid 
Vaticanus  A.  ist  sie  in  die  abgezogene  Haut  des  Opfers  gekleidet  dar- 
gestellt und  mit  weissen  Federn  besteckt,  ganz  wie  TORQUEMADA  u.  A. 
den  Putz  der  Erdgöttin  beschreiben.  In  dem  SAHAGUN-Manuscript  der 
Biblioteca  Laurentiana  zu  Florenz  ist  sie  mit  dem  Besen  in  der  Hand  ab- 
gebildet, dem  bekannten  Attribut  der  Teteoinnan.  Umgekehrt  ist  das 
Bild,  durch  welches  im  Cod.  Telleriano-Remensis  und  Vaticanus  A.  der 
achte  Monat  ochpaniztli  bezeichnet  wird  mid  w^elches  unzweifelhaft  die 
Erdgöttin  Teteoinnan  darstellt,  in  Ansehen,  Tracht  und  Ausstattung  in 
jeder  Beziehung  gleich  der  Göttin,  welche  von  den  Interpreten  als 
TlaQolteotl  bezeichnet  wird.  Und  wie  die  Teteoinnan  sich  als  huax- 
tekische  Göttin  dadurch  charakterisirt,  dass  bei  ihrem  Hauptfeste  (ochpaniztli) 
die  ihr  Gefolge  bildenden  Leute  als  Huaxteca  verkleidet  einher  gingen, 
wie  P.  DURAN  berichtet,  so  erzählt  auch  von  der  TlaQolteotl  der 
P.  SAHAGÜN,  dass  sie  hauptsächlich  von  den  Mixteca  und  Olmeca  — 
d.  h.  nach  seiner  Nomenclatur,  von  den  Bewohnern  der  atlantischen  (lolf- 
küste  —  und  von  den  Cuexteca  (d.  i.  Huaxteca)  verehrt  worden  sei, 
während  im  Westen,  in  Michoacan,  ihr  Cultus  ganz  unbekannt  gc^blieben  8(m. 

Die  fragliche  Göttni  Teteoinnan-ThiQolteotl  finden  wir  in  unseni 
Codices  mit  den  beiden,  über  der  Stirn  wie  Homer  aufrecht  stellenden 
Flechten  —  der  bekannten  altmexikanischen  Weiberfrisur  —  abgebildet,  «las 
Haar  ausserdem  durch  ein  rund  um  den  Kopf  laufendes  weisses,  gefloch- 
tenes Band  zusammen  gehalten,  in  welchem  (»in  paar  Spindeln  stt^cken. 
Ein  älinliches  Band  hängt  aus  dem  durchlöcherten  Ohrlappen  heraus.  Der 
untere  Theil  des  (Jesichts  ist  mit  einer  dicken  Lage  schwarzen  Kautschuks 
bedeckt  und  in  der  Nase  trägt  sie  denselben  eigenthflmlich  gekrümmten 
Ring,  <len  wir  schon  bei  Pantecatl  gesehen  haben.  Es  scheint  sich  hierin 
die  landsmannschaftliche  ViTwandtschaft  der  beiden  (lottheiten  zu  erkennen 


Dor  Charakter  der  astekischen  ond  der  Maya- Handschriften.  29 

zu  fi^oboii.  Vjifl.  Fi«j:.  147.  Das  (ic^wniul  ist  lebhaft  colorirt,  moist  doppol- 
farbij;,  uihI  mit  «i^oasoii,  ^olbon  (^oldonen),  halbnioii<lfÖrmigeii  Vorzioninj^en 
versehtMi.  (I)io  Huaxtooa  waren  berühmt  als  Verfertiger  der  ceiitzon- 
tilmatli  oder  centzoii  quachtli,  der  buuteiu  vielfarbigen  Mäntel  und 
Decken.) 

Der  (löttin  gegenüber  sieht  man  (Cod.  Borgia  27  und  an  den  (Mit- 
sprechenden SteUen  de«  Cod.  Vat.  B.)  einen  Tempel,  in  dessen  offener 
Thür  eine  Kuh»  steht,  —  wie  es  seheint,  das  dunkle  Haus  der  Erde  be- 
zeichnend. Im  Cod.  Borgia  47  und  entsprechend  im  Cod.  Vat.  B.  36  ist  ihr 
geg(»iulber  die  F(»u(»rschlange  und  ein  ähnlicher  Temjxd,  in  dessen  offener 
Thür  ein  Raubvogel  steht,  d(T  aber  mehr  an  den  cozcaquauhtli  der  Hand- 
schriften erinnert.  Im  Cod.  Telleriano  Remensis  und  Vatieanus  A.  endlich 
steht  ihr  gegenüber  eine,  in  das  dunkle  (refieder  eines  Nachtvogels  ge- 
kleidete menschliche  Gestalt,  —  von  den  Interpreten  als  Abbild  Tez- 
callipoca's  erklärt.  Anden^'ärts  (Cod.  Borgia  60)  erscheint  auch  neben 
der  Göttin  das  Bild  der  Nacht  (Fig.  150),  dargestellt  durch  das  mit  Stornen- 
augen  besetzte  Dunktd  und  das  Bild  des  Kaninch(»ns  in  wässerig  blauem 
Fehle,  —  das  Sinnbild  des  Mondes. 

15.  qaaahtli.  der  „Adler".  Das  Thier  ist  theils  in  ganzer  Figur 
(Fig.  125),  theils  nur  als  Kopf  gezeichnet  (Fig.  123,  124),  meist  sehr  natur- 
getreu untl  leicht  kenntlich,  das  Gefieder  weiss  mit  schwarzen  Spitzen  oder 
schwärzlich.  Die»  räuberische  Natur,  wie  bei  dem  Thier  des  vorigen 
Zeichens,  wiederum  durch  Feuersteinmesser  bezeichnet  (Fig.  125),  welche 
an  den  Enden  der  Nackenfedeni  oder  in  der  Peripherie  des  Köq)er8  an- 
gebracht sind. 

Das  Zeichen  theilt  in  jiMler  Beziehung  die  kriegerischen  Qualitäten 
des  vorigen,  sowohl  in  Beziehung  der  Männer,  wie  der  Weiber,  nur  dass 
(nach  DrRAK)  der  Adler  noch  einen  besondeni  Hang  zu  Raub  und  Dieb- 
stahl ertheilt. 

Der  Patron  «lieses  Zeichens  ist  der  Gott  Xipe  „der  Geschundene**, 
auch  Totec,  „unser  Herr"  (s(»nor  terrible  y  espantoso),  und  Tlatlauhqui- 
tezcatl,  „<ler  rothe  Spiegel",  genannt,  —  der  Repräsentant  des  Krieges,  dem 
im  zweiten  Monat  das  Fest  tlacaxipehualiztli.  „Menschenschinden",  ge- 
feiert ward,  bei  welchem  <ler  Gott  repräsentirt  ward  durch,  in  die  abge- 
zogene Haut  der  Opfer  gekleidete  jung(»  Leute. 

An  <len  hier  angezogenen  Stellen  der  Handschriften  ist  der  Gott  nicht 
überall  in  tjr])ischer  Gestalt  zu  sehen.  Nur  im  Cod.  Borgia  48  und  ent- 
sprechend im  Cod.  Vat.  B.  35  (Fig.  151)  und  5  sieht  man  das,  mit 
der  gelben  abgeschundenen  Menschenhaut  überzogene  (Jesicht,  das  nur  den 
Augenschlitz  erkennen  lässt,  den  brandrothen  Streifen  über  die  ganze 
Länge  der  Backe  und  den  eigenthümlichen  Nasenjiflock,  der  die  spitze, 
mit  flattemdcMi  Bändern  umwickelte  tzapotekische  Mütze  des  Gottes  imitirt. 
An  denselben  Stellen  ist  vor  dem  Gott  auch  sein  Stab  (Fig.  152),  das  von 


30  E-  Seler: 

flatternden  weissen,  roth  gestreiften  oder  roth  punktirten  Bändern  um- 
wickelte tlachieloui  („Lorgnette").  —  Im  Cod.  Borgia  28  dagegen  und  ent- 
sprechend im  Cod.  Vat.  B.  78  sieht  man  einen,  in  der  Weise  Tezcatlipoca's, 
nur  roth  und  gelb,  also  als  Tlatlauhqui  Tezcatlipoca  bemalten  Gott^ 
der  eine  Todtenhand  vor  der  Nase  hält.  Aber  den  Kopf  bedeckt  eine 
rothe,  mit  weissen  Federbällen  besteckte  Kapuze  (Fig.  153),  ganz  ähnlich 
der  Schulterdecke,  welche  der  Gott  in  den  vorher  angeführten  Stellen  trägt. 

—  Im  Cod.  Telleriano  Remensis  und  Vaticanus  A  endlich  ist  ein  Gott,  in 
der  Haltung  des  Sonnengottes,  gemalt,  WaflPen  in  der  einen,  eine  Wachtel 
in  der  andeni  Hand  haltend.  Doch  zeigen  auch  hier  die  herabhängenden 
Hände  der  abgeschundenen  Menschenhaut  und  das  in  dachziegelförmig  sich 
deckende  grüne  Federn  auslaufende,  hemde-  oder  kittelartige  Gewand  den 
Gott  Xipe  und  den  tzapotekischen  Gott  an. 

An  allen  Stellen  aber  ist,  als  Symbol  und  Characteristicum  des  Gottes, 
ihm  gegenüber  die  culebra  QuetzalcoatI  gemalt,  die  grüne  Federschlange, 

—  im  Cod.  Borgia  29  und  entsprechend  im  Cod.  Vat.  B.  5  u.  78,  ein 
Kaninchen,  au  den  anderen  Stellen  einen  Menschen  verschlingend,  —  dar- 
gestellt. 

16.  cozcaqaaahtli  heisst:  „Halsbandadler".  In  MOLINA's  Wörterbuch 
wird  als  Bedeutung  des  Wortes  angegeben  „aguila  de  cabeza  bermeja", 
„der  Adler  mit  dem  rothen  Kopf",  und  gemeint  ist  der  Königsgeier, 
Sarcoramphus  papa  Dum.,  von  den  Spaniern  „rey  de  zopilotes"  genannt.  — 
Von  dem  Thiere  ist  stets  nur  der  Kopf  gezeichnet.  Der  Schnabel  ist  weiss 
(beim  Adler  gelb!),  und  über  dem  Auge  ist  die  unbefiederte,  rothe  Kopf- 
haut kenntlich.  Regelmässig  ist  Ohr  mit  Ohrgehänge  gezeichnet  (Fig.  127 
Cod.  Borgia).  Mitunter  ist  ihm  auch  eine  Art  Haarperrücke  (Fig.  128  Cod. 
Land)  oder  ein  schleifenartiger  Kopfputz  (Fig.  126  Cod.  Telleriano  Remensis) 
gegeben. 

Der  Geier  hat  einen  kahlen  Kopf,  daher  wird  er  zum  Sinnbild  des 
Alters,  des  langen  Lebens,  der  Schwächen  und  Vorzüge  des  Alters.  Denen, 
die  unter  seinem  Zeichen  geboren  wurden,  sagte  man  nach,  dass  sie  ein 
hohes  Alter  erreichen,  und  dass  sie  sich  wie  alte  Leute  gebahren,  gern 
Rath  ertheilen,  Zuhörer  und  Schüler  um  sich  versammeln  würden,  u.  s.  w. 

Der  Patron  dieses  Zeichens  ist  ein,  mit  Tigerkrallen  und  Schmetterlings- 
flügehi  versehener  Dämon,  den  die  Interpreten  Itzpapalotl,  „Obsidian- 
schmetterling",  nennen.  Die  Interpreten,  die  überall  einen  Sündenfall 
witteni,  geben  an,  dass  Xomunco  oder  Xounco,  die  erste  geschaflPene 
Frau,  nacli  ihrem  Fall  in  diesen  Dämon  verwandelt  worden  sei.  In  allen 
Codices  ist  diesem  Dämon  gegenüber  ein  umgebrochener  Baum  gezeichnet, 
aus  dessen  offener  Wunde  Blut  fliesst.  Die  Inteq)reten  sagen,  dass  dies 
der  Baum  des  Paradieses  sei,  und  nennen  ihn  deshalb  Tamoauchan  — 
„wir  suchen  unsere  Heimath",  das  irdische  Paradies,  nach  SaHAGÜN,  das 
zu   suchen    die   wandernden  Stänmie  sich  aufmachten,  —  oder  Xochitli- 


Der  Charakter  der  sitekiHchen  und  der  Hkfa-HuittBchrifUii. 


31 


cacan.   „den  Ort,    wo  man  Bluimin  pflilckt".     Der  ganze  Mythus,  auf  eleu 
<Iio  lnt<>r|)r('ti'ii  aiiRpioh-ii,  ist  aus  aiiiloni  Quellvii  nicht  bekannt. 

17.  oUln  erklärt  ÜUfiAN  als  „eosit  quu  xu  uiiila  ö  ev  inonca"  und 
eafjt  (tiisrt  ilas  Zeichen  auf  diu  Homic  ainjewondi't  würde.  Wir  haben  in 
der  That  das  Zeitwort  olini,  ooliii  oder  olinia,  oninolini  „menoerse  6 
moverse",  dtis  aber  da»  obif^o  Wort  als  (Jruiidwort  voraussetzt.  Dagegen 
finden  wir  nlli.  utÜ  „Kautsidinek"  und  otlin,  oliu  „der  Kautschukball", 
mit  wekliem  das  nationale  Bpiel  tlachtli  gespielt  ward.  Es  ist  l)ekannt, 
dass  der  Lauf  der  Sonne  ain  Firmament  nntor  dem  Bilde  des  Ballspiels 
angi-Miliaut  wurde.  Die  beiden  Antn^^onisten,  Quetzalcoatl  und  Tez- 
catli]>ocn.  die  den  üe(;unsatz  von  Sommer  und  ^Vinter,  von  Tag  und 
NiU'lit  zu  rcpriUentiren  scheinen,  spielen  (nach  HbNDIETA  II  c.  5  p.  82)  Hall 
mit  einander.  Die  beiden  Lichtheroen  der  Qu'iche ,  H una li p u  und 
Xbalanque,  die  an  einer  Stelle  des  Popol  Yuh  als  „Sonne"  und  „Mouil" 
erklärt  werden,   sind  die  berühmten  Ballspieler,  von  deren  Spiel  die  Erde 


erdröhnt,  die  auf  die  Hcraustordemng  der  Fürsten  der  Unterwelt  in  das 
Reich  des  Todes,  Xibalba.  hinabsteigen  und  nach  Ueberwindung  der  unter- 
weltlichen  Mächte  siegreich  wieder  zum  Erdboden  emporsteigen.  Im  Cod. 
Borgia  finden  wir  auf  Tafel  4  der  KlNGSBOBOUGHschen  Zählung  die 
bekannte  Figur  des  Ballspielplatzes,  tlachco  (Fig.  154),  von  Stemenangen 
umsäumt,  darflber  liegend  ein  cipnctli,  aus  dessen  aufgesperrtem  Rachen 
das  tiesirht  des  Himmelsgottes  Tonacatecntli  hervorschaut.  Auf  dem 
Platze  selbst  spielen  zw<,'i  schwarze  Gottheiten  Ball.  Der  Ball  des  einen 
(Fig.  155)  ist  dunkel  (blau)  gefärbt  und  hat  das  Anaehen  eines  Todten- 
schädcls;  der  andere  (Fig.  156)  stellt  eine  gelbe  Stndilenscheibe  mit  einem 
Auge  in  der  Mitte  dar.  Dass  diese  beiden  Bälle  die  am  Himmel  auf- 
ziehenden Tagen-  und  Nachtgestime,  Sonne  und  Mond,  symbolisire»,  er- 
scheint mir  zweifellos. 

Die  bildliche  Darstellung  des  Tageszeichens  ollin  zeigt  zwei  verschieden 
gefärbte  Felder,  das  eine  in  itcr  Rc^gel  blau,  das  andere  rotli.  welche  eine 
mittlere  Rundung  uml  zwei  nchräg  verlaufende  Enden  haben  un<l  entweder 
hart  aneinander  liegen,  nur  durch  eine  gelbe  Linie  getrennt  (Fig.  129)  oder 
an  den  Kuden  divergiren  (Fig.  130).  Dazu  kommt  in  den  Darsttdlungen 
des  Cod.  Telleriauo   Remensis  und   Vaticanus  A-,   sowie  auf  Sculpturen 


32  E.  Sbler: 

eiuo  Art  von  Pfeil,  der  eine  Mittellinie  zwisclien  den  bei<len  divergirenden 
Feldern  herstellt  (Fig.  131).  Der  kleine  Kreis,  in  welchem  die  beiden 
divergirenden  Felder  sieh  berühren,  erscheint  in  diesen  mehr  ausgeführten 
Darstellungen  als  Auge.  In  den  runden  Ausbuchtungen  der  Felder  sieht, 
man  hier  und  da  (z.  B.  Cod.  Mendoza  42,  22  s.  v.  Olinalan)  einen  kleinen 
Kreis  niarkirt.  Das  grosse  Bild  des  Zeicht^ns  ollin  endlich,  welches  das 
Centrum  der  Oberfläche  des  sogenannten  Kalendersteins,  des  grossen,  unter 
König  Axayacatl  angefertigten  Sonnensteins,  einnimmt,  zeigt  in  der  Mitte, 
statt  eines  Auges,  das  Gesicht  des  Sonn(»ngottes  und  in  den  runden  Aus- 
buchtungen die  krallenbewaffuete  Pranke  eines  Tigers.  Als  besondere 
Variante  erwähne  ich  noch  Fig.  132  (Cod.  Borgia  29),  wo,  statt  der  in  <ler 
Mitte  sich  berührenden  divergirenden  Felder,  zwei  bogenförmig  gekrümmte, 
übrigens  ebenfalls  verschieden  (l)lau  und  roth)  gefärbte  Stücke  sich  ver- 
schlingen. 

Man  hat  neuerdings  (Anales  Mus.  Nac.  Mexico  TI)  versucht,  diesem 
Zeichen  eine  bestimmte  astronomische  Bedeutung  beizulegen,  und  es  als 
die  graphische  Repräsentation  des  scheinbaren  Ijaufes  der  Sonne,  wie  er 
im  Verlaufe  eines  Jahres  sich  darstelle,  erklärt.  Nach  dieser  Auffassung 
würde  der  Pfeil,  der  auf  einigen  Darstellungen  des  Zeichens  ollin  zu  sehen 
ist,  die  Richtung  von  Osten  nach  Westen,  und  die  Linien  der  auseinander 
gehenden  Felder  die  Richtungen  bc^zeichnen,  (Wo  vom  Standpunkte  des 
Beobachters  aus  nach  dem  äusserstcMi  nördlichen  und  äussersten  südlichen 
Punkt  des  Sonnenaufgangs,  bezw.  Sonnenuntergangs,  gehen.  —  Mir  scheinen 
die  beiden  verschieden  gefärbten  Fcdder  nur  die»  helle  und  die  dunkle 
Wölbung,  den  Taghimmel  und  den  Nachthimmel,  zu  bedeuten,  an  welchem 
das  Tages-  un<l  das  Nachtgestirn  entlang  rollen,  wie  der  Kautschukball 
über  den  Ballplatz  fliegt.  Ich  v<»rgl(Mche  so  das  Tageszeichen  oll  in  dem 
Felder]>aar,  das  in  den  Maya-llandschriften  von  <len  viereckigen  Himmels- 
schildern herabhängt  und  auf  seiner  Fläche»  das  Bild  der  Sonne  oder  des 
Tag(»s  un<l  des  Mondes  oder  der  Nacht  trägt.     Vergl.  Fig.  157  u.  158. 

Das  Zeichen  ist  seiner  astrologischem  Bedeutung  nach  zweiftdhaft.  Die 
unter  ihm  Geborenen  werden,  nach  SAHAGUN.  bei  guter  Erziehung  glücklich, 
bei  schlechter  unglücklich.  Nach  DURAN  verheisst  es  den  MänncTU  Glück, 
es  werden  Sonnenkinder,  glänzend  wie  die»  Sonne,  glücklich  und  mächtig, 
denn  <lie  Sonne  ist  die  Königin  unt(T  den  (n^stinien,  die  unter  diesem 
Z(»ich(»n  geborenen  WeibcT  (higegen  wenlen  zwar  reich  und  mächtig, 
bleiben  aber  dumm. 

Als  Patron  «lieses  Zeichens  ist  im  Cod.  Borgia  29  ein  Gott  gezeichnet, 
mit  verkrümmten  Händen  und  Füssen  und  herausgerissenem  Auge.  Da- 
rüber sieden  in  (»inem  Topfe  Kopf  und  Gliedmaassen  ein(»s  Menschen.  In 
den  entsprechenden  Stellen  (Blatt  4  und  Blatt  77)  des  Vaticanus  B.  ist, 
statt  des  obigen  Gottes,  ein  Thier,  wie  ein  Coyote,  gefleckt,  mit  sich 
sträubendem  Haar  und  heraushängender  Zunge,  gezeichnet.     Darüber  aber 


I. 

Der  Charakter  der  aztekischea  und  der  Maya- 

Handschriften. 

Vorgetragen  in  der  Sitzung  vom  16.  Juli  1887  der  Berliner  (icsellscliaft  für  Anthropologie, 

Ethnologie  nnd  Urgeschichte 

von 

Dr.  K  SELER 

in  Berlin. 
(Schluss.) 


Ich  fijehe  nun  zu  den  XanuMi  über,  mit  welchen  von  den  Völkern  des 
llaya-Sprachstiunnies  die  20  Tage  bezeichnet  wurden,  und  zwar  führe  ich 
die  Namen  an,  welche  (nach  NUNEZ  DE  LA  VEGA)  im  (lebiet  des  Bisthums 
Chiapa«,  d.  h.  unter  Zotzil  un<l  Tzental  im  (Jebrauch  waren,  fenier  die, 
womit  Qu'iche  und  Cakchiquel,  und  en<llich  die,  mit  welchen  die  Maya  von 
Vucatan  die  Taj^e  bezeichneten.  Ich  hebe  gleich  hervor,  da»»  einzelne 
dieser  Namen,  ihrer  Bedeutung  nach,  genau  mit  einzelnen  mexikanischen 
üben»instinnn(»n,  dass  diesen  Namen  auch  in  der  Liste  dieselbe  Stellung 
(dieselbe  Nummer),  wie  den  entsprechenden  mexikanischen  zuk(»mmt. 
endlich,  dass  dasjenige  Zeichen  (mox,  imox),  welches  darnach  in  seiner 
Stellung  dem  Zeichen  cipactii.  «lem  Anfangszeichen  der  mexikanischen 
Liste  <Mits]>rechen  würde,  auch  in  der  Tzental-  und  in  der  Cakchiiiuel- 
Liste  djis  Anfangszeichen  bihlet.  Die  Maya-Aufzahlungen  beginnen  freilich 
nicht  mit  diesem,  sondern  mit  dem  folgenden  vierten  der  Liste  (kau). 
So  w(»nigstens  «lie  im  LaNDA  und  in  den  anderen  Autoren  gegebenen  Auf- 
zahlungen. Ich  fin«le  intles  im  Cod.  Tro  36  und  im  Cod.  Cortez  22  —  das 
letztere  Blatt  bildet  die  genaue  Fortsetzung  und  Ergänzung  des  ersteren 
—  die  Tageszeichen  von  imix  an  bis  zum  folgenden  dreizehnten  auf- 
geführt mul  darunter,  zum  deutlichen  Zeichen,  dass  die  Reihe  mit  imix 
beginn<»n  soll,  die  Zahlen  von  l — 13  hingeschrieben.  Aehnlich  beginnt  im 
Cod.  Cortez  13  — 18  die  Reihe  der  52  uacli  dem  Schema  kan-muluc-ix- 
cauac  zusammengestellti'u  Tetraden  von  Tageszeichen  mit  dem  Zeichen 
imix,  bezw.  der  Tetradt»  innx-chicchan-chuen-cib.  LaNDA  selbst 
sagt  an  einer  anderen  Stelle  (§  39),  «hiss  die  Maya  ihre  TageszÄhlung  oder 
ihren    Kalender    mit    dem    Zeichen   liun  imix  (d.  h.  eins  imix)  beginnen. 

aStitacbrift  für  RtbnoloKlc.    Jabrr.'lBU.  4 


42 


E.  Seler: 


Das«  also  imix  =  imox  ==  cipactli  auch  hier  das  eigentliche  Anfangs- 
zeichen der  Reihe  ist,  unterliegt  mir  keinem  Zweifel.  Der  Grund,  dass 
abweichend  bei  den  aztekischen  Völkerschaften  hier  und  da  die  Zählung 
mit  acatl,  bei  den  Maya  abweichend  mit  kan  begann,  liegt  daran,  dass 
sowohl  acatl,  wie  kan,  zu  den  vier  Hauptzeichen  gehören,  mit  denen  die 
aufeinanderfolgenden  Jahre  bezeichnet  werden,  und  zwar  bezeichnen  beide 
Zeichen  diejenigen  Jahre,  welche  dem  Osten,  der  Region  der  aufgehenden 
Sonne,  der  Region  des  Anfangs,  zugeschrieben  wurden. 

Ich  lasse  nun  die  Namen  der  Tageszeichen,  mit  imox-imix=  cipactli 
beginnend,  folgen. 

(Cakchiquel) 
imox 


(Tzental) 
1.  mox  (imox) 


2.  igh 

3.  votan 

4.  ghanan 

5.  abagh 

6.  tox 

7.  moxic 

8.  lambat 

9.  molo  (nmlu) 

10.  elab 

11.  batz 

12.  euob 

13.  been 

14.  hix 

15.  tziquin 

16.  chabin 

17.  chic 

18.  chinax 

19.  cabogh 

20.  aghual 


i^k 

a'  kbal 

kat 

can 

camey 

quell 

kanel 

toh 

tzii 

batz 

ee 

ah 

viz 

tziquin 

ahniac 

noh 

tihax 

caok 


(Maya) 
imix 
ik 

akbal 
kan 

chicchan 
cimi  (cimiy) 
manik 
lamat 
muluc 
oc 

chuen 
eb 
ben 

ix  (hiix) 
men 
cib 
caban 

ezanab  (esuab) 
cauac 
ahau 


hunahpu 

Die  Analyse  dieser  Namen  und  die  Deutung  der  Zeichen,  welche 
diese  Namen  tragen,  ist  unghMch  schwieriger,  als  die  der  entsprechenden 
m(»xikaniscli(»n.  Die  Namen  sind  aus  der  gegenwärtig  gesprochenen  oder 
uns  bekannten  Spracht»  nur  zum  kleinsten  Theil  erklärbar.  Sie  l)ildeten 
ohne  Zweifel  wohl  den  iJestandtheil  einer  priesterlichen  CJeheimsprache, 
welche  alte  Wortformen,  symbolische  Ausdrücke  oder  vielleicht  auch  die 
Formen  verwandter  Dialekte  verwendete.  Die  Zeichen  sind  uns  leider 
nur  aus  den  Maya-Scliriften  bekannt.  Kei  den  andern  Stämmen  haben 
bildliche  l)arst(»llungen  derselben  sicher  auch  existirt;  man  hat  aber  ver- 
säumt, zur  rechten  Zeit  davon  Notiz  zu  nehmen.  Die  Zeichen  in  den 
Maya-Schriften  selbst  sind,  wie  die  Maya-Hieroglyphen  überhaupt,  ab- 
br(»viirte    -  durch  die  Gewohnheit,  auch  complizirte  Zeichen  in  denselben 


Der  Charakter  der  aztekischen  und  der  Majra- Handschriften.  43 

Raum  zu  bringou,  uud  durch  den  hingen  Gebrauch  —  sUirk  veränderte, 
current  niul  abge<j;riffen  gewordene  Bihler,  deren  ursprünglichen  Sinn  zu 
entrilthsehi,  vielfach  fast  unmöglich  scheint.  Immerhin  scheint  au8  einer 
genaueren  Analyse  von  Wort  und  Zeichen  doch  hervorzugehn,  das«  die 
Uebereinstimnunig  der  Maya-Listen  mit  der  mexikanischen,  die  an  einzelnen 
Stellen  handgreiflich  ist,  für  sümmtliche  Zeichen  der  Liste  giltig  anzu- 
nehmen ist. 

1.  mox  (imox),  imox,  imix.  Das  Cakchiquel-Wort  imex  über- 
setzt der  (iraimmatiker  XlMENEZ  mit  ^Schwertfisch",  also  entsprechend 
der  üblichen  Erklärung  des  mexikanischen  cipactli.  Ich  vennuthe,  dass 
diese  Uebersetzung  nur  der  Ausdruck  der  Parallelisirung  mit  dem 
mexikanischen  cipactli  ist.  —  PEREZ  vermuthet,  dass  imix  durch 
Umstellung  aus  ix  im  „Mais"  entstanden  sei.  Doch  widerspricht  dem 
die  Cakchi(pn»l-Form  imex  direct;  denn  auch  im  Qu'iche  und  Cakchiquel 
heisst  ix  im  der  „Mais".  Ohne  Zweifel  liegt  eine  Wurzel  „im"  zu 
Grunde,  von  der  das  im  Maya,  wie  im  Qu'iche  und  Cakchiquel  gebräuch- 
liche Wort  im  „die  weibliche  Brust"  abgeleitet  ist,  und  mit  der 
auch  Maya  in-ah  „Same",  ilm-ah  uinicil  „semen  virile",  Qu'iche  in 
„sich  vermehren"  zusammenzuhängen  scheint. 

NUNEZ  DE  LA  VEGA,  der  in  den  Canan-Ium,  den  „Hütern  des  Dorfs" 
und  in  d<»n  „I.owen  des  Dorfes",  die  auch  Cham  genannt  würden,  die 
Erinnerung  an  Ilam,  den  Vater  der  Schwarzen  sieht,  identifizirt  imex  mit 
Ninus,  dem  Sohne  BeFs,  dem  Enkel  Nimrod's,  dem  Urenkel  Chus's,  dem 
Urenkel  Ham's.  Im  U(d)rigen,  sjigt  er,  hinge  die  Verehrung  des  Imox 
zusanmien  mit  der  Ceiba  (d.  i.  Bombax  Ceiba),  „eines  Baumes,  der  auf 
dem  Ilauptplatz  ihrer  Dorfer  gegenüber  <lem  (u»meindehaus  anzutreffen  ist, 
un<l  unter  dem  sie  die  Wahl  ihrer  Gemeindevorsteher  vornehmen;  imd  sie 
bcTäuchern  ihn  mit  Käucherpfannen  und  halten  für  gewiss,  dass  ihre 
Ahnen  in  den  Wurzeln  joner  C(»iba  ihren  Wohnsitz  haben." 

Die  Ceiba  ist  der  yax-ch<'»  der  Mayji,  der  „grüne  Baum"  —  oder 
auch  <ler  „erste  Baum",  d(»r  „Baum  des  Ursi)rungs",  —  auch  nach  yuka- 
tekischer  Anschauung  der  Ort,  unter  dessen  Schatten  die  Gestorbenen  von 
den  Mühen  des  irdischen  DascMUs  ausruhen  (Laiula  §  23).  Er  ist  insofern 
eine  Parallele  des  mexikanischen  Tlalocan,  der  Sitz  der  Fruchtbarkeit, 
und  ohne  Zweifcd  ein  Symbol  der  Erde,  die  aus  ihrem  Schoosse  alles  ge- 
bit»rt  und  alles  Lebendig!»  wi«MbT  in  ihren  Schooss  aufnimmt.  —  Die 
Grundbedeutung  uns(Tes  Zeichens  scheint  demnach  in  der  That  dieselbe 
zu  sein,  wie  die  des  mexikanischen  cipactli. 

Schwieriger  ist  (»s,  über  das  Bihl  ins  Reine  zu  kommen.  Das 
Zeichen  wird  in  den  Handschriften  und  im  LaNDA  in  ziemlich  gleicher 
Weise  geschrieben  (Fig.  161).  Aehnlich  auch  auf  der  rechten  Seite 
(VI,  5)  der  Altarplatt(»  des  ersten  Tempels  des  Kreuzes  in  Palen(|ue 
(Fig.  162),    auf   dem    von  CHARNAY  publicirten  Kelief  (So,  25,  IL  3)  aus 

4» 


44  E:.  Skler: 

Lorillard  City  (Fig.  163)  und  als  hieroglyphiücheH  Element  in  dem  eben- 
daher stammenden  Relief  Nr.  23  der  CHABNAY'scIien  Sammlung.  Der  dunkle 
von  Punkten  umgebene  Fleck  erinnert  entäcliieden  an  die  Art,  wie  in  den 
Handschriften  die  Brustwarze  gezeichnet  ist  (Fig.  164;  Cod.  Dresden  18c). 
Und  man  wird  um  so  eher  verleitet,  daran  zu  denken,  als,  wie  oben  an- 
geführt, das  Wort  „im"  die  „weibliche  Brust"  bedeutet.  Doch  kommt,  wie 
es  scheint,  in  zusammengesetzten  Hieroglyphen  als  Variante  des  Zeichens 
imix  die  Fig.  165  vor,  die  in  der  That  nicht  sehr  für  die  eben  gegebene 


1b  k  liZ.j \^i. 


SS)  ©G§ 


Krkläning  spricht,  liier  ist  freilieh  dami  nicht  ausser  Acht  zu  hissen, 
dass  die  Fig.  165,  so  ahMliili  sie  dem  Zeichen  iniix  ist,  doch  nur  eine 
ideographische  Variante,  ein  Vertreter  desselbeu,  sein  könnte.  Die  Formen 
der  BQcher  des  Cliilan  Balam  (Fig.  166—160)  scheinen '  sich  ans  der 
gewöhnlichen  Form  der  If  and  Schriften  eutwiekclt  zu  haben. 

Das  Zeichen  iniix  erscheint  in  der  Hieroglyphe  der  Fig.  30  als  aus- 
zeichnendes Merkmal  vor  dem  Kopf  eines  schwarzen  (iottes  (Fig.  170, 
Cod.  Dresden  Uc;  Fig.  171,  172,  Cod.  Tro  34'a,  33*a),  den  ich  mit  dem 
Ekchnah  LäNDA's  identifizire,  weil  ich  ihn  im  Cod.  Tro  mit  einem 
Skorpionschwanz    versehen    finde    (ekchuh    heisst    im    Maya   der   grosse 


Der  Charakter  der  aztekischen  und  der  Maya- Handschriften.  45 

Skorpion),  und  der  in  einer  gewissen  Beziehung  zu  einem  zweiten  schwarzen 
(iotte  zu  stehen  scheint  (Fig.  174,  Dresden  16  b;  Fig.  175,  Tro  32 *a),  dessen 
Hieroglj-phe  aber,  statt  eines  schwarzen  Gesichtes,  nur  das  grosse,  schwarz 
uuirftnderte  Auge  (Fig.  173)  zeigt,  Ekchuah  ist  nach  LANDA  der  Gott 
der  Caoaopflanzer,  dem,  nebst  den  Göttern  Chac  und  Hobnil,  im  Monat 
Muan  von  den  Cacaoj>flanzeni  ein  wie  eine  reife  Cacaoschote  gefleckter 
Hund  geopfert  wurde.  Kr  ist  aber  auch  der  Gott  der  Kaufleute  —  der 
„Kaufmann"  wird  er  von  dem  Priester  HeRNANDEZ  genannt  (Las  Casas. 
Hist.  apolog.  c.  123),  der  den  Namen  allerdings  Echuac  schreibt,  —  und 
auch  LaNDA  berichtet,  dass  der  Ciott  von  den  Reisenden  angefleht  würde, 
dass  er  sie  mit  reichem  Gut  heimkehren  lasse.  Es  sind  dies  keine  in- 
oongruenten  Züge,  denn  der  Kaufmann  ist  von  Natur  Reisender,  und 
Cacao  bildet  das  Haupthandelsobject.  HERNANDEZ  führt  aber  noch  einen 
dritten  Zug  an.  Kr  vergleicht  den  Gott  Echuac  der  dritten  Person  der 
göttlichen  Trinitfit,  dem  heiligen  Geiste  —  Ipona  (d.  i.  Itzamna)  sei 
Gott  der  Vater  und  Bacab  Gott  der  Sohn  —  und  sagt,  dass  Echuac 
(Ekchuah)  die  Erde  anfülle  mit  allem,  was  sie  nöthig  hätte.  Demnach 
scheint  Ekchuah  der  befruchtende  Gott,  der  Gott  des  Reichthums  und 
«les  Reichwerdens,  uml  als  solcher  der  Gott  der  Kaufleute  und  Cacao- 
pflanzer  zu  sein.  Einem  solchen  Gotte  würde  das  Zeichen  imix  —  das 
Zeichen  <ler  Fruchtbarkeit  und  des  Gedeihens  —  wohl  anstehen.  Und 
dieser  Umstand  bestärkt  mich  in  der  Vemmthung,  dass  die  Hieroglyphe 
Fig.  30  und  der  durch  sie  bezeichnete  Gott  Fig.  170  in  der  That  auf 
Ekchuah  zu  beziehen  sei.  Die  Gegenstande,  welche  die  Figuren  170 
und  172  auf  dem  Kopfe  tragen,  möchte  ich  als  die  gefleckte  Cacaoschote 
erklären.  Und  wenn  sich  diesen  das  Zeichen  kan  zugesellt,  so  ist  das 
kein  incongruenter  Zug,  denn,  wie  wir  sehen  werden,  ist  das  letztere 
Symbol  des  Ueberflusses.  Den  Gott  Fig.  174,  175,  der  durch  die  Hiero- 
glyplie  Fig.  173  bezeichnet  wird,  möchte  ich  für  denselben  Gott  halten, 
aber  in  anderer  Auffiissung,  als  Gott  der  Reisenden;  und  das  Strohseil, 
das  er  um  den  Kopf  trägt,  als  den  eargador,  an  welchem  die  auf  dem 
Rücken  getragenen  Last(»n  über  der  Stirn  befestigt  wurden. 

In  ganz  gleicher  Weise,  wie  bei  der  Hieroglyphe  Fig.  30,  finden  wir 
das  Zeichen  imix  auch  als  auszeichnendes  Merkmal  an  der  Hieroglyphe 
eines  Vogels,  der  als  VcTtreter,  Genosse  oder  Symbol  des  Regengottes 
Chac  auftritt.  Vergl.  Fig.  176  (Dresden  35c)  und  177  —  178  (Dresden  38b). 
Auch  hier  scheint  durch  das  Zeichen  imix  die  Idee  der  Fruchtbarkeit, 
des  Gedeihens  übermittelt  wenlen  zu  sollen. 

In  einer  Anzahl  ITu^roglyphen  tritt  das  Zeichen  imix  äquivalent  einem 
eigenthümlichen  Tln(»rkopf  auf,  der  als  auszeichnendes  Merkmal  das  Ele- 
ment akbal  über  dem  Auge  trägt.  So  in  den  Hieroglj'phen  Fig.  179  —  182 
(Dresden  29— 30b),  Fig.  183—184  (Tro  14c)  und  Fig.  185  —  186  (Tro  IIa), 
welche,  hinter  den  Hieroglyphen  der  Himmelsrichtungen  stehend,  die  diesen 


46  £•  Seler:  ^ 

präsidirenden  Gottheiten  ausdrücken  zu  sollen  scheinen:  und  zwar  tritt  hier 
am  erwähnten  Thierkopf  einerseits  das  Zeichen  im  ix,  andererseits  das 
Element  Fig.  165,  endlich  auch  das  Element  Fig.  187  auf,  dem  wir  schon 
in  den  Hieroglyphen  der  vertikalen  Richtung  (Fig.  17,  22,  23)  begegneten, 
und  das  auch  in  anderen  Hieroglyphen  als  Homologen  der  Fig.  165  an- 
zutreffen ist. 

Die  erwähnten  Thierköpfe  scheinen  den  Blitz  in  den  Händen  tragende 
Genossen  des  Regengottes  Chac  zu  bezeichnen.  Wie  das  Zeichen  im  ix 
dazu  kommt,  diesen  äquivalent  gesetzt  zu  werden,  darüber  wage  ich  keine 
bestimmte  Meinung  zu  äussern.  —  Doch  erlaube  ich  mir  noch  auf  ein  Paar 
andere,  ebenfalls  das  Element  imix  enthaltende  und  ebenfalls  ohne  Zweifel 
zu  Attributen  des  Regengottes  Chac  in  Beziehung  stehende  Hieroglyphen 
aufmerksam  zu  machen.  Das  ist  zunächst  die  Fig.  188,  die  im  Cod.  Dresden 
44(l)a  dem  einen  Fisch  in  der  Hand  haltenden  Cliac  als  8itz  dient,  und 
die  neben  dem  Element  imix  das  Element  Fig.  66  entliält,  welches  wir 
oben  als  Homologen  der  hieroglyphischen  Elemente,  welche  „Mann", 
„Mensch"  bedeuten,  angetroffen  haben.  Ferner  die  Fig.  189,  welche  ausser 
den  vorigen  Elementen  noch  das  Element  d(»r  Vereinigung  (vergl.  die 
Hieroglyphen  Fig.  75 — 79)  enthält,  und  welche  im  Cod.  Dresden  67  b  in 
dem  Texte  (gleich  hinter  der  durchgehenden  Hieroglyphe  Fig.  37)  steht, 
wo  die  Darstellung  den  mit  dem  Beile  in  der  Hand  im  Wasser  watenden 
Chac  zeigt.  Endlich  die  Fig.  190,  die  wir  im  Cod.  Dresden  40c  (ebenfalls 
gleich  liinter  der  durchgellenden  Hieroglyphe  Fig.  41)  finden,  wo  die  Dar- 
stellung den  im  Kahne  auf  dem  Wasser  falirendon  Cliac  zeigt. 

Bemerkenswerth  ist  die  Vergesellscliaftung  des  Zeichens  imix  mit  dem 
Zeichen  kan.  Das  letztere  bedeutet,  wie  wir  nachweisen  werden,  im 
engeren  Sinne  den  Maiskolben  und  (»rscheint  daluT  sehr  regelmässig  unter 
tlen  den  Göttern  dargebrachten  Gaben.  Hier  ist  nun  in  einer  ganzen  An- 
zahl von  Stellen  das  Zeichen  imix  theils  über,  theils  neben  dem  Zeichen 
kan  zu  sehen.    Yergl.  Fig.  191  (Cod.  Tro  6b). 

Dieselbe  kan-imix-Gruppe  finden  wir  auch  in  der  Hieroglyphe 
Fig.  192 — 195  (Dresden  5  c  7  c,  Tro  20* b,  IVrez  13),  von  der  ich  in  einer 
früheren  Abhandlung  naclizuweiscni  gesuclit  habe,  dass  sie  den  Kopal, 
bezw.  (bis  Darbringen  von  Käucherw(»rk  ])ezeichnet,  und  die  wir  als  sehr 
gewöhnliches  Attribut  bei  einer  ganzen  Reihe  von  Göttern  vorfinden,  ins- 
besondere aber  bei  demjenigen,  den  ich  als  den  Gott  mit  d(»m  kan -Zeichen 
bezeichnet  liabe  (vergl.  Fig.  31),  dem  AssistentiMi  <l(»s  Licht-  und  Himmels- 
gottes Itzamna.  Bei  diesem  stellt  die  Hieroglyphe  Fig.  192 — 195  in  der 
Regel  unmittelbar  hinter  der  Hauj)thi<»r()glyplH»,  während  sie  bei  den 
analeren  häufig  erst  an  3.  o<[(»r  4.  St(»lle  kommt.  Stellenweise  sehen  wir 
diese  kan -im  ix- Hieroglyphe  direct  als  Bezeichnung  dieses  Gottes  ver- 
wandt: z.  B.  im  Cod.  Dres<len  16a,  wo  die  Fniu(»ngestalt,  die  den  Gott  mit  dem 
kan -Zeichen  auf  <ler  Uückentrage  haben  müsste,  an  Stelle  dessen  in  einem 


Der  ('harakt4'r  der  aztokischon  und  der  Maya- Handschriften.  47 

g08chlo88eiuMi  Sack  <lio  kam- i in ix-CJ nippe  führt,  üiul  ähnlich  die  Fig<i;.  196 
und  197,  welche  die  kan-inüx-(iruppe  auf  einer  Matte  (bezw.  einem 
Topf?)  zeip;en,  und  welche  im  Cod.  Tro  20*d  und  19*  d  im  Text,  wie  es 
«cheint,  «tatt  der  lIaupthiero«:;lyphe  dieses  (lottes  vorkommen. 

2.  igh,  i%  ik.  Das  Wort,  aucli  in  dem  Maya -Lexikon  von  PeREZ 
mit  der  besonderen  Form  «les  k  j^esdirieben,  welches  <lie  den  letras  heridas 
analoge,  besondere  Weise  der  Aussprache  andeutet,  bedeutet:  „Wind**, 
^Ilauclr,  ^Athem'*,  „Leben",  ^(Jeist**.  So  wenigstens  im  Maya  in  all- 
gem<»inem  (Jebrauch.  DesghMchen  im  Tzental.  Weniger  häufig  scheint 
«las  Wort  in  d(»n  (hiatemala- Sprachen  verwendet  worden  zu  sein.  Es  tritt 
dafflr  zum  Theil  das  Synonym  teu,  teuh  =»  Maya  ee-el,  welches  eigent- 
lich „Kälte"  bedeutest,  <»in.  Oder  aber  es  wird  das  Wort  caki'k,  caqui'k, 
im  Ixil  cahik,  gebraucht.  Das  ist  aber  weiter  nichts,  als  ein  Compositum, 
welches  dem  Maya-Wort  chac-ik-al,  dcT  „Chac-Wind",  „Kegenwind". 
„Stunnwind",  entspricht.  Denn  Qu'iche-Cakchiqm4  cak  ist  gleich  Maya 
chac.  So  wenigstens  hi  der  Hedeutimg  „roth",  aus  der  sich,  wie  es  scheint, 
auch  der  b(»kannte  Name  des  Regen-  und  Sturmgottes  der  Maya  entwickelt 
hat.  W^ir  sehen  also,  dass  auch  im  Quiche-Cakchiqu(d  <las  Wort  i'k 
„Wind''  IxMlentet.  In  der  Benennung  entspricht  demnach  dieses  2.  Zeichen 
dem  zweit(»n  mexikanischen  (ehecatl)  vollkommen. 

Fig.  198  zeigt  die  Form,  welche  das  Zeichen  bei  Landa  hat.  Figur 
199  —  206  sind  Formen  des  Cod.  Tro;  Fig.  212— 215  Formen  des  Codex 
Perez.  In  (Um-  Dresdener  Handschrift  finden  wir  meist  Formen  in  <ler  Art 
der  Figg.  207  —  209;  daneben  kommt  auch  die  Form  Fig.  210  vor  (Dresden 
55a):  einige  Male,  doch  selten,  die  Form  Fig.  211  (z.  B.  Dresden  73  unten). 
Die  Formen  des  Cod.  Perez  (Fig.  216,  217)  ähneln  den  gewöhnlichen  der 
Dresdener  Handschrift.  —  Der  Vergleich  der  Fig.  210  lässt  vermuthen, 
dass  auch  die  Figg.  218  —  220,  die  sich  auf  der  linken  Seite  der  Altari)latte 
d(»s  ersten  Tempels  des  Kreuzes  in  Palempie  vorfinden,  sowie»  die  grosse 
Anfangshieroglyphe  der  Altarplatte  des  zweiten  Tem|pels  des  KrcMizes  in 
Palenque  (Fig.  221)  unser  Zeichen  enthalten.  Und  dann  scheint  es  nicht 
ganz  unmöglich,  dass  auch  die»  merkwürdige  Hieroglyphe  Fig.  222  der 
Cedernholzplatte  \ou  Tikal  in  diesen  Bereich  gehört.  -  Die  Bucher  des 
Chilan  Balam  haben  die  Formen  Fig.  223—226. 

Was  der  ursj>rüngliche  Sinn  dieses  Zeichens  ist,  ist  schw(»r  zu  sagen. 
Die  Fig.  210  und  die  Formen  der  Kidiefs  —  falls  wir  dieselben  richtig 
angezog«*n  haben  —  wurden  vermuthen  lassen,  dass  das  Windkreuz,  b(»zw. 
dit»  aus  dt'mselbtMi  hervorgegangene  Figur  des  Tau,  der  Ursprung  <ler  Zeich- 
nung war.  Damit  lassen  sich  in<les  <lie  Formen  des  Cod.  Tro  nur  sehr 
schw<»r  zusammenreimen.  Die  l(»tzteren  erwecken  mehr  die  Vorstellung 
des  von  oben  Herunterliängens.  Ich  denke  <labei  an  die  Figuren,  die  man 
im  Co<l.  Dresden  44  (1),  45  (2)  und  entsprechend  im  C(m1.  Cortez  2  von  den 
viereckigen  Himmelsschildern    herunterhängen    sieht,    und    die   mir  in  der 


48 


E.  Seler: 


Tliat  die  Götter  der  4  Ilimmelsriclitiiiigeii.  die  Stumigeniou  und  Windgötter, 
zu  bezeichnen  scheinen.  Damit  würde  denn  auch  zuBamnienstinimen,  dasB 
wir  auch  in  dem  Zeichen  canac  (welches,  wie  ich  nachweisen  werde,  die 
Wolkenbedeckung  des  Himmels,  die  Regenwolken,  zum  Ausdruck  bringt) 
das  gleiche  Element,  und  zwar  neben  dem  Kreuz,  vorfinden.  Und  unter 
dieser  Anschauung  würden  wir  auch  die  Formen  der  Bücher  des  Chilan 
Balam  verstflndliclier  finden,  die  in  der  That  von  den  Figuren,  welche  das 
Zeichen   cauac    iu  denselben  Bfichem  aufweist,    sich  kaum  unterscheiden. 

"»,  -_  IM  _     tot  jol   ...     tat.        tir       W         *"—     toi 


Von  iiitereRBonteu  Vorkouimuinfieu  den  Zoicheus  ik  erwähne  ich  zu- 
nächst dae  Vorkommen  desselben  als  Fhublem  auf  dem  Scliilde.  den  im  Cod. 
Tro  24a  der  schwarze,  die  Zflge  (!hai''s  trageuile  fioft  (=  Kkel  Ãœacab, 
Kk  pauahtun,  Kk-xil)-l'hac  oder  Ilozanek?)  am  Arme  fölirt.  Vergt. 
Fig.  "227.  —  Als  Schildemblem  kommen  sonst  und  zwar  ebenfalls  bei  Chac 
—  das  Zeichen  ix  vor,  welches  einen  Tiger  oder  ein  Tigerfell  bedeutet, 
ferner    eine    gewundene   kreuzförmige  Figur  oder  drei  horizontale  Striche. 

Kiu    weiteres    intercsRaules   Vorkommen  ist  iu  den  Figun^i  228 — 23], 


Der  Charakter  der  axteklschen  und  der  Majra- Handschriften.  49 

die  im  Cod.  Tro  16* — 15*od  in  der  Hand  einer  Reihe  sitzender  Götterfiguren 
zu  sehen  sind.  Die  Darstellungen  sehliessen  sieh  an  eine  Reihe  anderer 
an,  in  denen  die  Oötterfiguren  theils  Köpfe  mit  geschlossenen  Augen  in 
der  Hand  halten,  theils  einen  Kopf,  den  sie  in  der  Hand  halten,  mit  dem 
Beil  bearbeiten.  Und  es  folgen  ihnen  andere  Darstellungen,  in  denen  die 
Götterfiguren  mit  dem  zugespitzten  Ende  eines  Knochens  in  das  Auge 
eines  Kopfes,  den  si(»  in  der  Hand  halten,  bohren.  Ich  habe  schon  in 
einer  früheren  Abhandlung  erwähnt,  dass  ich  diese  letzteren  Darstellungen 
mit  gewissen  Darstellungen  mexikanischer  Codices  (Cod.  Borgia  23 — 24, 
Vaticanus  B.  82 — 83,  Fejervary  21 — 22)  in  engster  Verwandtschaft  stehend 
betrachte  und  annehme,  dass  die  Darstellungen  sowohl,  wie  die  begleitenden 
Hieroglyphen,  sich  auf  das  Menschenopfer,  im  engeren  Sinne  auf  das 
Tödten  <les  Opfers,  beziehen.  In  den  mexikanischen  Codices  folgt  auf  das 
Ausbohren  des  Auges  eine»  zweite  Reihe  von  Darstellungen,  in  denen  man 
die  Götter  kleine  Figiiren  von  sich  selber,  gleichsam  als  Opfer  darbringend, 
vor  sich  halten  sieht;  und  dann  eine  dritte  Reihe,  wo  die  Götter  vor  ihnen 
stehenden  oder  li(»genden  Menschen  eine  in  Blumen  un<l  Bänder  auslaufende 
gelbe  Schnur  aus  dem  Leibe  ziehen.  Bezog  sich  die  erste  Reihe  der  Dar- 
stellungen auf  das  Tödten,  die  zweite  auf  das  Darbringen  des  Opfers,  —  die 
Opfer  waren  immer  in  die  Livree  des  betreffenden  Gottes  gekleidet,  gleich- 
sam als  Repräsentanten  desselben  —  so  bezieht  sich  die  dritte  Reihe  auf  das 
Herausreissen  des  Herzens  aus  dem  Leibe.  Das  sieht  man  deutlich  z.  B. 
an  der  Figur  im  Cod.  Vaticanus  B.  86,  wo  das  mit  dem  Rücken  über  den 
Block  geworfene  Opfer  un<l  die  tiefe  Brust^'unde  unverkennbar  sind.  Nun 
flieser  dritten  Reihe  von  Darstellungen  halte  ich  die  Blätter  16* — 15*cd 
und  14*d  d(»s  Codex  Tro  für  äquivalent,  und  deute  demnach  die  Figuren 
228  —  231  als  die  ausgerissenim  Herzen,  die  dargebracht  werden,  das 
Zt»i('hen  ik  in  denselben  als  das  Zeichen  des  Lebens,  die  gekrümmten 
Figuren  darüber  für  die  abgerissenen  Aorten  o<ler  —  was  mir  wahr- 
s<*heinlicher  ist  —  als  das  Dampfen  und  Rauchen  des  frisch  heraus- 
gerissenen Herzens.  Vgl.  die  Figuren  232 — 234,  Bilder  <les  Herzens,  wie 
es  jn  mexikanischen  Bilderschriften  gezeichnet  ist.  —  In  dem  Text  findet 
der  Vorgang  seinen  Ausdruck  durch  die  Hieroglyphen  Fig.  235 — 239  und 
Fig.  240—241,  welchen  sich  die  Hieroglyphen  Fig.  242 — 243,  bekannte 
Symbole  des  Todes,  und  <lie  Hieroglyj)he  Fig.  244,  diejenige  des  Sonnen- 
gottes, (dem  das  Herz  dargebracht  wurde),  anschliessen. 

Aehnliche  (legenstände,  wie  die  Figuren  228 — 231,  die  ich  für  aus- 
gerissene Herzen  halte,  und  in  denen  (»benfalls  das  Zeichen  ik  zu  sehen  ist 
(vgl.  Fig.  245—246),  werden  im  Cod.  Tro  6*  und  5*c  von  Götteni  auf  hohen 
Stangen  getragen.  Der  Text  zeigt  ausser  den  Hieroglyphen  der  Personen 
und  einer  durchgehen<len  Hier()glyi)he  (auf  die  ich  unten  noch  zu  sprechen 
kommen  werde,  und  di(».  meiner  Ansicht  nach,  das  Herabkomm<»n  zum 
Opfer    bedientet),   einmal  die  Hieroglyphe  Figur  247,  das  andere  Mal  die 


50  £•  Seler: 

beiden  Hierogljrj)heii  Figur  248 — 249,  wo  die  letztere  eine  der  Hieroglyplien 
der  vorher  angeführten  Stellen  wiederholt. 

Hat  nun  aber  das  Zeichen  ik  die  in  Vorstehendem  angenommene 
Beziehung  zum  Herzen,  zum  Leben,  so  ist  es  nicht  weiter  wunderbar, 
dass  wir  dasselbe  auch  direkt  unter  den  Darbringmigen  finden,  und  zwar 
nicht  etwa  in  der  Ilaud  des  Todesgottes,  als  Verkehrung  des  wirklichen 
Opfers  in  ein  nichtiges,  windiges,  eitles,  sondern  wohlgezählt  unter  den 
übrigen  Darbringungen,  ja,  wie  ich  annehme,  als  das  Kostbarste,  als  das 
ir(»rz,  das  Leben.  Es  tritt  in  der  Beziehung  das  Zeichen  ik  ganz  äqui- 
valent dem  Zeichen  kan  auf.     So  z.  B.  im  Cod.  Tro  30c  25M. 

Direkt  in  der  Bedeutung  „Herz"  scheint  das  Zeichen  ik  auf  Blatt  25 
des  Codex  Tro  verwendet  zu  werden.  Hier  ist  eine  Göttin  dargestellt,  die 
anscheinend  die  tödtUchen,  vorderblichen  Eigenschaften  des  Wassers  ver- 
sinnbildlicht. Sie  ist  mit  der  blauen  Schlange  gegürtet.  Unten  an  ihrer 
rechten  Seite  befindet  sich  ein  l\)dtenschjidel  mit  dem  ausgerissenen  Auge, 
zu  ihrer  linken  das  Zeichen  ik  (Fig.  250),  ganz  wie  man  in  mexikanischen 
Codices  bei  TodesgottlH»iten  oder  Opferdarstellungen,  auf  d(»r  einen  Seite 
den  Todtenschädel,  auf  der  andern  das  Herz  sieht.  Auf  der  rechten  obern 
Seite  der  Göttin  stürzt  vor  dem  w^ässerigen  Strahl,  der  ihrem  Munde  (»nt- 
springt,  ein  todter  Mensch  herab,  mid  vor  ihm  hebt  die  Göttin  wiederum 
das  Zeichen  ik  in  die  Höhe,  ganz  wie  mexikanische  Todesgötter  das 
ausgerissene  Herz  in  die  Höhe  halten. 

Auf  dem  berühmten  Blatt  41 — 42  des  Codex  Cortez,  welches  CYRUS 
Thomas  in  seiner  neuesten  Publikation  eingehend  besprochen  hat,  sehen 
wir  in  d(»r  Mitte  der  vier  Himmelsrichtungen  unter  dem  Baum  (dem  yax 
che,  der  Ceiba?)  zwei  Gottheiten  sitzen,  in  denen  wir  zweifellos  den  alten 
(Jott  —  Itzamnii,  den  „Gott  Vater"*  des  Priesters  IlERNANDEZ,  un«l  seine 
w(»ibliche  Genossin  (Ixchel,  die  Mutter  der  Chibiriac,  der  Mutter  der 
J{acab)  zu  erkennen  haben.  Dieselben  (iottheiten  sind  auch  hi  dem 
Bilde  darüber,  unter  dem  Himmdszeichen,  welches  nach  der  g(»wöhnlichen 
Annahme  den  Osten,  vielleicht  aber  (vgl.  oben)  die  Hinmielsrichtung  des 
Südens  bezeichnet,  zu  sehen.  Jn  dem  Mittelhildi»  hält  der  Gott  eine  Säule 
von  drei  Zeichen  ik  (Fig.  253);  und  vor  «ler  weiblichen  Gottheit  steht  eine 
Säule  (Fig.  254),  die  unt(Mi  das  Symbol  d(»s  Gefässes,  darauf  das  Z(Mchen 
ik,  und  endlich  (»ine  roh  gez(Mchnete  Thierfigur,  die  au  das  Zeichen  im  ix, 
das  Symbol  «1er  Fruchtbarkeit,  gemahnt,  aufweist.  In  dem  obern  Bilde 
hält  der  alte  (lott  und  die  (iöttin  ein  Z(»ichen  in  d(T  Hand  (Fig.  251  und 
252),  welches  wie  durch  Trans])Osition  aus  <lem  Zeichen  ik  entstanden  zu 
sein  scheint,  und  in  gleicher  Weise  an  das  Zeichen  kan,  wi<»  an  diis 
Zeichen  cauac  erinnert,  ausserdem  aber  eine  Speerspitze  trägt.  Die 
h^tztere  schehit  an  eine  geheime  Beziehung  zu  erinnern,  die  sich  auch  in 
den  mexikanischen  Darstellungen  der  Herren  des  Lebens.  Tonacatecutli 
und  Tonacacihuatl,  ausspricht,  indem  man  auch  hier  zwischen  dem  von 


Der  (yharaktor  der  aztekischen  und  der  Maja -Handschriften.  51 

dor  gcmeiiisanioii  Deoko  verliüllton  Paar  (»ine  Spoerspitzo  aufragen  sieht. 
I)a8  Zeichen  ik  s(*lbst  kann  in  diesen  Darstellungen  kaum  et^va8  anderes, 
als  das  „Lehen**  bedeuten. 

3.  YOtan,  a'kbal)  akbal.  Der  an  erster  Stelle  stehende  Tzental- 
Name  ist  nielit  der  eigentliche  Name  des  Zeichens,  sondern  der  des 
Kulturheros  der  Tzental,  des  berühmten  Votan,  dem  ohne  Zweifel 
dieses  Zeichen  geweiht  war.  Den  Namen  Votan  erklärt  BRINTON 
(American  llero  Myths  p.  217)  aus  dem  Tzental -Worte  uotan^  das 
in  einer  von  ihm  angeführten  Stelle  eines  in  der  Tzental -Sprache 
geschriebenen  geistlichen  Führ(Ts  mit  „Herz"  und  „Brust"  übersetzt 
ist.  Dies<»  Krkhlrung  ist  unzw(»ifidhaft  richtig,  denn  der  Bischof  NüNEZ 
DE  LA  VECJA,  der  Autor,  auf  dessen  Notizen  alles  beruht,  was  wir 
über  diese  interessante  mythologische  Figur  wissen,  erklärt  am  Schluss  des 
betreflTendes  Abschnittes:  —  y  en  alguna  provincia  le  tienen  per  el  corazon 
de  los  pueblos.  Nun  „corazon  de  los  pueblos"  heisst  ins  Mexikanische 
übersetzt  tepeyollotl.  und  das  ist,  wie  wir  oben  gesehen  haben,  gerade 
der  Name  der  (Jottheit,  welche  die  mexikanischen  Quellen  als  Tutelar- 
gottheit  des  dritten  Tageszeichens,  des  Zeichens  calli,  nennen.  Auch  darin 
gebe»  ich  BRIKTUN  Hecht,  dass  ich  in  dem  Worte  uotan  die  Maya -Wurzel 
tan  erkenne,  die  „inmitten",  aber  auch  „Angesicht,  Oberfläche,  Vorder- 
seite, Ausdehnung"  bedeutet.  Nur  scheint  mir  das  uo  kaum  ein  Possessiv- 
präfix =^  Maya  u  „sein",  wie  BRINTON  annimmt,  zu  sein;  denn  dann  könnte 
doch  kaum  in  der  von  BRINTON  angeführten  Stelle  a-uo-tan  [„dein  sein 
Inneres**]  gesagt  worden  sein.  Ich  meine  vielmehr,  dass  eine  alte  Wurzel 
uo  vorliegt,  die  mit  Maya  ol,  uol  —  („Herz,  Gemüth,  Wille,  Freiheit" 
und  „Bundes*')  —  zusammc^nhängt,  und  deren  eigentliche  Bedeutung  „Herz" 
ist.  Ich  glaulx»,  «lass  diese»  Wurzel  in  dem  Monatsnamen  uo  noch  enthalten 
ist.  Denn  ch'ssen  Hieroglyphe  (»nthält  <lie  beiden  synonymen  Elemente, 
die  in  <len  oben  gezeichneten  Hieroglyphen  Fig.  236  und  237  vorkomnum, 
und  die  beide,  wie  wir  oben  schon  vernnitheten,  das  dargebrachte  Herz 
betleuten.  Das  zweite  dieser  FJemente  fungirt  gleichzeitig  als  Symbol  der 
Vereinigung  (vgl.  die  Figun^n  75 — 79).  Vereinigung  heisst  aber  mol. 
Und  mit  dem  Worte  mol  ist  wiederum  ein  Monat  bezeichnet,  dessen 
Hieroglyphe  das  (»rste,  das  in  Fig.  236  (»nthaltene  Symbol  <les  Herzens 
aufweist.  Vgl.  die  Fig.  259,  die  die  Zeichnung  LaNDA's  und  der  Dresdener 
Handschrift  witMlergiebt,  und  die  Fig.  260,  die  der  Cedernholzplatte  von 
Tikal  entnommen  ist.  Be(h»utet  aber  uo  „Herz",  so  konnte  uo-tan  das 
^innerste  Herz*",  oder  auch  das  „Herz  der  Ausdehnung",  das  „Herz  der 
Oberflache"  l^edeuten,  also  vieHeicht  vergleichbar  den  Quiche  u  c'ux  cah, 
u  c'ux  ul<»u  „<las  Herz  d(»s  Himmels,  das  Herz  der  Erde",  die  als  kosmo- 
genische  (Jestalten  und  Menschenschopfer  im  Popol  Vuh  eine  Rolle 
spielen. 

Das  Wort  a'kbal  bedeutest  „Nacht".    Wir  haben  im  Mava  noch  heute 


52 


£.  Seler: 


für  „Nacht"  die  Wörter  akab,  akabil,  akbil  im  Gebrauch;  im  Quiche- 
Cakchiquel  a'kab,  a'ka,  a'kbal,  und  auch  im  Ixil  a'kbal.  —  Kann  dies 
Wort  im  Zusammenhang  gedacht  werden  mit  der  mexikanischen  Bezeichnung 
dieses  Tages?  Ich  glaube»  wohl.  Bei  der  Naclit  ist  wohl  an  das  dunkle 
Haus  der  Erde  gedacht,  welches  die  Toten  in  seincMn  Schoosse  auf- 
nimmt, und  in  welchem  auch  die  Sonne  zur  Rast  geht.  Die  Mexikaner 
associirten  das  Tageszeichen  calli  mit  der  Region  des  Westens,  der  Gegend, 
wo  die  Sonne  untergeht.  An  dem  Tage,  wo  das  Zeichen  regierte,  kamen 
die  Cihuateteo  vom  Himmel  herunter,  die  Seelen  der  im  Kindbett  ge- 
storbenen Frauen,  die  gespenstischen  Weiber,  die  im  Westen  hausen,  das 
Gefolge  der  Erdgöttin  Teterinnan.  Es  war  ein  trauriges  Zeichen,  die  unter 
ihm  Geborenen  waren  dumm  und  stumpf,  erdgeborene,  die  bestimmt  waren, 
alsbald  in  den  Schooss  der  Erde  zurückzukehren,  den  Feinden  in  die 
Hände  zu  fallen  und  auf  dem  Opferstein  ihr  Leben  zu  enden. 


•  • 


LaNDA  giebt  das  Zeichen  akbal  in  (iestalt  der  Figur  261.  Der  Codex 
Tro  giebt  die  Formen  Fig.  262  und  263,  der  Codex  Cortez  die  ganz  gleichen 
Figg.  264  und  265.  Li  der  Dresdener  Handschrift  fimlen  sich  theils  ähnliche 
Formen  (Fig.  266 — 268).  Daneben  linden  sich  aber  Formen,  wo  die  beiden 
seitlichen  Theile  nicht  von  oben  herein,  sondeni  von  unten  herauf  ragen 
(Fig.  269),  oder  geradezu  als  runde»  Kreise  (Augen?)  im  Innern  der  Seiten- 
theile  markirt  sin<l  (Fig.  270).  Besondere  FornnMi  sind  auch  die  Figuren 
271 — 273,  die  den  hinteren  Abschnitten  d<»r  Dresdener  Handschrift  ent- 
nommen sind,  und  in  denen  wir  in  der  untenan  Hälfte  des  Zeichens  noch 
Punkte,  Kreise  oder  Halbkreise  markirt  find(»n.  Der  Codex  Perez  hat 
nur  die  flüchtig  gezeichnete  Form  Fig.  274. 

Das  Zeich(»n  akbal  ist  auch  mit  ziemlicher  Siclu»rheit  auf  den  Reliefs 
zu  erkennen.  So  in  der  AnfangshiiToglypln»  der  (Jruppe,  welche  Aber  der 
linken  Figur  des  Mittelfeldes  sowohl  auf  dem  Altarblatt  des  Sonnentempels 
(Fig.  275),  wie  auf  dem  des  Tempcds  des  Kreuzes  Nr.  1  in  J^vlenque  (Fig.  276), 
und  es  ist  besonders  interessant,  dass  wir  in  der  letzten»n  Figur  dieselbe 
Besonderheit  wiederfinden,  die  auch  die  Figuren  271 — 273  der  Dresdener 
Handschrift  zeigen.  Desgleichen  zeigten  die  Kreise  oder  J^unkte  in  der 
unteren  Hälfte  des  Zeichens  auch  die  schön  ausgeführten  Fijrji:.  277  und  278 
der  C<»dernholzplatte  von  Tikal. 


'OO' 


Vn  ChsraKer  der  aitekinchen  and  der  Maja-Handschrift«!!. 


54  £•  Seler : 

Die  Formeil  clor  Büclier  des  Chilan  IJalam  (Fig.  279—282)  weichen 
vollkommen  ab. 

W}i8  zunächst  die  Formen  der  Handschriften  und  der  Reliefs  an- 
geht, so  ist  zu  bemerken,  dass  die  beiden  seitlichen  S])itzen,  die  wie 
Zähne  in  den  Innenraum  des  Zeichens  hineinragen,  keinesfalls  als  Zähne 
gedeutet  werden  dürfen.  Dagegen  spricht  ihre  gelegentlich  vollkommen 
verschobene  Stellung  (Fig.  269),  und  dass  sie  bisweilen  geradezu  als 
Augen  erscheinen  (Fig.  270  und  278).  Der  wesentliche  Theil  des  Zeichens 
—  wodurch  es  sich  auch  bestimmt  von  dem  ihm  sonst  ähnlichen  Zeichen 
chuen  unterscheidet  —  ist  der  dreieckige,  unten  von  einer  welligen  Linie 
begrenzte  Spalt,  der  sich  noch  schärfer  an  gewissen  Formen  des  Zeichens 
ausgeprägt  findet,  welche  auf  den  gleich  zu  ervs^ähnenden  Himmelsschildeni 
gezeichnet  sind.  Vgl.  Fig.  283.  Ich  bin  zur  Erklärung  des  Zeichens  geneigt, 
an  die  mexikanischen  Darstellungen  d(»r  Höhle  zu  denken,  d.  h.  als  ein 
Berg  mit  aufgesperrtem  Rachen.  Vgl.  Fig.  284  und  285.  Die  wellige 
Ijinie  des  Zeichens  akbal  würde  ich  als  untere  Mundbegrenzung,  die 
seitlich  hineinragenden,  sehr  häufig  abgerundet  (»ndigenden  oder  als  runde 
Kreise  erscheinenden  Theile  als  die  Augen  des  Ungeheut^rs,  den  drei- 
eckigen Spalt  als  die  Rachenhöhle  ansehen.  Die  Höhle  ist  der  Eingang  in 
das  Haus  der  Erde,  sie  ist  das  Inn(»re,  das  Herz  der  Berge,  sic^  ist  der  Sitz 
der  Nacht,  der  Dimkelheit.  Wie  man  sieht,  würden  alle  Beziehungen, 
welche  sich  mit  dem  Namen  des  dritt<»n  Tageszeichens  v<»rknüpfen,  durch 
die  „Höhle"  ihre  vollkommene  Erklärung  finden. 

Die  von  der  Form  der  Handschriften  abweichende  Form  der  Bücher 
des  Chilan  Balam  erweist  sich  als  nahezu  id(»ntisch  mit  den  Formen, 
welche  dieselben  Bücher  für  das  Tagesz(»ichen  ben  g<»b(M».  Ich  werde 
später  zu  erweisen  haben,  dass  dieses  Zeichen,  welch(»s  dem  mexikanisch<>n 
acatl  „Rühr"  entsjmcht,  die  rohrgeflochtene  Matte  bedeutet,  und  die- 
selbe rohrgeflochtene  Matte  bildet  wi(»  ich  oben  schon  erwähnt  habe,  einen 
wesc^ntlichen  Theil  der  Hieroglyphe,  wodurch  der  Tempel  od<»r  das  Haus- 
dach bezeichnet  wird.  Vgl.  di<»  Figuren  34 — 36.  Es  scheint  also,  dass  die 
Form  der  Büch(»r  des  Chilan  Balam  das  Haus  wi(»dergebrn  will,  ent- 
sprechend der  Beziehung,  welche  sowohl  der  mexikanische  Name  des 
Zeichens,  wie  auch,  sicher  wohl,  die  Mayabenennung  desselben  ver- 
mitteln. 

Was  nun  die  anderweitige  Verwendung  des  Zeichens  akbal  angeht^ 
so  ist  zunächst  zu  er^vähnen,  dass  wir  dasselbe  in  der  unzweifelhaften 
Bedeutung  „Nacht''  neben  dem  Zt»ichen  kin  „Tag**  verw(»n<let  finden.  So 
an  zahlreichen  Stellen  der  Dresdener  Handschrift.  Vgl.  auch  die  Fig.  158a 
(Cod.  Dresd(»n  45  (2)  b).  Das  Zeichen  akbal  erweist  sich  insofern  als 
äquivalent  dem  Zeichen  Fig.  60,  dem  Zahlz(Mi'h(Mi  20,  über  dess(»n  Bedeutung 
ich  in  (»iner  früheren  Abhandlung  schon  eingehend  gesprochen  habe.  Kine 
Variaute    des  Zeichens  akbal    sch(»int  die  Fig.  28()  zu  sein,  die  im  Codex 


Der  Charakter  der  aztekischen  und  der  Maja -Handschriften.  55 

Dn»8<l«»n"  57a  auf  einoin  ähiiHchon  Doppelfoldo,  wie  das  in  den  Figg.  157, 
158  und  158  a  gezeichnete,  zu  sehen  ist. 

Hieran  anscliliessend  erwähne  ich,  <lass  das  Zeichen  akbal,  zum  Theil 
in  sehr  charakteristischen  Formen  (v(»rgl.  die  Figg.  283  [Cod.  Cortez],  287 
und  288  [Cod.  Dresden]),  und  zwar  wiederum  nelien  dem  Zeichen  kin, 
auf  den  viereckigen  Scliildern  vorkommt  (vergl.  Fig.  157  und  158),  die, 
wie  schon  FÖRSTEMANN  und  SCHELLHAS  erkannten,  zweifellos  den  Himmel 
bezeichnen.  Die  beiden  Zeichen  akbal  und  „kin"  sind  indes  nicht  die 
einzigen  Bilder,  die  auf  di(»sen  Schildern  zu  sehen  sind.  Wir  finden  da- 
neben einerseits  das  Zahlzeichen  20  (Fig.  288a),  das  wir  aber  schon  als 
Variante  des  Zeichens  akbal  notirt  haben;  andererseits  eine  Reihe  Formen 
(Fig.  290 — 299),  die  kaum  anders  wie  als  Varianten  des  Zeichens  kin  zu 
deuten  shnl.  Ausserdem  aber  noch  eine  Reihe  Figuren,  die  in  ausgeführter 
Form  (Fig.  311;  Dresden  52  b)  an  einen  aufgesperrten  cipactli- Rachen 
erinnern,  in  der  Regel  aber,  vollständig  ornamental  werdend,  keine 
bestimmte  Form  mehr  erkennen  lassen  (Fig.  312 — 317).  Ferner  Figuren, 
«He  als  ausschliesslichen  odt»r  Haui)tbestandtheil  das  schräge  Kreuz,  das 
Element  der  Vereinigimg,  erkennen  lassen  (Fig.  800 — 304  und  306  —  310). 
Endlich  —  allerdings  nur  auf  den  Blätteni  20,  22,  23  des  Cod.  Tro  —  das 
Gesicht  des  Gottes  mit  der  Schlange  Aber  dem  Gesicht,  welches  in  der 
Hieroglyphe  desselben  Gottes  (Fig.  33)  und  in  der  Hierogly|)he  der  zweiten 
Himmelsrichtung  (Fig.  19)  vorkommt. 

Herr  Geheimrath  FÖRSTE3IANN  hat  in  seinen  werthvoUen  Erläute- 
rungen zur  Dresdener  Handschrift,  in  denen  er  das  Problem  der  Zahlen- 
bildung in  d(»n  Maya- Handschriften  endgiltig  gelöst  mid  gleichzeitig  das 
Vorhandensein  der  interessanten,  leider  ihrer  Bedeutung  nach  noch  dunklen, 
bis  zu  hohen  Werthen  gleichmässig  fortschreitenden  Zahlenreihen  nach- 
gewiesen hat,  die  Vermuthung  aufgestcdlt  dass  die  auf  den  Himmelsschildern 
abgebildeten  Zeichen  die  Sonne,  den  Mond,  d(»n  Planet  Venus  und  viel- 
leicht auch  andere  Wandelsterne  darstellt(»n.  Ich  kann  dem  nicht  bei- 
pflichten. Dass  die  Fig.  60  und  288a  den  Mond  nicht  bedeutet,  glaube 
ich  in  meiner  früheren  Abhandlung  (Verh.  1887,  S.  237  ff.)  nachgewiesen 
zu  haben,  und  in  dies(»m  Zusammenhange  kann  ich  das  Zeich(»n  nicht 
anders  auffassen,  als  das,  als  w<dches  (»s,  wie  wir  gc^sehen  haben,  wirklich 
fungirt,  als  eint»  Variante  des  ZeichcMis  akbal.  Dasselbe  aber,  meine  ich, 
ist  auch  für  die  Figg.  311 — 317  anzunehnn'n.  AVir  finden  diese  Zeichnung 
nicht  blos  in  den  Mava- Handschriften,  sond(»rn  vielfach  auch  auf  mexi- 
kanischen  Skulpturen  (Fig.  324),  und  zwar  gegenüluT  d(»m  Spiegel,  d.  h. 
dem  in  evidenter  Weise  an  das  Zeiclu»n  kin  erinnernden  Symbol  <h»r 
Sonne  od<»r  des  Tages,  ich  bin  g<Mieigt.  <li(»  Fig.  311  als  Grundform  an- 
zunehnn*!!  uinl  parallelisire  di<»se  der  Fig.  322,  dt»r  dem  mexikanischen 
Cod.  Meuiloza  entnomm«*nfn  Darstellung  <'iii(»r  Höhle,  d.  h.  Berg  mit  auf- 
gesperrtem Rachen  in  Seitenansicht. 


56  £•  Seler: 

Von  den  vielgestaltigen  Figg.  290 — 299  habü  ich  eben  schon  gesagt 
dass  ich  sie  kaum  anders  deuten  kann,  wie  als  zeichnerische  Varianten  des 
Zeichens  kin.  —  Die  Fig.  300—304  und  306—310  enthalten  als  Hanpt- 
element  das  schräge  Kreuz,  das  Zeichen  der  Vereinigung.  Und  letzteres 
tritt  in  den  oben  gezeichneten  Hierogly|)lien  Fig.  237  und  239  —  ferner 
z.B.  in  der  Figur  des  Monatsnamens  yaxkin  auf  Blatt  48  c  der  Dresdener 
Handschrift  —  direct  als  ideographische  Variante  des  Elementes  kin  auf. 
Die  ganze  Fig.  300  und  301  kehrt  in  der  Hieroglyphe  Fig.  305  wieder, 
und  diese  tritt  auf  den  Blättern  38  —  41b  der  Dresdener  Handschrift 
synonym  einerseits  der  kin-akbal-Hieroglyphe  Fig.  158a  und  ihren  Vari- 
anten auf,  andererseits  einer  Hieroglyphe  Fig.  325,  deren  Hauptbestandtheil 
das  Zeichen  der  Hinnnelsrichtung  oben  (Fig.  17)  ist.  Ich  glaube  also, 
dass  auch  diese  Figuren  dem  Elemente  kin  parallel  zu  setzen  sind,  und 
dass  die  wechsehiden  Bilder  auf  den  Himmelsschildern  nichts  anderes,  als 
den  alten  Gegensatz  von  Licht  und  Dunkel,  von  Tag  und  Nacht  —  von 
Leben  und  Tod,  wenn  man  will  —  variiren. 

Ehe  ich  diesen  Gegenstand  verlasse,  möchte  ich  noch  auf  die  Fig.  323 
aufmerksam  machen,  das  Bild  einer  Sonne  in  mexikanischer  Zeichnung, 
welches  genau  so,  wie  <lie  Fig.  298,  das  Kreuz  im  Sonnenbilde  zeigt. 

Ferner  hat  schon  FÖRSTEMANN  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  das 
eigenthflmliche  Element,  welches  in  den  Hieroglyj)hen  318  und  319  vor- 
kommt, —  die  auf  den  int<»ressanten  Blättern  46  —  50  der  Dresdener  Hand- 
schrift und  auf  der  Abbreviatur  derselben,  dem  Blatt  24  der  Dresdener 
Handschrift,  eine  Rolle  spielen,  —  gewisserma^issen  nur  eine  kalligraphische 
Variante  der  Figg.  297  und  298,  also  des  ZcMchens  kin,  darstellt.  In  der 
That  find<»  ich  di(»ses  Element  auch,  genau  in  ders(dben  Weise,  wie  die 
Variante  Fig.  290  des  Zeiclunis  kin,  in  dem  Schmucke  von  IN'rsonen  ver- 
wendet. So  in  der  Kopfschmuckquast«»  Flg.  320  des  langnasigen,  rothen 
(lottes,  der  in  der  mittleren  Abtheilung  d<»s  Blattes  47  der  Dresdener  Hand- 
schrift zu  sehen  ist  und  durch  die  Hieroglyphe  Fig.  321  bezeichnet  wird. 
Und  ebenso  in  d(Mn  Kopfschnmcke  der  mit  Schild  und  S])eer  b(»waffneten 
Gottheit,  die  auf  der  Cedernholz])latte  von  Tikal  dargestellt  ist. 

Ich  gehe  nun  noch  zur  Betrachtung  (»iniger  weiterer  Vorkommnisse 
des  Zeichens  akbal  über. 

Er^vähnenswerth  ist  vor  allem  das  Klement  Fig.  326,  welches  das  Zeichen 
akbal  von  Punkten  umgeben  zeigt.  Wir  finden  dieses  Klement  als  aus- 
zeichnendes Merkmal  an  dem  Stirnschmucke  und  in  der  Hieroglyphe  des 
alten  Gottes,  den  ich  mit  dem  Licht-  und  Ilimmelsgott  Itzamna  iden- 
tifizire.  Die  einen  (jlegenstiind  umgebenden  Punkt«»  bezeichnen  nicht  selten 
die  Flannnen,  die  denselben  verzehren,  oder  das  Licht.  <las  von  ihm  aus- 
geht. Vergl.  <lie  Fig.  327,  die  im  Cod.  Tro  10b  im  Text  zu  sehen  ist  wäh- 
rend die  bildliche  Darstellung  darunter  di(»selben  gc'kreuzten  Todtengebeine, 
von    rothen    Flannnenzungen    umlodert,    zeigt.     Die  Fig.  326,    als  Symbol 


Der  Charakter  der  aitekigchen  und  der  Maya- Handschriften.  57 

de«  Gettos  Itzamna,  scheint  mir  darnach  das  vom  nfichtlichen  Dunkel  herab- 
strahlendc  Licht,  den  ätemenhimmel,  zu  bedeuten. 

Ein  weiteres  auffälliges  Vorkommen  des  Zeichens  akbal  ist  das  über 
dem  Auge  von  nächtlichen  und  todbringenden  Wesen.     So  an  der  Gestalt 
des  Todes -Gottes,  der  in  der  mittleren  Abtheilung  des  Blattes  28  der  Dres- 
dener Handschrift    zu    sehen  ist  und  den  ich  mit  Uac  mitun  ahau  iden- 
tificire    (Fig.  828),    und    bei    einer    anderen    Todesgottheit    (Fig.  329)   im 
Cod.  Cortez  38b.     Ferner    in  der  Hieroglyphe  der  Fledermaus  (zoo),    die 
zur    Bezeichnung    des    Monats    gleichen    Nameus    diente.     (Vergl.  Fig  330 
[LaNDA],  331  -333  [Dresden  46c,  47a,  b]).     Ferner    in   der  Hieroglyphe 
eines  Vogels  von  der  Gestalt  eines  Adlers  (Fig.  334),  der  im  Cod.  Dresden 
17b    durch    die  beiden  Hieroglyphen  Fig.  335  un<l  336,    im  Cod.  Tro  18c 
durch    die    beiden  Hieroglyphen  Fig.  337  und  338  bezeichnet  ist.     Weiter 
bei  der  einen  Gattung  von  Thieren,  welche,  mit  der  Fackel  in  den  Händen, 
Feuer   auch    an    der  Quaste  des  langen  Schwanzes  führend,    vom  Himmel 
stilrzend    dargestellt    sind,    und    die    ohne    Zweifel    wohl    das   Blitzfeuer 
bezeichnen,  den  todbringenden  Diener  <les  Chac.    Vergl.  Fig.  339  (Dresden 
36a).     Endlich  ist  dieselbe  Besonderheit  auch  an  dem  Kopfe  des  Monats- 
namens Xul  zu  sehen.    Vergl.  Fig.  340  (T^ANDA)  und  341  (Dresden  49b). 
Xul  heisst  das  Ende,    die  Spitze;    xuulul  „aufhören",    xulah,  xnlezah 
^beendigen**,    xulub    „(womit  etwas  aufhört).    Hörner",    aber   auch    „der 
Hörner   hat,    der   Teufel";    xulbil    „Possen,   Streiche,  Teufeleien".    Man 
sieht  also,  dass  auch  diesem  Worte  unzweifelhaft  eine  Beziehung  auf  etwas 
Unheimliches,  Gespenstisches,  Dämonisches  innewohnt.     Auch  die  Fleder- 
maus   ist    den  Centralameri kauern    nicht    blos  das  Nachtthier.     Der  Popol 
Vuh  spricht  von  einem  Zo'tzi-ha  „Fledermaushaus",  einem  der  fünf  Orte 
der    Unterwelt.     Dort    haust    der  Cama-zo'tz,    die   „Todes -Fledermaus", 
da«  grosse  Thier,  das  jedem  <l(»n  liaraus  macht,  der  in  seine  Nähe  kommt, 
und  auch  dem  Hunahpu  den  Kopf  abbeisst.    Auch  den  unvollkommenen 
Bildungen  der  ersten  Menschenschöpfung  macht  der  Cama-zo'tz  ein  Ende, 
indem  er  ihnen  den  Kopf  abbeisst.    Der  in  der  Fig.  334  bezeichnete  Vogel 
ist    zoologisch  schw<»r  zu  recognosciren.     Innnerhin  scheint  mir  zweifellos, 
dass  «»in  Raubvogel  gemeint  ist.  S<»ine  Hieroglyphe  (Fig.  335)  ist  interessant. 
Sie    enthält    den    Fledermauskopf,    daneben    aber    auch    das    Symbol    des 
Scharfen.    Schneidigen    (Fig.  73)    un<l    das    Symbol    des  Vogels    (Fig.  72) 
In    dem    hicTOglyphischen  Texte    finden   wir,    hinter  tlen  Zeichen  der  vier 
(fünf)  Ilimmelsriclitiiiigen,  nicht  selten  Hieroglyphen,  die  einen  Thierkopf 
mit    <lem  Zeichen    akbal    über    dem  Auge    tragen.     Vergl.  die  Figg.  180, 
183,  18«  und  342 --344  (Cod.  Dresden  22h).    Ich  glaube  dieselben  als  die 
Blitzthiere,    die    Sturnigenien,    die    (lenien    der    vier    Himmelsrichtungen 
bezeichnend  annehmen  zu  müssen. 

Zum  Schluss  will  ich  noch  die  Hieroglyphe  Fig.  345  erwähnen,  durch 
welche    auf   Blatt  26*b    des   Cod.  Tro    das    Tabakrauchen,    bezw.    das 

Z«llMhfUI  für  Kthaolofi«.    Jahrg.  I8<6.  5 


58  £.  Seler: 

Blasen  aus  dem  Rohre  bezeichnet  wird  (vergl.  Fig.  346).  Derselbe  Vor- 
gang ist  noch  an  zwei  anderen  Stellen  des  Cod.  Tro  zu  sehen,  nehmlich 
auf  Blatt  f34*b,  wo  er  durch  die  Hieroglyphen  Fig.  347  und  348,  und  auf 
Blatt  25  *b,  wo  er  durch  die  beiden  Hieroglyphen  Fig.  349  und  350  zum 
Ausdruck  gebracht  ist. 

Das  Tabakrauchen  hat  natürlich  eine  mythologische  Bedeutung.  Nach 
den  werthvoUen  Mittheilungen  des  Lic.  Zetina  von  Tihosuco,  welche 
Beinton  in  seiner  im  Folklore  Journal  Vol.  I  veröffentlichten  Abhandlung 
über  Volksglauben  in  Yucatan  uns  zugänglich  gemacht  hat,  sind  die  Balam 
(d.  h.  die  Götter  der  vier  Himmelsrichtungen  oder  der  vier  Winde,  welche 
gleichzeitig  die  Hüter  des  Dorfes  und  der  Gremarkung  sind)  grosse  Raucher, 
und  nach  allgemeinem  Volksglauben  sind  die  Sternschnuppen  nichts  anderes, 
als  die  brennenden  Stummel  der  Riosencigarren,  welche  diese  Wesen  vom 
Himmel  herunterwerfen.  Ein  Indianer  sah  einen  Balam  in  seinem  Kom- 
felde.  Dieser  zog  eine  riesige  Cigarro  aus  seiner  Tasche,  und  mit  Kiesel 
und  Stahl  schlug  er  Feuer.  Aber  die  Funken,  die  er  schlug,  waren  Blitz- 
strahlen und  das  Klopfen  gegen  den  Stein  ertönte  wie  schrecklicher,  die 
Erde  erschütternder  Donner. 

Von  den  oben  angeführten  Hieroglyphen  enthalten  die  Figg.  348 — 349 
Elemente,  die  den  wesentlichen  Bestandtheil  der  Hieroglyphe  der  Himmels- 
richtung „oben"  (Fig.  17  —  22),  bezw.  des  Herabkommens  von  oben  (vergl. 
unten  Fig.  744 — 746)  bilden.  Die  Hieroglyphe  Fig.  345  möchte  ich  mit  den 
Hieroglyphen  Figg.  342 — 344  parallelisiren.  Beide  enthalten  als  seeun- 
däres  Element  das  Symbol  des  Menschen,  und  die  Fig.  345  als  Haupt- 
element das  Zeichen  akba],  —  wie  ich  meine,  anstatt  des  Thieres  mit 
dem  akbal- Zeichen,  des  Blitzthien^s. 

4.  glianan,  kat  (c'at),  kan.  Die  Bedeutung  des  Wortes  ist  zweifel- 
haft. XlMENEZ  giebt  kat  (c'at)  „Eidechse".  Doch  habe  ich  den  starken 
Verdacht,  dass  das  mexikanische  Aequivalent  dieses  Zeichens  ihm  diese 
Bedeutung  eingegeben  hat.  Mit  den  Maya-Wurzeln  kan,  kaan  „Seil", 
„Strick",  „Hangmatte",  und  kan  =  Qu'iehe,  Oakchiquel  k'an  (gan)  „gelb" 
lässt  sich  nichts  anfangen.  Ich  vermuthe,  dass  die  Tzental-Form  uns 
einen  Fingerzeig  giebt;  sie  lehrt  uns,  dass  wir  das  Wort  als  Participial- 
form  auffassen  müssen.  Und  da  finde  ich  im  Maya-Lexicon  von  Perez 
die  Worte  k'anaan,  k'aanan,  k'anan  „abundante,  necesario  ö  estimado, 
cosa  importante,  „k'aananil  „abundanoia",  k'aancil  „sobrar,  sobreabundar, 
flotar  sobre  el  agua,  aobrenadar,  aboyarse  sobre  el  liquide";  k'ank'ab 
„mar".  Ob  der  Apostroph,  den  ich  gesetzt  habe,  richtig,  ist  bei  der  un- 
sorgfältigen Form  des  Wörterbuches  und  der  ungenügenden  Bezeichnung 
der  Maya- Gutturale  überhaupt  zw(»ifelhaft.  Docli  werden  diese  Worte  in 
dem  Lexicon  mit  demselben  k  geschrieben,  wie  d<>r  Name  des  Tages- 
zeichens und  wie  das  Wort  kan  „gelb",  —  weh'hem,  wie  der  Vergleich 
mit   dem  Qu'iche    zeigt,    das   apostrophirte  k  zukommt.     Wir  hätten  also, 


Der  Cfau-akt^r  der  utekiKh^n  und  der  ftUfa-Hudachriften. 


59 


scheint  08.  cinn  dirt'cte  Entspreelmiig  der  oben  aiigcführton  Maya-Worte 
kaanaii.  kaiian,  liie  „im  Unberschuas  vorhanden"  bedeuten,  mit  der 
Tzentalbeiceichnunt;  gliaiiau.  Kriunern  wir  uns,  dass  die  Abliebe  Bezeich- 
nung des  Tages  in  Mexiko  cuotzpalin  „Eidechse",  in  MeztiÜan  ab- 
weichend xilotl  „der  junge  Maiskolben"  war,  dass  aber  beide,  die  Eidechse 
MOwohl.  wie  diT  Maiskolben,  bekannte  Symbole  des  Roichthums  und  des 
UeberfluBses  sind,  —  el  que  en  este  naci'a  .  .  ,  tornia  ritjuezas  y  de  comer 
que  nunc«  le  faltaria  (DüRAN),  —  so  scheint  mir  die  oben  gegebene  Deu- 
tung der  Mayabezeichnung  und  die  Identität  derselben  mit  der  mexika- 
nischen zweifellos  zu  sein. 

liANDÄ  giebt  für  das  Zeichen  die  Fig.  361.  Im  Cod.  Tro  treffen  wir 
die  Formen  Fig.  352  und  ;-f53  und  unter  den  Opfergaben  häufig  die  Perm 
Fig.  354.  Im  Cod.  Cortez  finden  wir  dieselben  Formen  Fig.  35J  und  353, 
daneben   aber   auch    die    Form  Fig.  355.     In    der   Dresdener   Handschrift 


95'.         3« 3«^ 


3*1  3*^ 


begegnen  wir  denselben  Formen.  Der  Cod.  Perez  hat  durchgängig  die 
Form  Fig.  35*>.  Auf  der  rechten  Seite  der  AUiiridatte  des  Tempels  des 
Kreuzes  Nr.  1  tu  Pjileiupie  treffen  wir  die  beiden  Pigg.  357  (II.  Reihe) 
und  358  (III.  Reihe  unten),  die  ehenfaHs  das  Zeichen  darzustellen  scheinen. 
Die  Bücher  des  CHIL.4X  Balam  geben  die  Fi^'.  359—362. 

Was  nun  die  Beileutuug  dieses  Zeichens  angeht,  so  scheint  mir.  dass 
ein  Auge  und  eine  Zahnreihe  die  Kiemente  <lessellieu  bilden.  In  inexi- 
kanisclien  Dnrwtellungen  malt  mau  das  Feuerst einniesser  mit  einer  Zahn- 
reihe und  einem  Auge  darüber  (vergl.  die  Figg.  136  und  137).  Und  genau 
ebenso  malte  man  den  Maiskolben  mit  einer  Zahnreihe  und  einem  Ange 
darüber,  aber  da*  Ange  int  hier  ein  lebendiges  (vergl.  Fig.  363).  wSlirend 
das  lies  Pen  erste  inuiessers  ein  todtes  i«!.  Offenbar  betrachtete  man  die 
beiden  Dinge  als  gegeusittzlich.  Dürre  nu<l  Wasserreichthum,  Mangel  und 
Ceberflnss  bezeichnend.  Ks  ncbjebt  wich  hier  in  tier  Zeichnung  der  Mais- 
kolben dem  Worte  aeatl  „Kolir"  unter,  welches  sonst  in  Symbolik  und 
Aberglauben  der  konstante  Widerjiart  des  Wortes  tecpatt  „Feuerstein" 
ist.     AllordingB   sehen    wir   ja  auch  im  Cod.  Hendoza  die  Maisstaude  vcr- 


60  E*  Seler: 

wendet,  um  das  Wort  acatl  auszudrücken.  Ich  glaube,  dass  das  Zeichen 
kan  das  oben  gezeichnete  mexikanische  Object,  den  Maiskolben,  wieder- 
giebt.  Dadurch  erklärt  es  sich  uns,  dass  das  Zeichen  kan,  wie  schon 
oben  angeführt,  constant  unter  den  Opfergaben  erscheint,  und  ich  glaube, 
wir  haben  hier  den  Schlüssel  für  die  sonst  schwer  verständliche  Thatsache, 
dass  die  Mexikaner  die  Jahre,  mit  denen  sie,  wie  es  scheint,  ihre  Zeit- 
rechnung begannen,  nehmlich  die  Reichthum,  Fruchtbarkeit  und  Glück 
verheissenden  Jalire,  die  der  Himmelsrichtung  des  Ostens  zugeschrieben 
wurden,  nach  dem  Zeichen  acatl  „Rolir"  benannten,  während  die  Maya 
auf  dieselben  Jalire  das  Tageszeichen  kan  anwandten. 

Die  Bilder,  welche  die  Bücher  des  CHILAN  BaLAM  für  das  Zeichen 
kan  geben  (Fig.  359 — 362),  haben  mit  der  Form  der  Handschriften  nichts 
gemein.  Sie  erinnc^m  in  frappanter  Weise  an  die  Formen,  welche  die- 
selben Bücher  für  die  Zeiclien  ik  und  cauac  geben.  —  Sollten  es  nur 
Variationen  der  letzteren  sein  und  iliren  Ursprung  der  unzweifelhaft  im 
Gemüth  des  Indianers  vorhandenen  Gedankencombination:  —  „Wolken- 
bedeckung, Regen  und  Wind,  Reichthum  und  Ueberfluss**  —  ihren  Ursprung 
verdanken? 

Von  den  Vorkommnissen  des  Zeichens  kan  erwähne  ich,  dass  es  als 
auszeichnendes  Kennzeichen  einerseits  bei  dem  Gotte  Fig.  31,  andererseits 
bei  dem  Gotte  Fig.  170  (Hieroglyphe  Fig.  30)  vorkommt.  Der  erstere, 
den  ich  den  Gott  mit  dem  kan -Zeichen  genannt  habe,  ist  vielleicht  mit 
^  dem  Hobnil,  <lem  in  den  kan -Jahren  präsidirenden  Bacab,  dem  im  Monat 
Tzec  die  Bienenzüchter  Feste  feierten,  und  der,  in  Gemeinschaft  mit 
Ekchuah  und  Chac,  im  Monat  Muan  von  den  Cacaopflanzem  gefeiert 
ward.  Den  letzteren  (Fig.  170)  habe  ich  oben  mit  dem  Gotte  Ekchuah 
selbst  identificirt. 

Von  Hieroglyphen,  in  welchen  das  Zeichen  kan  vorkommt,  erwähne 
ich  die  des  Monatsnamens  cumku  oder  humkn.  Fig.  364  (LaNDA), 
Fig.  365  und  366  und  die  Variationen  Fig.  367  —  370,  die  alle  der  Dres- 
d(mer  Handschrift  entnommen  sin<l.  —  cum  heisst  der  „Hohle",  der  „Topf", 
aber  auch  der  „Klang,  den  man  bei  dem  Schlagen  auf  einen  hohlen  Gegen- 
stand vernimmt":  hum  ebenfalls  „Geräusch,  Lärm,  Summen".  Der  obere 
Theil  der  Hieroglyphe  scheint  in  der  That  einen  Topf  darstellen  zu  sollen, 
der,  umgestürzt  mit  der  Mündung  nach  unten,  auf  dem  Zeichen  kan  liegt, 
nach  oben  ihoih  eine  breite  Grundfläche  (Fig.  365,  366),  theils  drei  Füsse 
zeigt  (Fig.  367  — :i6^)  odor  mit  der  Seite  auf  dem  Zeichen  liegt?  (Fig.  370). 

5.  abagli,  can,  cliiccliau.  can  heisst  im  Quiche-Cakchiquel,  can, 
canil  im  Maya  die  „Schlange'';  ahau-can  die  Königsschlange,  die  Klapper- 
schlange.    Das  stinnnt  also  zum  mexikanischen  coatl. 

Das  Wort  chice  hau,  sagt  PekEZ,  liesse  sich  nur  erklären,  wenn 
man  annähme,  dass  das  Wort  falsch  geschrieben  und  chichan  zu  lesen 
wäre,     chan,    chancban  und  chichan  bedeutet  „klein".    Damit  können 


D«r  Charakter  der  aitokisclieii  nnd  der  Maj»-Hanilachrin«ii. 


61 


wir  Tiatürlicli  nklita  uiifaiigcii.  Soll  man  eine  Nebenform  chan  für  can 
annohmcii?  Dt-r  UebiTgaiig  wiSre  nicht  itngewölinlicli.  Wir  haben  xacali 
,fe«t  (auf  Uie  vier  Filsac)  steilen",  xaclinli  JfM  (breitbeinig)  ImiBtellen"; 
caar-ah  und  cliaacli-ah  ^zauxon,  Haar  ansretssen,  Blätter  abreiBsen"; 
co-ab  „abttdiillen.  abrinilen";  cho-ab  „abreiben,  abwisclieu".  Dt-r  erste 
Theil  tlcB  Wortes  wflnlo  dann  auf  die  Wurzel  ebi.  cliii  „Mund,  beissen" 
bezogen  wenlen  mflssen;  ebiechan  die  „beiwsende  Schlange",  wie  MoLlNAa 
Wörtorbni'h  unter  „vibora  goiu'ralniento"  teqnani  coat!  (d.  h.  „der  Fresser 
der  Srlilange")  angiebt. 

Das  Tzental-Wort  kann  ich  nicht  erklären.  Im  Qu'iche  haben  wir 
abah  „Stein".  In  der  alten  Hauiitstodt  der  Cakchi(|uel  war  daa  Haupt- 
heitigthum  der  chay-abab.  der  eine  halbe  Klafter  grosse,  halbdurchsichtige 
Stein,  auf  dessen  Spiegelflfiehe  die  Wahrsager  die  Antworten  auf  alle  Fragen 

«II    -^  '".>m*.  '»i-j».  '11-—  "^  "ii— .  'SUr*.  »Lf^  *": J!£_ 


ablasen,    die    in  wiehtigen    civilen    oder  niilitilrisehen  Sai'hen  den  Oöttem 
vorgelegt  wurden. 

Lasdä  giebt  für  da»  Zeichen  die  Fig.  371.  Im  Cod.  Tro  finden  sich 
aU  häufigste  die  Figg.  372  -374.  Daneben  auch  Formen,  die  den  dunklen 
(carrirten)  Fleck  durch  <>inen  hellen  oder  durch  das  Zeichen  kin  ersetzen 
(Fig.  375—377).  IJenierkenswerth  sind  -lie  Figg.  378--380  (Cod.  Tro  Ua, 
7*b.  31d).  welche  neben  dem  Fleck  die  deutlichen  Züge  eines  Gesichtes 
zeigen.  Kinen  ganz  anderen  Typus  «teilen  die  Figg.  390—392  (Cod.  Tro 
9"a,  I9c,  9*a)  dar.  Im  Coil.  Cortez  finden  sich  luir  Formen,  die  mit  den 
gewöhnlichen  des  Cod.  Tro  (372--374)  ühen^nstimmeu.  In  der  Dresdener 
Handschrift  überwiegen  entschieden  ilie  Formen,  welche  den  Fleck  hell 
und  ilanehen  die  Zfige  eines  (Jesichtes  aufweisen  (Fig.  381  — 386).  Nur 
iu  den  hinteren  Abschnitten  der  Handschrift  kommen  Formen  mit  dunkel 
(carrirt)  au«gefill1teni  Fleck  vor  (Fig.  tiSl).  lihnlicli  den  gewöhnlichen  deg 
Cod.  Tro  und  Cortez.     Besondere  Formen  sind  die  Figg.  393  (Dresden  39c), 


62  £.  Seler: 

und  394  und  395  (Dresden  61  und  63).  Die  Formen  des  Cod.  Perez  (Fig.  388 
und  389)  ähneln  denen  der  Dresdener  Handschrift.  Die  Bücher  des  CHILAN 
BalAM  haben  die  Formen  der  Figg.  396—399. 

Was  nun  den  Sinn  dieses  Zeichens  angeht,  so  zeigt  das  StGck 
Schlange,  welches  wir  in  Fig.  400  nach  Cod.  Cortez  12b  abgebildet  haben, 
deutlich,  dass  der  carrirte,  von  schwarzen  Punkten  umsäumte  Fleck  die 
Flecken  einer  Schlangenart  wüedergiebt,  die  wir  natürlich  zoologisch  nicht 
recognosciren  können,  deren  besondere  Zeichnung  aber  in  den  Schlangen- 
bildem  des  Cod.  Cortez  ebensowohl,  wie  auf  der  doppelköpfigen  Schlange 
der  Cedemholzplatte  von  Tikal  deutlich  zu  sehen  ist.  Denselben  carrirten 
Fleck  erkennen  wir  auch  au  der  Hieroglyphe  Figg.  401  (Dresden  70),  402 
(Dresden  21c)  und  403  (Tro  9*b),  wodurch  ein  Gott  bezeichnet  ist  (Fig.  404 
und  405),  dessen  besonderes  Kennzeichen  eine  zackige  Linie  um  den  Mund 
bildet  (Fig.  404),  und  dessen  Haupthieroglyi)he  in  der  Regel  von  Todes- 
symbolen begleitet  ist:  der  Hieroglyphe  der  Eule  (Fig.  406:  Dresden  7b), 
des  Thieres  mit  erhobener  Tatze  (Fig.  407:  Dresden  21c)  und  des  Leich- 
nams (Fig.  408:  Tro  9*c).  Es  scheint  dieser  Gott  zu  den  Schlangen  in 
bestimmter  Beziehung  zu  stehen,  und  die  Formen  des  Zeichens  chicchan, 
welche  neben  dem  Fleck  die  Züge  eines  Gesichtes  zeigen,  sollen  vemiuth- 
lich  den  Kopf  dieses  Gottes  wiedergeben. 

Die  Formen  der  Bücher  des  ChilAN  Balam  (Fig.  396—399)  haben 
sich  ohne  Zweifel  aus  den  Formen  der  Handschriften  entwickelt.  Vergl. 
die  Fig.  380  des  Cod.  Tro  31  d. 

6.  tox,  camey,  cimi  (cimiy).  Im  Maya  heisst  cim,  im  Quiche- 
Cakchiquel  cam  „sterben**.  Und  die  Wörter  cimiy,  caniey  sind  Abstracta 
oder  Infinitive,  mitttds  eines  alten  Ableitungssuffixes  gebildet,  das  im  Maya 
unter  den  gewöhnlichen  Bildungen  nicht  mehr  fungirt,  aber  im  Qu'iche 
noch  in  voller  Anwendung  ist.  Die  Maya-  und  die  Cakchiquel- Bezeich- 
nung entspricht  also  der  mexikanischen  (miquiztli)  vollkommen. 

Schwierigkeiten  macht  die  Tzental -Bezeichnung  tox.  Ich  weiss  das 
Wort  nicht  zu  erklären.  Es  wäre  nicht  unmöglich,  dass  hier  wieder,  wie 
beim  dritten  Tageszeichen,  der  Name  des  regierenden  (lottes  für  das 
Zeichen  sUAit  Der  Bischof  NUNEZ  DE  LA  VEGA  erzählt,  dass  die  Tzental 
in  ihrem  Kalender  sieben  kleine  schwarze  Figuren  gezeichnet  hatten,  von 
denen  sie  bei  ihren  Wahrsagereien  Gebrauch  machten,  und  dass  sie  ebenso 
„in  ihren  Kalendern  gezeichnet  hatten  den  Coslahuntox,  d.  i.  den  Teufel, 
wie  die  Indianer  angeben,  mit  13  Gewalten,  und  si(»  haben  ihn  gemalt  auf 
dem  Stuhle  sitzend  un<l  mit  Hörnern  auf  dem  Kopfe,  wie  von  einem  Wid- 
der". —  Ks  wäre  nicht  unmöglich,  dass  di(»ser  Teufel  Jlun-tox  mit  dem 
in  der  Unterwelt  residirenden  Ilun-came,  den  der  Popol  Vuh  nennt, 
identisch  wäre. 

Landa  giebt  für  das  Zeichen  die  Form  Fig.  400.  Im  Cod.  Tro  sind 
die    häufigsten  Formen  die  Figg.  410 — 412    (Kopf  der  Leiche).     Daneben 


Der  Chftrakter  der  sztekischen  und  der  Maja- Handschriften. 


68 


kommen  die  Figg.  413— 414  (Schädel),  und  endlich  als  dritte  Form  die 
Figg.  415 — 4 «6  vor.  Im  Cod.  Cortez  herrscht  die  erstere  Form  ausschliesslicb 
vor  (Fig.  418).  In  der  Dresdener  Handschrift  kommen  alle  drei  Formen, 
nur  in  besserer  Ausführung,  vor  (Fig.  419  —  426).  Daneben  aber  finden 
sich  noch  auf  Blatt  46  (Fig.  427— 428)  und  auf  Blatt  53b  (Fig.  429)  einige 
Formen  vor,  die  einen  anderen  Typus  zu  repräsentiren  scheinen.  Die 
Bücher  des  CHILAN  BaLAM  haben  die  Figg.  430  und  431. 

Was  den  Sinn  dieses  Zeichens  angeht,  so  treffen  wir  die  erste  und 
die  zweite  Form  in  den  beiden  Ilieroglyplien  des  Todesgottes,  die  ich  in 
meiner  früheren  Abhandlung  (vergl.  diese  Zeitschrift  Jahrg.  1887,  Ver- 
handl.  S.  232)  eingehend  besprochen  habe.  Es  wäre  hier  nur  noch  nach- 
zutragen, dass  die  eigenthümlich  gekrümmte  Linie,  die  sowohl  an  dem 
Kopfe  mit  geschlossenen  Augen  (erste  Form),  wie  an  dem  Schädel  (zweite 
Form)   sich    wie    ein  Schwanz  an    die  Reihe  der  freiliegenden  Zähne  an- 


schliesst,  ohne  Zweifel  aus  der  Linie  des  aufsteigenden  Astes  des  Unter- 
kiefers entstandtMi  ist.  Das  ist  deutlich  an  Figuren  wie  432  und  433  zu 
sehen,  bei  denen  der  Unterkiefer  mit  seinem  aufsteigenden  Aste  und  der 
Zahnreihe  vollständig  gezeichnet  ist. 

Die  sich  daran  schliessende  Linie  mit  der  Zähnelung  am  äusseren 
rechten  Rande  deutet  vennuthlich  auf  die  Schleife  oder  Schlinge,  in  welcher 
der  abgeschnittene»  Kopf  getragen  ward.  Vergl.  die  Figg.  422  und  427 — 429 
und  die  Fig.  439  aus  Blatt  60  der  Dresdener  Handschrift,  welche  letztere, 
wie  es  scheint,  einen  solchen  in  der  Schlinge  getragenen  abgeschnittenen 
Kopf  (Kopf  des  Opfers)  darstellt. 

Die  dritte  Form  des  Zeichens  cimi  (Fig.  415 — 417,  424 — 426)  sehen 
wir  an  Stelle  des  Auges  mit  geschlossenen  Lidern  in  der  zweiten  Hiero- 
glyphe des  Todesgott(»s,  Fig.  436  auf  Blatt  28  der  Dresdener  Handschrift. 
Wir  sehen  es  als  Todessymbol  auf  der  Wange  des  Gottes  Uac  mitun 
ahau  (Fig.  328)  und  auf  der  Hierogly])he  desselben  Gottes  auf  Blatt  5b 
der  Dresdener  Handschrift  (Fig.  437).    Wie  es  scheint,  enthalten  auch  die 


g4  ^*  Seler: 

beiden  Hieroglyphen  Fig.  434  und  435,  von  denen  die  erstere  der  Altar- 
platte des  Tempels  des  Kreuzes  Nr.  2,  die  andere  der  des  Sonnentempels 
in  Palenque  entnommen  ist,  dasselbe  Zeichen.  Ueber  den  ursprünglichen 
Sinn  desselben  wage  ich  keine  bestimmte  Vermuthmig  auszusprechen. 

Ebensowenig   vermag   ich   die  Formen  des  Chilan  BaLAM  (Fig.  430 
und  431)  zu  deuten. 

Das  Zeichen  Fig.  438,  welches  DE  ROSNY  in  seinem  Vocabulaire  de 
l'ecriture  hieratique  als  im  Cod.  Tro  vorkommend  angiebt,  habe  ich  bei 
genauem  Nachsuchen  unter  den  Tageszeichen  daselbst  nicht  finden  können. 
Das  Element  Fig.  60,  welches  BraSSEUR  als  Variante  von  cimi  auf- 
führt, ist,  wie  ich  in  einer  früheren  Abhandlung  mich  bemüht  habe,  nach- 
zuweisen, ein  Symbol  des  Todes,  in  engerem  Sinne  des  Geopfertwerdens. 
Es  fungirt  als  Ausdruck  für  den  Begriff  Mann  und  für  die  Zahl  20,  bezw. 
den  Zeitraum  von  20  Tagen  (uinal).  Unter  den  Tageszeichen  kommt  es 
nicht  vor.  Nur  auf  den  Blättern  32  und  33c  des  Cod.  Tro  steht  es  in  der 
Reihe  der  Tageszeichen.  Es  fungirt  aber  daselbst  nicht  als  besonderes 
Tageszeichen,  sondern  steht  nach  den  Tageszeichen  cauac,  kan,  muluc, 
ix  im  Sinne  von  „das  zwanzigste  darauffolgende  Zeichen*',  welches  natür- 
lich ebenfalls  das  Zeichen  cauac,  kan,  muluc,  ix  ist. 

7.  moxlc,  qaeliy  manik.  Das  Zeichen  entspricht  dem  mexikanischen 
macatl  „Hirsch",  „Reh"  (venado),  und  eben  das  bedeutet  auch  die 
Cakchiquel- Bezeichnung  queh  (nach  Maya- Orthographie  geschrieben  ceh). 
Dem  Worte  manik  scheint  die  Wurzel  man  oder  mal  zu  Grunde 
zu  liegen,  welche  „schnell  vorübergehen",  „verschwinden",  aber  auch  ^sich 
wiederholen"  bedeutet.  Im  Maya  wird  von  dieser  Wurzel  gebildet: 
manac  to  kin  „nachdem  einige  Tage  vergangen  waren*";  manak  „leichter 
Schatten",  „Spur",  „fernes  Echo";  nianab  „Gespenst".  —  manik  könnte 
demnach  der  „Vorüberhuschende",  „Flüchtige"  heissen. 

Der  Wurzel  man  ist,  glaube  ich,  euie  parallele  Wurzel  max  mit 
derselben  Be<leutung  anzusetzen,  von  der  maax  „Affe",  maxan  „schnell" 
sich  ableitete.  Auf  diese  Wurzel  könnte  vielleicht  die  Tzental- Bezeich- 
nung moxic  zurückzuführen  sein. 

In  der  Schrift  wird  das  Zeichen,  ziemlich  übereinstimmend  im  Landa, 
wie  in  den  Handschriften,  durch  die  Fig.  440  gegeben.  Die  Figur  stellt 
zweifellos  eine  Hand  dar,  deren  Daumen  den  gekrümmten  vier  anderen 
Fingern  gegenübergestellt  ist.  Davon  überzcMigt  man  sich  leicht,  wenn 
man  das  Zeichen  mit  Hieroglyj)hen  vergleicht,  in  welchen  die  Hand  in 
realistischer  und  unverkennbarer  Weise  dargestellt  ist,  wie  in  den 
Figg.  441 — 443.  Wie  kommt  nun  aber  die  Hand  dazu,  Symbol  des  Tages 
zu  werden,  der  —  in  einzelnen  Dialecten  sicher,  wie  im  Mexikanischen  — 
mit  dem  Namen  des  Hirsches  bezeichnet  wird? 

Es  scheint,  dass  das  Element  manik  (Fig.  440)  in  Verwandtschaft 
steht  zu  einer  Anzahl  anderer  Elemente,  von  denen  einige  (Fig.  444 — 446) 


Der  Cbumbter  der  utekischen  und  der  Mftfa-HaDdachritb>n. 


65 


allerdings    nur  Variationou    der  Hand    oder  ilott  Trügors  zu  sein  acheinen, 
während  das  vierte  (Fig.  447)  einen  neuf-n  Begriff  liineinbringt 

Auf  Seite  10*  d»>M  Cod.  Tro  beginnt  eine  Reilie  von  Darstelluugou 
—  der  sogenannte  Kalender  fflr  Bieiienzflcliter  — ,  in  welclien,  wie  mir 
Bcheint,  dax  Ilera)>koninien  der  UOtter  zum  Opfer  durcli  ein  geflügeltes 
Inseet  auitgedrilekt  ist,  das  rur  einem  viererkigen,  mit  den  Klcmcnton  des 
Zeielienn  eabnii  bedeckten  Hcliilde  zu  den  unten  aufgeHtellten  Opfergaben 
lierabkontntt.  Der  liieroglypIiiBelic  Text  zeigt  die  Namen  imd  die  Attri- 
bute der  (rottet.  Davor  eine  Hieroglyphe  —  die  sogenannte  Hieroglyphe 
der  Biene  — ,  welehe  die  KIcmente  des  Zeioliens  der  Himmelsrichtung 
oben — unten  euthiilt  und  die  ich  als  Symbo)  des  HerabkommeuB  betrachte. 


HtO-      '»U 


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TVP-        ">w*v*7>  ^Vrtr^/71  _•"'-..,_     J-  »T*  ftS         *»  •" 

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I.  Hit-  ***■■_„     Jt''* 


Und  davor  beginnt  der  Text  mit  einer  Hieroglyphe,  die  in  der  Anfangs- 
gruppe die  Form  Fig.  45"i,  in  den  folgenden  Grup)ien  die  Form  Fig.  453 
list  uu<l  mehrfach  durrh  Hieroglyphen,  welehe  den  Tempel  zum  Ausdruck 
bringen  (siehe  unten  beim  Zeichen  ben).  ersetzt  ist  und  auf  Blatt  3*c. 
wie  es  scheint,  in  imfgelüster  Form,  durch  die  Figg.  454  und  455  reprü- 
sentirt  ist. 

In  der  Dresdener  Handschrift  sinil  auf  den  dem  Titelhlatte  folgenden 
Blfitteni  i  (45)  nml  .S  eine  Anzahl  Bilder  /.u  sehen,  die.  wie  es  scheint. 
Verbereitungen  zum  Opfer  und  das  vollzogene  Opfer  darstellen:  ein  des 
Kopfes  beraubter  sehreiteniler  Oefangener,  Götterfiguren,  Netze  und  Stricke 
haltend,  endlich  iler  geopferte  (iefimgene,  dexsen  Ringewei<le  als  Kaum 
Eum  Himmel  emporwachsi'n.  auf  dem  Baume  tler  Adler,  der  das  Auge 
ans  der  Hnhle  lienLusziclit.     Der  Text  zeigt,   neben  ilen  Hifn>gly|dien  der 


gg  E.  Seler: 

Personen,  das  Zeichen  der  Verbindung  (Fig.  77,  78)  und  in  den  aufeinander 
folgenden  Abschnitten  die  Hieroglyphen  Fig.  456  (Dresden  2(45) a),  457 
bis  460  (Dresden  2(45)b  c)  und  461—462  (Dresden  2(45)d).  —  Auf  den 
folgenden  Blättern  der  Handschrift  treffen  wir  das  Zeichen  man ik  zunächst 
in  der  Hieroglyphe  Fig.  468,  die  auf  den  Blättern  4 — 10a  am  Kopfe  der 
Textgruppen  steht,  welche  dort  die  Darstellungen  der  zwanzig  Götter  be- 
gleiten. Weiterhin  folgen  Clötter  mit  Darbringungen.  Hier  sehen  wir  einmal 
(Blatt  10 — 12a)  die  Hieroglyphe  Fig.  4(54  (wechselnd  mit  Fig.  465),  das 
andere  Mal  (Blatt  12 — 13a)  die  Hieroglyphe  Fig.  466.  Auch  in  der  mittleren 
und  unteren  Reihe  der  Blätter  sehen  wir  Götter  mit  Darbringungen. 
Hier  stehen  einmal  (Blatt  10b)  die  beiden  Hieroglyphen  Fig.  467  und  468, 
sonst  (Blatt  10—1 2b)  die  Hieroglyphe  Fig.  469  und  weiterhin,  wo  die 
Götter  das  Zeichen  kan  in  der  Hand  haben,  die  Figg.  474 — *7i'.  In  der 
unteren  Reihe  derselben  Blätter  sind  die  Gegenstände,  welche  die  Götter 
in  der  Hand  halten,  im  Text  selbst  zu  sehen.  Daneben  einmal  (Blatt  4 
bis  5c)  die  Hieroglyphe  Fig.  470,  die  anderen  Male  (Blatt  i2c,  15c)  die 
Figg.  471—473. 

Ich  glaube  aus  den  angeführten  Vorkommnissen  schliessen  zu  müssen, 
dass  das  Element  manik  und  das  Element  Fig.  447  einander  yertreten. 
Zeigt  uns  nun  aber  das  Element  manik  bloss  die  nach  oben  ofTene  Hand, 
so  stellt  die  Fig.  447  ohne  Zweifel  eine  Hand  dar,  die  einen  Kopf  —  und 
zwar  den  Kopf  eines  Todten,  das  beweisen  die  geschlossenen  Augen  — 
darbringt.  Ich  bin  demnach  geneigt,  sowohl  diese  Figur,  wie  das  ihm 
äquivalente  Zeichen  manik  als  Symbol  der  Darbringung,  des  Opfers 
anzusehen,  und  meine,  dass  der  (rrund,  weshalb  das  Zeichen,  welches 
sowohl  die  Mexikaner,  wie  die  Cakchiquel  mit  dem  Namen  des  Hirsches 
benannten,  von  d(»n  Maya  in  dieser  Weise  dargestellt  wird,  darin  liegt, 
dass  der  Hirsch  vielleicht  als  das  zu  erlegende  Thier,  als  das  Opferthier 
x(tv  fifix^v  gilt;  und  darin  finde  ich  auch  den  Grund,  dass  die  das  Zeichen 
manik  enthaltenden  Hieroglyphen  synonym  auftreten  anderen  (Fig.  466, 
4()8),  die  ohne  Zweifcjl  wohl  die  Elemente  des  Vogels  enthalten.  U  luumil 
cutz  y-etel  ceh  „das  Lantl  des  Truthahns  und  «les  Hirsches**,  —  so 
nannten  ja  die  Maya  ihre  engere  Heimath. 

Beiläufig  bemerke  ich,  dass  die  Hieroglyphe  des  Hirsches  zweimal  in 
der  Dresdener  Handschrift  vorkommt.  Auf  Blatt  13  c  (Fig.  477)  und  auf 
Blatt  211)  (Fig.  478),    an    letzterer  Stelle    begleitet    von    dem   Symbol    des 

Todes! 

Ferner  bemerke  ich,  dass  die  bekannte  Hi(»roglyj)he  des  Kegengottes 
Chac  (IMg.  479)  das  in  den  obigen  Hieroglyphen  so  vielfach  vorkommende 
Klement  Fig.  447  wiedergiel)t.  nur  dass  statt  des  Kopfes  mit  geschlossenen 
Augen,  wie  es  scheint,  ein  Kopf  mit  auslauft»nden  Augen  in  der  Hand 
gehalten  wird.  Ich  erinnere  an  die  Idole  mit  weinenden  Augen,  welche 
nach  Las  CASAS  an  verschied(»nen  Stellen  von  (iuatemahi  V(T«»hrt  wurden. 


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68 


E.  SeleH: 


Wie  Btimmen  nun  aber  zu  dem  Cakchiquel-Wort  die  Tzental-  und 
Maya-Bezeichnuiigen  des  Tages?  In  diesen  ist  es  nicht  gut  möglich,  etwas 
anderes,  als  die  Wurzel  mol,  mul  „sich  vereinigen,  ansammehi,  häufen" 
zu  erkennen,  moloc,  muluc  „was  vereinigt,  gesammelt,  gehäuft  ist".  — 
Dürfen  wir  an  „Ansammlung  der  Gew^ässer"  denken? 

LaNDA  giebt  für  das  Zeichen  die  Fig.  495.  Im  Cod.  Tro  finden  wir 
die  Figg.  496—497,  ähnliche  und  die  Figg.  4i)8,  499  im  Cod.  Cortez.  Die 
Figg.  500  und  501  zeigen  die  Formen  der  Dresdener  Handschrift.  Eine 
sonderbare  Form  ist  nur  die  Fig.  506,  welche  uns  auf  Blatt  30b  des  Cod. 
Cortez  begegnet. 

Sollte  das  Mäya-Zeichen  mit  dem  mexikanischen  (atl)  überehistimmen, 
so  würden  wir  zunächst  an  ein  W^assergefäss  denken  müssen!  Das 
W^assergefäss  finden,  wir  in  den  Maya-Handschriften  einmal  (Dresden  34c) 
durch  die  Fig.  507  und  für  gewöhnlich  durch  die  Fig.  508  ausgedrückt. 
Häufig  aber  ist  das  Wasser  in   einer   von  dem  Leibe    einer  Schlange    ge- 


bildeten Schlinge  (oder  Sack)  g(»borgen.  Die  Schlangen,  die  Wolken- 
dämonen, sind  eben  diejenigen,  die  das  Wasser  verschlossen  halten,  die  ver- 
anlasst werden  müssen,  di(»  Schlinge  zu  lösen  und  das  Wasser  heraus 
fliessen  zu  lassen.  Auf  d(»n  von  dem  L(»il>e  der  Schlange  gebildeten, 
das  Wa8s(?r  bergenden  Säcken  —  auf  ihnen  sitzt  gebührendtTmaassen  der 
Chac  —  sehen  wir  in  Blatt  33 — 35b  der  Dresdener  Handschrift,  und 
ebenso  Cod.  Cortez  3 — 6a,  bestimmte  Zahlzeichen  angeg(d)en,  die  wohl 
der  Ausdruck  des  reichen  Inhalts  der  Säcke  sind.  Aehnlichc»  Zahlzeichen 
sehen  wir  auf  dem  (refäss,  welches  Cod.  Cortez  7b  auf  dem  Bauclu»  des 
Todesgottes  ruht  (Fig.  509).  Uanz  ähnliche  Zahlen  sehen  wir  aber  auch 
auf  dem  Bauche  der  (lestalten  (ungeschrieben,  «lie  wir  in  ganz  gleicher 
Ausstaffiruug  und  in  der  Haltung  gebärendt»r  Weiber  auf  Blatt  39  -40a 
des  Cod.  Cortez  und  29 — 30a  des  Cod.  Tro  abgi^bildet  sehen.  Auch  hier, 
glaube  ich,  scheint  mir  zweifellos  der  Inhalt  des  Bauchsackes  durch  die 
eingeschriebentui  Zahlen  zum  Ausdruck  gebracht  w(»rden  zu  sollen.  Es 
giebt    ein    hieroglyphisches    Klement,    welches    innerhalb    des    calciformeu 


Der  Charaktor  dor  aztekischen  und  der  Maja -Handschriften.  B9 

Umrisses  ebenfalls  eine  ein»cesehriehen(»  ])eHtininite  Zahl  aufweist.  Nun 
dieses  Element  fimltMi  wir  in  niero«i;lyph(»n,  wie  es  scheint,  einerseits 
synonym  vens-emlet  dem  WaHS(»r«i;(»fas8  —  v^l.  Fi^.  514  und  515,  die  im  Cod. 
Dresden  39c  Attribute»  (1(»8  Chae  ])ezeichnen  —  anden^rseits  (in  anderen 
Hieroglyphen)  dem  Elemente  muluc.  So  zeij^tMi  uns  die  F.igg.  510 — 512 
und  513  Hierop:lyphen,  welche  im  Cod.  Dresden  44(1)  45(2)b  und  40b  als 
Attribute  der  Blitzthien»,  der  Sturm«;enien  aufjj^eführt  sind.  Dass  in  diesen 
das  Element  muluc  enthalten  ist,  scheint  mir  zweifellos.  Nun  diese 
scheinen  stellenweise  vertreten  zu  w(»rden  durch  andere,  welche  statt  des 
Elementes  muluc  das  Element  mit  der  ein(i:eschriebenen  Zahl  enthalten. 
Ich  glaube,  dicme  Zusammenhänge  machen  es  doch  wahrscheinlich,  dass 
auch  das  Maya-ZeicIuMi  dieselbe  Bedeutung  hat,  wie  das  neunte  mexika- 
nische Zeichen,  dass  es  das  Wassergefäss,  b(»zw.  den  Wassersack  oder  den 
Bauch  der  Gewäss(»r  bezeichnet. 

Ich  behaupte  nun  allerdings  nicht,  dass  durch  die  Form  des  Zeichens 
das  (lefäss  zum  Ausdruck  gebracht  wird.  Mir  scheint  die  Form  desselben 
vielmehr  das  Wass eräuge^  bezeichnen  zu  sollen.  Ich  verweise  auf  die 
Darstellungen  im  Cod.  Tro  31 — 30d,  die  mit  dem  Wasser  ausgiessenden  Chac 
beginnen.  Hier  tn^ffen  wir  eine  den  Figg.  510 — 513  ganz  äquivalente 
Reihe  von  Hieroglyphen,  die  nur  mit  d«»m  nach  den  Himmelsrichtungen 
wechselnden  Element  (Element  der  Farbe?  vgl.  die  Fig.  13 — 16)  versehen 
sind  (Fig.  516 — 519),  und  die  das  Element  muluc  zu  einem  vollständigen 
Gesicht,  dem  des  Gottes  mit  der  Schlange  über  dem  Gesicht  (Fig.  33), 
ausbilden. 

Dit»  Formen,  welche  die  Bücher  d(»8  ChiLAN  Balam  für  das  Zeichen 
muluc  geben,  ähneln  zum  Theil  sehr  dem  vorigen  Zeichen,  und  ich  halte 
es  nicht  für  ausgeschlossen,   class  hier  irgeml  eine  Vorwechsebmg  vorliegt. 

10.  elab)  tzii,  OC.  Das  Zeichen  entspricht  dem  mexikanischen  itzcu- 
intli  ,,Hund",  und  eben  das  be<leutet  auch  im  Qu'iche,  Cakchiquel  und 
Pokomam  das  Wort  tzii,  tzi,  das  wohl  auf  eine  Wurzel  [tzi]  =  Qu'icho  ti, 
Ixil  chi,  Maya  chi,  „beissen.  Fleisch  fressen"  (Ixil  tzi,  Qu* iche,  Cakchiquel 
und  Maya  chi  „der  Mund*^)  zurückgeht. 

Der  Hund  heisst  im  Maya  pek  —  das  Wort  scheint  mit  einer  Wurzel 
^sich  faul  hinstrecken,  am  Bod(»n  liegen"  zusammenzuhängen  — :  und  der 
kleine  haarlose  einheimische  Hund,  der  eigentliche  itzcuintli  der  Mexi- 
kaner wird  bil  genannt,  bil  bedeutet  auch  „Rauhigkeit,  Saum  oder 
Köper  im  Gewebe^,  auch  die  „calcinirten  Knoch(»n,  die  zum  Rauhmachen 
der  Finger  b«'im  Spinnen  benutzt  werden":  bil  im  ist  „UnebenluMt  im  W^ege, 
Spur,  das  ausgescharrte  Lager  i»ines  Thieres". 

Das  Wort  oc  kann  dt»m  (lebrauch  nach,  dt»n  es  noch  heute  in  der 
Sprache  hat.  am  besten  mit  „da.s,  was  in  etwas  eingeht"  übersetzt  werden. 
£b  bedeutet  „das,  was  in  die  Hand  (»ingeht,  eine  Hand  volh;  es  bedeutet 
»Pubs,  Fusseindruck,  Spur",   und  als  Verbum  „hineingehen,  eintreten".  — 


70  E.  Sbler: 

Soll  man  annehmen,  dass  die  Priester,  statt  das  Thier  (den  Hund)  bei 
seinem  richtigen  Namen  zu  nennen,  ein  Wort  brauchten  (oc),  dessen  Begriff 
in  dem  Namen  des  Hundes  (bil)  ebenfalls  enthalten  war?  —  Ich  glaube, 
die  Vorstellung  ist  nicht  ganz  unberechtigt. 

Mit  dem  Tzental-Wort  elab  weiss  ich  nichts  anzufangen. 

Das  Zeichen  ist  im  LANDA  in  der  Form  der  Fig.  520  gegeben.  Im 
Cod.  Tro  treffen  wir  ähnliche  Formen  (Fig.  521 — 523);  einige  Male  aber 
(Tro  12a  12  c)  stellt  das  Zeichen  ein  ganzes  Gesicht  dar  (Fig.  524),  und 
hier  erkennt  man  deutlich,  dass  die  LANDA'sche  Figur  und  die  Figg.  521 
bis  523  nur  das  Olir  des  Thieres  darstellen  mit  einem  Paar  schwarzer 
Flecken  davor.  Im  Cod.  Cortez  und  im  Cod.  Perez  finden  sich  nur  die 
gewöhnlichen  Formen.  Die  Dresdener  Handschrift  zeigt  neben  den  ge- 
wöhnlichen Formen  (Fig.  525)  zunächst  solche,  die  gewissermaassen  nur 
die  oberen  Lappen  der  Ohrmuschel  darstellen  (Fig.  526),  dann  solch«», 
die,  wie  es  scheint,  statt  des  Ohres  einen  Ohrpflock  (Fig.  527),  endlich 
aber  auch  solche,  die  mehr  oder  minder  deutlich  ein  Gesicht  zeigen: 
Fig.  528  (Blatt  30b),  521>  (Blatt  30c),  530  (Blatt  Pia),  531  und  532 
(Blatt  45(2) a  und  64b).  —  Die  Bflcher  des  ChilaN  BalAM  haben  die 
Figg.  533 — 536,  die  augenscheinlich  aus  der  gewöhnlichen  Form  der  Hand- 
schriften entstanden  sind. 

Der  kleine  einheimische  Hund  8])ielte  auch  in  Yucatan  eine  Rolle. 
Er  wurde  als  Hausthier  gehalten,  castrirt  und  gemästet,  den  Götteni  als 
Opfer  geschlachtet  und  als  Festbraten  verzehrt.  Ich  habe  oben  erwähnt, 
dass  der  Hund  in  mexikanischen  Abbildungen  —  falls  er  nicht  roth  gemalt 
wird,  was  seinen  besonderen  mythologischen  Grund  hat  —  meist  mit 
schwarzen  Flecken  gezeichnet  wird,  un<l  dass  —  wenn,  wie  häufig,  statt 
des  ganzen  Thieres  das  Ohr  allein  gezeichnet  wird  —  clem  Ohr  dann 
regelmässig  die  Spitze  abgerissen  ist,  so  dass  dasselbe  einen  zerfetzten 
oberen  Saum  zeigt.  Nun  auch  in  den  Maya-Handschriften  treffen  wir 
mehrfach  ein  Thier,  welches  weiss  mit  schwarzen  Flecken  gezeichnet  ist, 
einen  Raubthierkopf  und  zerfetzte  Olm^nspitzen  hat  und  gewöhnlich  einen 
schwarzen  Fleck  um  das  Auge  aufweist.  Vgl.  die  Fig.  537 — 540,  die  der 
Dresdener  Handschrift,  und  Fig.  541,  die  dem  Cod.  Tro  entnommen  ist. 
Von  dem  Tiger,  dem  das  Thier  stellenweis  älmlich  sieht,  unterscheidet  es 
sich  —  ausser  durch  den  längeren  Kopf  un<l  die  zerfetzten  Ohren  — 
namentlich  durch  den  buschigen  Schwanz  —  der  Tiger  hat  einen  langen, 
glatt  behaarten  Schwanz  —  und  ich  glaube,  wir  werden  in  diesem  Thiere 
den  Hund  erkennen  müssen.  Das  Thier  figurirt  im  Cod.  Dresden  7a  in 
der  Reihe  der  zwanzig  Götter.  Im  Cod.  Dresden  13a  ist  es  gegenüber  einem 
Vogel  (Geier?),  Dresden  21b  der  (Jöttin  gegenüber  gezeichnet.  Im  Cod. 
Tro  25*c  folgen  aufeinander  unter  den  Zeichen  der  vier  Himmelsrichtungen 
(Fig.  18 — 21)  die  ganzen  (ic^stalten  eines  Menschen,  des  Ilinides,  des  Affen 
und  eines  Todtenvogels.     Im  Cod.  Tro  27b  sitzen  um  die  Göttin  mit  der 


Der  Charakter  der  aztekischen  und  der  Maya- Handschriften. 


71 


Sc'IiIangeiikopfbiiKlo  lieruin  <lor  Char,  der  IIuinl,  <las  Ueh,  der  Tiger  und 
da«  Schwein  —  letzteres  durch  starke  Keliaarung,  Rdssel  und  Hufe  ge- 
kennzeichnet. Endlieh  im  Cod.  I)re8<len  401)  (Fig.  540)  ist  das  Thier  mit 
dem  Kopfschmuck  des  Gottes  mit  dem  Kan-Zeichen  (Hob nil?)  geschmückt 
und  fungirt  als  Hlitzdämon. 

Die  Hieroglyphe  dieses  ThicM'es  (Fig.  542)  enthält  nun  allerdings  das 
Element  oc  nicht.  Sie  enthält  als  Hauptelement  ein  Element,  das  auch 
in  der  Hieroglyphe  des  Monatsnamens  Kankin  (Monat  April)  (Fig.  24  und 
25)  vorkommt,  und  das  ich  als  den  (»rigirten  Penis,  mit  welchem  das  Thier 
im  Cod.  Dresden  13c  in  der  That  gezeichm^t  ist,  auffassen  möchte.    Diese 


Sti-      ^t^      SZZ      Si^.    ^it. 


r$o 


y$t    ^^  J2L^J2i 


shs 


Hieroglyphe  ist  im  Cod.  l)res<leii  40 i»,  wo  das  Thier  als  Blitzdämon  fungirt. 
mit  dem  Element  des  llinnnels  (vgl.  ol)en  S.  53  Fig.  300  und  301)  associirt 
(Fig.  543).  Als  Attribute  fiiid«»n  wir  im  (\m1.  Dresden  7a  der  Haupt- 
hieroglyi>he  die  Hieroglypln'n  Fig.  544  54^>.  d.  h.  das  Symbol  des  Adlers. 
<ler  Eule  und  des  Kaubthit»res(?)  hinzugefügt. 

Enthält  nun  abi'r  aurh  die  Ilieroglypli«'  dieses  Thieres  das  EhMuentoc 
nicht,  so  ist  doch  ein«?  ßezi»diung  zwischen  dem  Kb.'mente  oe  und  diesem 
Thiere  dadiurch  vermittelt,  dass  wir  das  Klement  or.  in  d«»r  Form,  wie  es 
ilie  Figg.  531  und  532  zeigen,  in  einer  Hieroglyphe  wiedertinden  (Fig.  547), 
iHe  überall  in  (Si^sellschaft  von  Hieroglyphen  auftritt  (Fig.  .'-4^  550), 
welche  ohne  Zweifel  ilen  lUitz  odf»r  .Vttribute  der  SturnigeniiMi  darstrUeu, 
iinil  femer,   duss  wir  im  Cod.  Dresden  (Jl-    <)3  Formen   des  Monatsnamens 


72  E.  Selek: 

Xul  findeu,  welche  statt  der  Thiere  mit  dem  akbal  über  dem  Auge,  — 
die  ich  oben  schon  als  Blitzthiere  angesprochen  habe  (vgl.  Fig.  340  u.  341)  — 
unser  Zeichen  oc  enthalten  (Fig.  551  und  552). 

Die  Beziehung  des  Hundes,  bezw.  des  Zeichens  oc  zu  den  Blitzgenien, 
d.  h.  doch  wohl  den  (lottern  der  Winde  oder  den  Göttern  der  vier  Himmels- 
richtungen, scheint  endlich  der  (rrund  zu  sein,  dass  wir  als  sehr  gewöhn- 
liches Attribut,  zunächst  des  Chac,  dann  Bolen  Zacab's  und  einer  Reihe 
anderer  Götter,  eine  Hieroglyphe  finden  (Fig.  553  und  554 — 555),  welche 
mit  einem  Zahlzeichen  (4  im  Cod.  Cortez  IIa,  sonst  3),  das  Element  oc 
und  ein  anderes  (Fig.  70 — 71)  verbindet,  das  ich  oben  als  Symbol  des 
Vogels  angesprochen  habe,  das  aber  auch  für  die  einen  Mann  bezeichnenden 
Elemente  eintritt. 

11.  batz,  ba'tz,  chuen.  Das  Zeichen  entspricht  dem  mexikanischen 
OQomatli  „Affe",  und  dieselbe  Bedeutung  wird  auch  im  Qu'iche  und 
Cakchiquel  für  das  Wort  ba'tz  angegeben,  obwohl  daneben  noch  und,  wie 
es  scheint,  häufiger  das  Wort  c'oy,  im  Maya  max,  niaax  verw^endet  wird. 

Das  Wort  chuen  hat  im  heutigen  Maya  keine  Bedeutung  mehr.  Es 
giebt  ein  Wort  chuenche,  welches  „Brett"  bedeutet,  und  mit  dem  man 
auch  einen  bestimmten  Baum  bezeichnet  (tabla,  y  un  arbol  asi  llamado). 
Dass  indess  das  Wort  chuen  mit  batz,  bez.  mit  dem  Aften  in  bestimmter 
Beziehung  steht,  das  scheint  mir  aus  einer  Legende  des  Popol  Vuh  hervor- 
zugehen. 

Der  zweite  Theil  des  Popol  Vuh  beginnt  mit  der  Erzählung  des  Ur- 
sprunges der  beiden  Heroengötter  Ilunahpu  und  Xbalanque  (Sonne  und 
Mond,  wie  ich  oben  schon  angeführt  habe).  Von  den  Urahnen  (iyom, 
mamom)  Xpiyacoc  und  Xmucane  werden  in  der  Nacht  die  beiden 
Söhne  Hun  hunahpu  undVukub  hunahpu  erzeugt.  Der  letztere  bleibt 
ledig.  Aber  der  erstere  erzeugt  mit  der  Xbakiyalo  die  beiden  Söhne 
Hun  batz  und  Hun  chouen.  Diese  werden  geschickte  und  in  allerhand 
Künsten  erfahrene  Leute:  Flötenspieler,  Sänger,  Blasrohrschützen,  Bilder- 
schriftkundige, Bildhauer,  Steinschneider,  (loldschmicMle.  H  unh  un  ahpu 
und  Vukub hunahpu,  <lie  gewaltigen  Ballspieler,  verlassen,  einer  Heraus- 
forderung der  unterweltlichen  Mächte  folgend,  ihn»  alte  Mutter  und  die 
beiden  Gebrüder  Hunbatz  und  Hunchouen,  die  Ijei  der  Grossmutter 
zurückbleiben,  und  steigen  in  das  Keich  Xibalba,  in  die  UnterAvelt,  hinab. 
Dort  erliegt  Ilunhunahpu  den  Todesmächten.  Aber  aus  dem  Speichel, 
den  sein  an  dem  Kopfbaum  (Calebassenbaum)  aufgestecktiT  Kopf  in  die 
geöffnete  Hand  der  Jungfrau  Xquic  speit,  werden  (unbeHeckt)  die  Ge- 
brüder Hunahpu  und  Xbalanque  empfangen.  Diese,  im  Walde  geboren 
imd  erzogen,  schiessen  mit  dem  Blasrohr  allerhand  Vögel  und  bringen  sie 
der  (irossmutter  (Xmucane)  und  den  älteren  Brüdern  (Hunbatz  und 
Hun  chouen"^.  Aber  letztere  l)ehandeln  sie  schlecht.  Um  sich  zu  rächen, 
fordern  die  Jünglinge  ihre  älteren  Brüder  auf,  ihnen  aus  den  Zweigen  des 


Der  Charakter  der  azteldschen  tmd  der  Maja -Handschriften. 


73 


Baumes  can-to  (Schlangonbaiim)  die  Vögel  herunterzuholen,  die  sie  ge- 
schossen, und  die  beim  Fall  dort  hängen  geblieben  siml.  Ilunbatz  und 
Ilunchouen  folgen  der  Aufforderung.  Aber,  als  sie  oben  sind,  wächst 
der  Baum  in  die  Hohe,  dass  sie  nicht  mehr  hinunter  können.  Und  als 
sie  ihro  Schambinden  abnehmen,  um  sich  an  diesen  herunterzulassen, 
werden  diese  zu  Schwänzen.  Ilunbatz  und  Hun  chouen  werden  zu 
Affen.  Ihre  (irossmutter  freilieh  möchte  sie  zurück  haben.  Und  ihr  zu 
Liebe  locken  Ilunahpu  und  Xbalanque  viermal  mit  der  Flöte  und  der 
Melodie  hunahpu  c'oy  (Affeuzauber)  die  Brüder  aus  dem  Walde  hervor. 
Aber  ihr  Tanzen  und  ihre  Geberden  sind  so  komisch,  dass  die  Alte  jedes- 
mal zu  lachen  anfängt.  Dadurch  werden  sie  immer  wieder  verscheucht, 
und  so  bleiben  sie  im  Walde  und  bleiben  Affen. 

Nun,  dass  hier  chouen  dasselbe  ist  wie  Maya  chuen,  und  dass 
chouen  der  Zwillingsbruder  von  batz,  wie  Ilunchouen  der  Zwillings- 
bruder von  Hun  batz,  des  Affen,  ist,  dass  demnach  auch  in  dem  Worte 
chouen,  chuen  der  Begriff  „Affe"  liegt  —  das  scheint  nicht  bezweifelt 
werden  zu  können. 


f6^       S6i      nt    S4\ 


ry<yv%iL<«»«##, 


liANDA  giobt  für  das  Zeichen  die  Fig.  556.  Im  Cod.  Tro  finden  wir 
die  Formen  Fig.  557—559.  Dieselben  hat  auch  der  Cod.  Cortez.  Im 
ersten  Theil  der  Dn»sdener  Handschrift  finden  sich  ausschliesslich  Formen, 
die  der  Fig.  559  gleichen,  aber  zum  Theil  mit  der  Variaute  Fig.  560.  Im 
zweiten  Theil  d(»r  Dresdener  Handschrift  begegnen  wir  Formen,  die  den 
Pigg.  557  und  558  gleichen.  Eine  besondere  vereinzelte  Form  ist  Fig.  561, 
die  sich  im  Cod.  Dresden  321)  findet.  Der  Cod.  Perez  hat  die  Fig.  562, 
also  eine  ähnliche  Variante,  wie  derselbe  Codex  für  das  Zeichen  kan 
aufweist.    Auf  den  Reliefplatten   von  Palcnque  findet  man  vielfach,   und 

Z«itochrill  für  EthnMlogt«.    Jahrg.  1888.  6 


74  £•  Seler: 

mit  verschiedeneil  Zahlenwerthen  verbunden  ein  Element,  das  mit  dem 
Zeichen  chuen  die  grösste  Aehnlichkeit  hat  (vgl.  Fig.  563).  Die  Bücher 
des  ChILAN  BalaM  geben  die  Formen  Fig.  564—567. 

Den  Affen  sehen  wir  unverkennbar  dargestellt  auf  dem  Blatt  25  c  des 
Cod.  Tro  (Fig.  570),  imd  zwar  in  der  merkwürdigen  Reihe  Mensch  (dar- 
gestellt durch  den  kopflosen  Rumpf  oder  Rumpf  mit  Haarschopf,  der  auch 
als  hieroglyphisclies  Element  eine  Rolle  spielt;  vgl.  Fig.  56),  Hund,  Affe, 
Todtenvogel.  Ueber  ilmon  stehen  vier  Hieroglyphen,  welche  die  be- 
treffenden vier  Wesen  zu  nennen  scheinen.  Und  beide,  Gestalt  und  Hiero- 
glyphe, stehen  in  einer  Columne  mit  je  einem  der  Hieroglyphen  der  vier 
Himmelsrichtungen  (Fig.  18 — 21).  Die  Hieroglyphe,  durch  welche  der 
Affe  bezeichnet  wird,  ist  unverkennbar  (Fig.  571).  Aber  dieselbe  Hiero- 
glyphe bezeichnet  auch  den  Menschen.  Und  der  Hund  ist  durch  eine 
besondere  Hieroglyphe  bezeichnet,  die  ich  anderwärts  nicht  gefunden  habe 
(Fig.  555  a\ 

Nun  eine  ähnliche  Hieroglyphe  finden  wir  auch  auf  Blatt  15a  b  der 
Dresdener  Handschriften  (Fig.  569).  Wir  sehen  den  Affenkopf,  dessen 
eigenthümlichste  Besonderheit  gegenüber  dem  menschlichen  Schädel  in 
der  starken  Einsattelung  zwischen  Stirn-  und  Nasentheil,  bezw.  in  dem 
starken  Vorspringen  des  Gesichtsschädels  liegt.  Aber  dass  der  Affe  gemeint 
ist,  ist  in  dieser  Hieroglyphe  noch  besonders  dadurch  markirt,  dass  statt 
des  Auges  das  Zeichen  chuen,  das  Zeichen  des  Affen  gesetzt  ist.  Die 
Hieroglyphe  steht  neben  einer  anderen,  Fig.  568,  welche  diejenigen  Elemente 
enthält,  die  wir  oben  als  Darbringung,  als  Opfer  gedeutet  haben.  Daneben 
findet  sich  in  dem  oberen  Abschnitt  des  Blattes  eine  dritte  Hieroglyphe 
(Fig.  575),  die  ich  vorderhand  nicht  analysiren  kann.  Alle  drei  Hieroglyphen 
begleiten  eine  merkwürdige  Darstellung:  eine  Reihe  Göttergestalten,  die 
zwischen  Blättern  und  Gezweig  herabstürzen,  indem  ihre  Gliedmassen 
zum  Theil  in  Blätter  auswachsen. 

Dieselben  Hieroglyphen  (Fig.  572  und  574)  finden  wir  neben  einer 
anderen  (Fig.  573)  auf  Blatt  17* b  des  Cod.  Tro,  wo  Götter  aus  dem 
Gezweig  eines  Baumes  heraus  sich  kundzugeben  scheinen. 

Ist  bei  diesen  Hieroglyphen  und  diesen  Darstellungen  ein  direkter 
Zusammenhang  mit  dem  Affen  noch  denkbar,  und  öogar  wahrscheinlich  — 
der  Affe  ist  das  Thier  der  luftigen  Höhe,  der  im  Gezweig  sein  Wesen 
treibt.  —  so  finden  wir  in  den  Handschriften  auch  noch  ein  anderes  Thier, 
das  in  dc^rselben  Weise  statt  des  Auges  das  Zeichen  chuen  enthält.  Das 
sind  die  vier  Blitzfaokeln  in  den  Händen  tragenden  Thiere  Fig.  576  (Cod. 
Tro  i^2— )i3c),  die  also  eine  dritte,  bezw.  vierte  Klasse  von  Sturmgenien 
oder  Blitzthieren  darstrUen  (vgl  die  Figg.  339,  540  und  die  Bilder  44(1), 
45(2) b  der  Dresd<Mier  Handschrift). 

An  die  Fig.  569  und  den  eben  gezeichneten  Kopf  des  Blitzthieres 
schliesst  sich  die  Hieroglyphe  Fig.  577  an,  von  der  wir  oben  schon  (Fig.  550) 


Der  Charakter  der  aztekitfoheu  und  der  Maya- Handschriften.  75 

eine  interossanto  Variante  gozeiclmet  haben.  Die  Hieroglyphe  steht  im 
Cod.  Dresden  29 — 30b  vor  den  Zeichen  der  llimmelsriehtungen,  an  der 
Spitze  der  Hieroglyphengruppen,  welche  den  begleitenden  Text  zu  Bildern 
Chac's  bilden,  und  erinnert  insofern  an  die  Hieroglyphe  Fig.  37  und  38 — 43, 
welche,  wie  wir  zeigten,  den  Fanger,  den  Jilger,  den  Krieger  bedeutet. 
Die  Hieroglyphe  enthält  zwei  Merkmale,  die  an  den  Kopf  eines  Todten 
erinn(»rn:  die  freiliegenden  Zähne  und  die  sich  anschliessende  Linie,  das 
Residuum  des  aufsteigenden  Astes  des  Unterkiefers,  und  die  Kugeln  oder 
Tropfen  unter  der  Hieroglyphe.  Eine  Besonderheit  sind  die  beiden  schnur- 
förmig  auseinandergehenden  Enden  am  oberen  Theil  der  Hieroglyphe. 
Mir  scheint  das  in  Verbindung  gebracht  wenlen  zu  müssen  mit  Bildern, 
welche  einen  Krieg(»r  zeigen,  der  einen  abg(»8chnittenen  Kopf  oder  eine 
ganze  Figur  in  der  Schlinge  trägt.  Vgl.  Cod.  Dresden  67a,  Cod.  Cortez  27b. 
Im  Text  sehen  wir  an  ersterer  Stelle  den  Vorgang  ausg(»drückt  durch  die 
Hieroglyphe  Fig.  578  (3Iann  mit  dem  abgeschnittenen  Kopf  in  der  Schlinge), 
eine  Hieroglyi)he,  die  in  ganz  ähnlicher  Form  (Fig.  578  a)  im  Cod.  Tro 
20* — 23 *a  an  der  Spitze  der  Hieroglyphengruppen  zu  sehen  ist,  die  den 
begleitenden  Text  zu  einer  Anzahl  Darstellungen  von  in  der  Schlinge  oder 
Falle  gefang(»nen  Thieren  bilden.  —  Beiläufig  bemerke  ich,  dass  die 
letzteren  beiden  Hieroglyphen  weitere  Beweise  für  die  von  mir  aufgestellte 
Behauptung  heranbringen,  dass  die  Fig.  60  (das  Zahlzeichen  zw^anzig)  den 
abgeschnittenen  Kopf  bedeutet. 

Mit  der  Hieroglyphe  Fig.  577  hat  eine  unbestreitbare  Aehnlichkeit 
die  Hieroglyphe  des  Monatsnamens  tzec,  von  der  ich  in  der  Fig.  579  die 
LANDAsche  Form,  in  den  Figg.  580 — 582  die  Formen  der  Dresdener  Hand- 
schrift gebe,  tze,  tzee  bedeutet  den  zermalmten  oder  grob  gemahlenen 
Mais,  bezw.  «las  Zermalmen,  Zerstossen  (im  Gegensatz  zu  dem  fein  Zer- 
reiben); tzeec  die  Zermalmung,  Züchtigung,  Busspredigt,  tzec,  tz'ec 
den  Schutt  oder  die  Ruinen  alter  (lebäude.  tzec  scheint  demnach  den 
„Zermalmer*^  zu  bedeuten.  Der  Monat  tzec  ist  der  Monat,  in  welchem 
die  Bienenzüchter  dem  Bacab  und  insbesondere  dem  Hobnil  (d.  i.  dem 
Kanal  Bacab)  Opfer  brachten.  Der  Honig  war  für  die  alten  Maya 
viel  weniger  der  süsse,  die  Speisen  würzende  Stoff,  als  derjenige,  von  dem 
der  Honigwein  (ci),  das  beniuschende  Getränk,  gemacht  wurde.  Der 
Monat  Tzec  war  ein  grosses  Saufgelage,  weil  in  ihm  die  Bienenzüchter, 
frommen  Sinnes,  den  zu  dem  Getränk  nothigen  Honig  in  Menge  spendirten. 
Darin  scheint  mir  die  Bedeutung  fies  Namens  und  der  Hieroglyphe  dieses 
Monats  zu  liegen.  Ich  erinnere  daran,  dass  in  Mexico  der  Gott  des  Weins 
tequechmecaviani  „der  Erwürger**,  teatlahuiani  „der  Ertränker" 
genannt  wird. 

In  gleicher  verwandtschaftlicher  Beziehung  zu  der  Hieroglyphe  Fig.  577 
scheint    die   Hieroglyphe   Figg.  583 — 585    zu    stehen,    die    in  der  mittleren 

AbiheiluDg  der  linken  Seite  der  Blätter  46—50  der  Dresdener  Handschrift, 

6* 


76 


£.  Selbr: 


associirt  der  Hieroglyphe  Figg.  318,  31 1>,  je  einer  der  vier  Himmelsrichtungen 
und  je  einer  von  zwanzig  Gottheiten  und  einem  bestimmten  Monatsdatum 
zugeschrieben  ist.  In  der  oberen  Reihe  derselben  Blätter  wiederholen  sich 
(mit  anderen,  aber  analog  geordneten  Monatsdaten)  dieselben  20  Gottheiten, 
dieselben  Hieroglyphen  Figg.  318,  319  und  dieselben  Zeichen  der  Himmels- 
richtungen, aber  statt  der  Hieroglyphe  Figg.  583 — 585  steht  hier  die  Hiero- 
glyphe Fig.  443  —  der  Mann,  der  das  Messer  halt  oder  darreicht.  — 

Endlich  erscheint  das  Zeichen  chuen,  gewöhnlich  nicht  einzeln,  sondern 
in  Gruppen  von  zwei  oder  drei  und  mit  Zahlzeichen  versehen  (Fig.  586) 
unter  den  Opfergaben.  Allerdings  nur  an  bestimmten  Stellen  der  Hand- 
schriften. So  auf  Blatt  25 — 28  des  Cod.  Dresden.  Femer  auf  den  zu- 
sammengehörigen Blattern  im  Cod.  Tro  3()  und  Cortez  22,  wo  diese  chuen- 
Packete  besondere  Reihen  bilden,  die  mit  anderen  —  die  Zeichen  der 
Himmelsrichtungen,  Hieroglyphen  der  Windgötter  oder  mannigfaltige  andere 
Opfergaben  enthaltenden  Reihen  abwechseln.  Endlich  auf  den  Blättern  10* 
bis7*b  des  Cod.  Tro,  wo  sie  im  hieroglyphischen  Text,  hinter  den  Sym- 
bolen der  Götter,  anfangs  neben  Abbreviaturen  der  unten  im  Bild  dar- 
gestellten Opfergaben,  weiterhin  allein,  wie  an  Stelle  der  letzteren  stehen. 


E300 


In  den  unmittelbar  darauf  folgenden  Blattern  7*— 5*b  des  Cod.  Tro  sieht 
man  neben  den  Zeichen  der  Opfergabon,  wie  es  scheint,  an  Stelle  der 
chuen-Packete  die  Hieroglyphe  Fig.  587,  die  auch  in  der  Dresdener  Hand- 
schrift (Fig.  588)  an  mehreren  Stellen  neben  Opfergaben  vorkommt. 

12.  euob,  ee,  eb.  E,  ye  heisst  „die  Schneide",  „die  Schärfe«,  „der 
Einschnitt";  eb,  ebil,  ebal,  yebal  (eine  Reihe  Einschnitte),  Stufenreihe, 
Treppe.  —  Auch  im  Quiche-Cakchiquel  heisst  e  der  Zahn,  die  Schneide; 
ee  ist  die  Cakchiquel-Pluralform  des  Wortes,  für  eeb  des  Quiche.  — 
Auch  euob  des  Tzental  ist  eine  Pluralform,  wie  ich  vermuthe,  von  einem 
Singular  eu  =  ee.  —  Der  Name  «Ifirfte  also  in  allen  Sprachen  das  Gleiche, 
und  zwar  „Zahnreihe",  „Spitzenreihe"  beztMchnen  —  eine  Bedeutung,  die 
zu  manchen  mexikanischen  Formen  des  Zeichens  (Figg.  113,  114),  sowie 
zu  dem  Meztitlan  -  Namen  des  Zeichens  (itlan  „sein  Zahn")  vortreflFlich 
passen  würde. 

Das  Zeichen  ist  im  LanDA  durch  die  Fig.  589  gegeben.  Im  Cod.  Tro 
finden  sich  die  Figg.  590  und  591.  Aehnliche  im  Cod.  Cortez.  In  der 
Dresdener  Handschrift  haben  wir  die  Formen  Figg.  592—595  und  Fig.  597. 
Im  Cod.  Perez  treffen  wir,  neben  den  gewöhnlichen  Formen,  die  Pig.  596. 


Der  Charakter  der  aztekischen  and  der  Maya- Handschriften.  77 

Das  Zeichen  zeigt  eine  unverkennbare  Aehnlichkeit  mit  dem  unten 
zu  erwähnenden  Zeichen  men,  welches,  gleich  unserem  Zeichen,  ein  Gesicht 
darstellt,  mit  eingekniifonom  Mundwinkel  (Oreisengesicht).  Nur  sind  bei 
dem  Zeichen  men  regelmässig  noch  Wangenfalten  und,  wie  es  scheint, 
borstige  Augenbrauen  gezeichnet,  und  es  felilt  die  von  Punkten  oder 
Härchen  eingefasste  Linie  an  der  Seite  des  Kopfes.  —  Ich  werde  unten 
zu  erwähnen  haben,  dass  mir  das  Zeichen  men  den  Kopf  einer  greisen 
Göttin  darzustellen  scheint,  und  dass  ich  diese  mit  der  mexikanisch  ce 
quauhtli  genannten,  also  gewissermaassen  als  Patronin  <les  Zeichens 
quauhtli-mon  fungirenden  Göttin  identisch  halte.  Nun  unter  dem  Namen 
ce  malinalli  —  das  wäre,  in s  Yukatekische  übersetzt,  hun  ob  —  finden 
wir  im  Cod.  Yiennensis  16,  neben  der  Göttin  ce  quauhtli,  einen  alten 
Gott  mit  eingeknifTenem  Mundwinkel  und  wallendem  Barte,  der  unzweifel- 
haft den  Tonacatecutli,  den  Herrn  unseres  Lebens,  den  Urvater  dar- 
stellt. Dem  Tonacatecutli  entspricht  der  yukatekische  Itzamnä.  Nun 
ist  die  Hieroglyphe  dieses  Gottes  allerdings  ganz  anders  constituirt 
(Fig.  601).  Aber  ich  habe  schon  erwähnt,  dass  das  besondere  Kennzeichen 
dieses  Gottes  das  von  Punkten  umgebene  Zeichen  akbal  ist  (Fig.  326), 
und  dasselbe  Zeichen  finden  wür  gelegentlich  in  Hieroglyphen  auf  dem 
hinteren  Theile  des  Schädels.  Vergl.  Fig.  602  (Cod.  Perez  8.).  Es  erscheint 
mir  nicht  ganz  unmöglich,  dass  die  von  Punkten  umgebene  Zacke  des 
Zeichens  eb  eine  Abbreviatur  der  Fig.  326  ist. 

Die  BQcher  des  ChiLAN  BaLAM  geben  für  das  Zeichen  eb  die  Formen 
der  Figg.  598 — 600,  die  mit  der  Form  der  Handschriften  offenbar  nichts  zu 
thun  haben.  Ich  weiss  dieselben  auch  nicht  zu  erklären,  es  sei  denn,  dass 
man  in  ihnen  ein  Geflecht  sieht,  —  und  dies  könnte  an  das  mexikanische 
malinalli -Strohseil  erinnern. 

Das  Zeichen  wird  in  Hieroglyphen  kaum  verwendet.  Als  einziges 
Vorkommniss  kann  ich  anführen,  dass  sich  das  Zeichen  eb  in  dem  Wasser 
findet,  welches  auf  dem  letzten  Blatte  der  Dresdener  Handschrift  die  alte, 
krallenbewaffnete,  rothe  Göttin  aus  dem  Kruge  giesst. 

13.  been,  ah,  ben.  Das  Qu'iche-Cakchiquel-Wort  ah  soll  nach 
XlMENEZ  und  BRASSEUR  „Rohr**,  „Maisstaude"  (cana,  mazorca)  bedeuten. 
Das  Wort  hängt  vielleicht  zusammen  mit  dem  Worte  ac,  womit  man  in 
Yucatan  eine  wild  wachsende,  liohe,  breitblättorige  Graminee,  die  zum 
Dachdecken  verwendet  wird,  bezeichnet. 

Die  Wurzel  ben,  been  heisst  im  Maya  „verbraucht".  Wir  haben 
bencliahal  „verbraucht  werden",  beentah,  bentah  „allmählich  aufzehren", 
benel,  ])inel  „ausgehen",  „mangeln",  dann  „weggehen**,  „gehen"  überhaupt. 

Das  Zeichen  ist  in  sehr  übereinstimmender  Form  sowohl  im  LaNDA 
(Fig.  603),  wie  in  den  Handschriften  (Fig.  604  und  605)  gegeben.  Beson- 
dere Formen  sind  nur  die  inverse  Fig.  606  (Cod.  Tro),  die  bereicherte 
Fig.  607   (Tro  7*b)    und    die   abweichende    Fig.  608   (Dresden  10  c).    — 


78 


E.  SeLEK: 


Pigg.  ß09— (512  sind  die  Formen,    welche  die  BQclier  des  ChiläN  BaLAM 
gobeii. 

Was  Hill)  lÃœB  Bedeutung  dieses  Zeichens  angeht,  so  unterliegt  es 
keinem  Zweifel,  ilass  ilie  Figur  desselben  hervorgegangen  ist  aus  der  Zeich- 
nung des  Rolirgeflechtes,  der  Matte.  —  Die  Matte  erscheint  in  mexi- 
kanischen Malereien  iu  der  aus  dem  Cod.  Meiidoza  u.  a.  genugsam  bekannten 
Form  Fig.  G1.3.  (ienau  ebenso  sehen  wir  dieselbe  im  Cod.  Tro  abgebildet 
(Fig.  614).  Die  Dächer  der  Tempel  und  iiäuser  sind  in  mexikanischen 
Malereien,  wo  irgend  genauere  Zeichnung  vorliegt,  regelmfissig  mit  gelber 

(a|.        *•*       60S-       i66-      joi      ioV         <«T.      ÄÄ      6«      Stf. 

^^  to?  ^^  ^^  ^^  ^S  ujjJot  es  ^S 


Farl>t>  gegcbi'n,  und  Stricholungen  lassen  erkennen,  das»  man  Logen  von 
Stndi  übereinmiiler  sciiiciitcte.  iu  (Icrselben  Weise,  wie  man  in  unseren 
(li-tli-nden  die  Stroh  da  eh  er  baut  oder  liautc.  Ein  fester  geflochtener  First 
sicherte,  wie  es  scheint,  den  ZiiHammenhatig  des  (ianiten.  Vcrgl.  Fig.  (il.'i. 
In  Yiicatan  sciicint  /um  Theil  anderes  Material  (ralmblAtter)  zum  Dach- 
decken  verwantlt  worden  zu  sein.  Ucn  oberen  Kchluss  liildete  aber  immer 
die  rohrgefiocliteiie  Matte,  bczw.  da^  festgefloclitene  Strohbaiid.  Und  wir 
küuueii  Formen    der  Matte  gerade  an  diesen  Tempeldächeru  gut  etudiren. 


Der  Charakter  der  aztekischen  und  der  Maya-HaDdschriflen.  79 

Vgl.  die  Pijj;g.  017 — 620.  Das  weite  Ueberliangen  der  Dächer,  welches 
diese  Zeichnungen  zeigen,  entspricht  der  Art  der  yukatekischen  Häuser, 
so  wie  sie  LaNDA  boschreibt.  Ein(»  Wand  theilt  den  ganzen  Raum  in 
zwei  Theile,  Die  vordere  Hälfte,  an  den  Seiten  vollständig  frei,  nur  von 
dem  überhangenden  Dache  bedeckt  bildet  eine  Art  offener  Veranda,  das 
Empfangszimmer  und  der  gewöhnliche  Aufenthalt  des  Hausherrn  bei  Tage. 
Die  hintere  Hälfte  (las  espaldas  de  la  casa)  ist  geschlossen  und  enthält 
<lie  Sehlafräume  der  Familie. 

Es  giebt,  wie  ich  schon  oben  S.  7  erwähnte,  eine  (iruppe  Hieroglyphen, 
welche  ven»vendet  werden,  bald  das  Tragen  in  einer  Matte,  (Fig.  616,  Cod. 
Dresden  20c,  621),  bald  das  Sitzen  auf  einer  Matte  (Fig.  622),  bald  das 
3[attendach  des  Tempels  oder  den  Tempel  selbst  zu  bezeichnen  (Figg.  621 
und  623—630).  Diese  Hieroglyi)he  enthält  als  Hauptelement  das  Element 
der  Matte  und  ein  Symbol  des  Tragens,  —  die  Hand  (Fig.  621)  oder  Ele- 
mente, die  sich  au&  der  Zeichnung  der  Hand  entwickelt  haben  (Figg.  444 
und  445);  und  man  kann  an  diesen  Hieroglyphen  mit  voller  Deutlichkeit 
den  Uebergang  der  realistisch  gezeichneten  Matte  in  das  Zeichen  ben 
verfolgen. 

Die  Formen  des  Zeichens  ben,  welche  die  Bücher  des  CHILAN  BAIiAM 
geben,  zeigen  — wie  man  in  Fig.  619  sieht  —  ebenfalls  das  Mattengeflecht, 
nur  in  anderer  Zeichnung. 

Das  Zeichen  ben  ist  einer  ganzen  Anzahl  wichtiger  Hieroglyphen  — 
sowohl  in  den  Handschriften,  als  in  den  Reliefs  —  associirt  dem  Element 
Fig.  6.M.  Dasselbe  ist  in  der  Regel  als  Variante  des  Zeichens  ik  gedeutet 
worden.  Es  tritt  in  einem  gewissen  Gegensatz  zu  d(»ni  Zeichen  kan  auf. 
Wir  sehen  z.  li.  im  Cod.  Tro  14* — 13*a  eine  Reihe  Götter  auf  dem  Zeich«»n 
cauac  sitzen.  Die  Götter  des  Regens,  der  Fruchtbarkeit,  des  Lichts  halten 
das  Zeichen  kan  in  der  Hand,  die  Todesgötter  das  Zeichen  Fig.  (;32,  also 
unser  ElennMit  von  einem  Punktkranz  umgeben.  \)or  Punktkranz  verleitet 
dazu,  an  die  Flamm«»  zu  denken.  In  der  That  sehen  wir  das  Element 
(vgl.  Figg.  (>3;i  63())  auf  dt^n  Blättern  25— 2H  der  DresdeiuM-  Handschrift 
im  Feuer  von  den  Flammenzungen  umlodert,  ganz  ähnlich,  wie  im  Cod. 
Tro  an  v(»rschiedenen  Stellen  di(^  bekannte  schraub(»nförmige  Figur  (Fig.  635) 
im  Centrum  der  Flamme  zu  sehen  ist.  Dieser  schraubenförmigen  Figur 
tritt  das  Element  Fig.  631  auch  in  zusammengesetzten  Hieroglyj)hen  homolog 
auf,  z.  B.  in  den  Hieroglyphen  Figg.  (>36— 630.  Diese  Hieroglyphe  ist,  be- 
gleitet von  der  Hieroglyphe  Fig.  468,  auf  Blatt  18*a  des  Cod.  Tro  zu  sehen, 
wo  Götterfiguren  mit  dem  Obsidiansplitter  sich  das  Ohrläppchen  durch- 
bohren und  das  Blut  auf  unten  am  Boden  liegende  schüsseiförmige  Gegen- 
stände fliessen  lassen. 

Ich  möchte  das  Element  als  Symbol  des  Feuers  oder  des  Brennens 
auffassen  und  glaube,  dass  die  beiden  Elemente  —  ben  und  das  eben 
besprochene  —  neben  einander  eine  ähnliche  Bedeutung  haben,    wie   dai 


gO  E.  Seler: 

stürzende  Tempeldach  und  die  darunter  hervorschiessenden  rauehumhüUten 
Plammenzungen,  d.  h.  Eroberung,  Krieg,  Unterwerfung,  Zerstörung. 

Dazu  scheint  die  Art  der  Hieroglyphen,  in  welchen  diese  Gruppe  vor- 
kommt, Avohl  zu  passen.  Wir  finden  dieselbe  nehmlich  zunächst  in  der 
Fig.  640.  Das  ist  die  Haupthieroglyphe  des  Sonnen-  und  Kriegsgottes 
Kinch  ahau,  dem  nach  LaNDA  am  Vorneujahrsfest  der  muluc-Jahre 
(richtiger  wohl  der  cauac- Jahre)  der  holkan  okot  (Kriegertanz)  ge- 
tanzt wurde. 

Eine  zweite  sehr  gewöhnliche  Hieroglyphe,  in  der  die  Gruppe  vor- 
kommt, ist  die  Fig.  641,  ein  sehr  gewöhnliches  Attribut  verschiedener 
Götter.  Das  Hauptelement  dieser  Hieroglyphe  ist,  glaube  ich,  eine  etwas 
abgeschliffene  Form  eines  Elementes,  welches  in  den  Figg.  578  und  578  a 
vorliegt,  d.  h.  des  in  der  Binde  getragenen  abgeschnittenen  Kopfes.  Die 
ganze  Hieroglyphe  würde  demnach  mit  „der  mit  Krieg  überzieht  und 
Gefangene  heimbringt**  übersetzt  werden  können,  und  das  wäre  der  Fürst, 
der  König.  Diese  letztere  Bedeutung  ist,  meine  ich,  auch  auf  Blatt  25 
bis  28  b  der  Dresdener  Handschrift  anzunehmen,  wo  die  Namen  der  den 
einzelnen  Jahren  präsidirenden  Gottheiten  durcli  diese  Hieroglyphe  und 
die  ihr  homologe  Fig.  642  eingeleitet  worden. 

Eine  dritte  Hieroglyphe  endlich  ist  die  Fig.  643,  welclie  neben  der 
ben- Gruppe  eine  Variante  des  Elementes  men,  d.h.  den  Adler  enthält 
Dieses  letztere  Element  scheint  es,  seilen  wir  deutlicher  oder  ausgeführter 
in  einer  Hieroglyphe  der  Altarplatte  des  Kreuztempels  Nr.  1  in  Palenque, 
Fig.  644.  Und  ebendaselbst  finden  wir  auch  eine  weitere  Hieroglyphe, 
Fig.  645,  welche  die  ben- Gruppe  über  einem  deutlichen  Vogel-  (Adler-) 
köpf  aufweist. 

14.  hlx^  yiz,  ix  (hiix^  gix).  Das  Zeichen  entspricht  dem  mexioa- 
nischon  ocelotl  „Tiger".  Die  letztere  Bedeutung  ist  in  den  obigen  Worten 
nicht  wiederzufinden.  Nacli  XlMENEZ  bezeichnet  yiz  den  „Zauberer". 
In  den  Qu'iche-Vocabularien  finde  ich  eine  Wurzel  yiz,  yaz,  welcher  die 
Maya- Wurzel  eiz,  ciiz  entspricht,  und  die  „furzen"  heisst.  Und  weiter 
eine  Wurzel  hiz,  hix  „auftrennen,  aufbrechen,  ausfasern",  welcher  die 
Maya-Wurzeln  hiit  „sidi  lösen",  hiiz,  hiio  „ausfallen,  ausgezogen  werden" 
(Haar),  „aus  der  Scheide  gezogen  werden",  hiich  „kalil  (der  Blätter  und 
Früchte  beraubt)  werden",  hiix  „abgerieben  werden"  entsprechen,  wozu 
nocli  hiix-cay  „die  rauhe  abgezogene  Haut  eines  Fisches"  gehört. 

Sollte  hier  das  Fell  des  Tigers,  statt  des  Thieres  selbst,  eingetreten 
sein? 

Das  Zeichen  ist  ziemlich  vielgestaltig.  LaNDA  giebt  die  Fig.  646. 
Im  Cod.  Tro  sind  die  gewöhnlichsten  Formen  Figg.  647—655.  Einmal 
(Blatt  30*  c)  findet  sich  die  Fig.  656  und  einmal  (Blatt  12  c)  der  merkwürdige 
Kopf  Fig.  657.  Der  Cod.  Cortez  und  Cod.  Perez  weisen  keine  wesentlich 
verschiedene  Form   auf.    In    der   Dresdener  Handschrift   finden   sich   die 


Der  Charakter  der  aitekischen  und  der  Maja -Handschriften. 


81 


Figg.  658—664.  Die  Bücher  des  Chilan  Balam  haben  die  Formen 
Fig.  665 — 667  (die  zweite  Figur  steht  offenbar  falsch  unter  dem  vorigen 
Zeichen). 

Die  Form  der  Handscluriften  ist,  wie  man  sieht,  ziemlich  stereotyp. 
Die  echte  Gestalt  liegt  flbrigens  nicht  in  der  Figur  Landa's,  sondern  in 
denen  der  Dresdener  Handschrift  und  den  besser  gezeichneten  der  ersten 
Blatter  (33*  32*)  <les  Cod.  Tro  vor.  Ks  ist,  das  unterliegt  keinem  Zweifel, 
das  runde  haarige  Ohr  und  das  gefleckte  Fell  des  Tigers,  welches  durch 
dieses  Zeichen  dargestellt  wird.  Und,  wie  wir  sehen,  wird  gelegentlich 
auch  (Fig.  657  Tro  Tic)  statt  dessen  der  ganze  Kopf  des  Tigers  gezeichnet, 
oder  man  bringt  (Fig.  6(54.  Dresden  44(l)b)  durch  die  darein  gezeichneten 
Zähne  das  reissende  Thier,  dessen  Bild  das  Zeichen  wiedergeben  soll,  in 
Erinnermig. 

Die  Formen  der  Bücher  des  CHILAN  BaLAM  sind  vielleiclit  aus  Formen 
wie  Fig.  681  entstanden. 


Der  Tiger  erscheint  im  Cod.  Dresden  8  a  in  der  Reihe  der  20  Gott- 
heiten und  ist  liier  in  dem  Text  darüber  durch  die  vier  Hieroglyphen 
Figg.  668 — 671  bezeichnet.  Die  erste,  die  Haupthieroglyphe  zeigt  den  Kopf 
des  Tigers  —  in  ähnlicher  Weise,  wie  in  dem  oben  gezeichneten  Bilde 
des  Tageszeichens  Fig.  657  —  und  als  secundäres  Element  die  Fig.  13, 
welche  wir  oben  als  eines  der  vier  (fünf)  nach  den  Himmelsrichtungen 
w(»ohaelnden  hieroglyphischen  Elemente  erkannt  haben,  und  dem  ich  ver- 
muthungsweise  den  Lautwerth  chac  „roth*"  zuschrieb. 

Der  Tiger  erscheint  ferner  in  der  Reihe  der  fünf  Gottheiten,  welche 
auf  den  Blättern  46 — 50  der  Dresdener  Handschrift,  am  unteren  Ende  der 
Columne  rechter  Hand,  vom  Speer  getroffen  am  Boden  liegend,  gezeichnet 
sind.  Die  Hieroglyphen  dieser  Gottheiten  stehen  in  dem  mittleren  Ab- 
schnitt der  rechten  Coluninc»  und  zwar  am  Beginn  der  dritten  Reihe.  Die 
ganzen  BlättcT  46 — 50  sind,  wie  es  scheint,  in  concentrirter  Form  wieder- 
holt auf  Blatt  24  der  Dresdener  Handschrift.  Wir  sehen  von  den  Hiero- 
glyphen der  20  (lottheiten,  welche  in  doppelter  Reihe  auf  der  linken  Seite 
der  Blätter  46 — 50  vorkommen,  fünf,  und  zwar  das  9.,  13.,  7.,  1.,  5.  Zeichen 
auf  diesem  Blatt  24  wiederholt,    und  zwar  von  denselben   eigenthümlichen 


82  £•  Seler: 

Hieroglyphen  begleitet,  die  wir  auch  auf  den  Blättern  46 — 50  neben  den 
Hieroglyphen  der  20  Gottheiten  sehen.  Desgleichen  finden  wir  die  Hiero- 
glyphen der  eben  erwähnten  fünf  durchschossen  am  Boden  liegenden  Gott- 
heiten auf  Blatt  24  in  derselben  Reihenfolge  unter  einander  geschrieben. 
Der  Tiger  ist  an  beiden  Stellen  (Dresden  47  rechts  b,  Dresden  24)  durch 
dieselbe  Hieroglyphe  bezeichnet,  die  im  Cod.  Dresden  8  a  als  Haupthiero- 
glyplio  fungirt  (Fig.  668).  Auch  wo  wir  sonst  den  Tiger  hieroglyphisch 
bezeichnet  finden,  ist  regelmässig  der  Kopf  des  Thieres  von  dem  Element 
chac  (Fig.  13)  begleitet.  Nur  im  Codex  Tro  17c  tritt  statt  dessen  das  Zahl- 
zeichen vier  auf  (Fig.  672). 

Von  den  Attributen  des  Tigers  enthält  das  erste,  Fig.  669,  augen- 
scheinlich das  Element  ix,  wie  es  z.  B.  in  den  Figg.  653 — 654  des  Cod. 
Tro  gezeichnet  ist.  Aber  dasselbe  ist  hier  associirt  mit  der  Schleife  (dem 
Handgriff)  und  dem  Element  der  Schärfe,  der  Schneide  (Fig.  73).  Die 
ganze  Hieroglyphe  finden  wir,  mit  einigen  Varianten  (vgl.  Figg.  546  und  673) 
als  Attribute  verschiedener  Götter  ven^endet.  Es  tritt  z.  B.  im  Cod.  Cortez 
regelmässig  als  Hauptattribut  des  Gottes  Itzamna  statt  der  sonst  üblichen 
Fig.  253  auf.  —  Das  zweite  Attribut,  Fig.  670,  ist  das  bekannte  Symbol  des 
Gottes  der  Fruchtbarkeit  und  des  Gedeihens  (Hobnil?)  und  ist  dem  Tiger 
vermuthlich  zugeschrieben,  weil  Balam  „Tiger"  die  übliche  Bezeichnung 
für  die  Gottheiten  der  vier  Himmelsrichtungen,  der  regenbringenden  vier 
Winde  ist. 

15.  tzlquln,  tziqaln,  men.  Das  Wort  tziquin  heisst  „Vogel^.  Das 
würde  dem  mexikanischen  Namen  des  Zeichens  (quauhtli  „Adler")  ent- 
sprechen. —  Schwer  ist  dagegen  zu  verstehen,  woher  die  yukatekisclie 
Benennung  dieses  Zeichens  genommen  ist.  men  heisst  „gemacht  werden", 
„Arbeit",  „Werk":  men,  h-men,  ah  men  der  „Verfertiger,  Handwerker, 
Künstler",  aber  auch  „der  Zauberer,  der  Weise",  der  in  dem  durchsichtigen 
Stein  das  Vergangene  und  Zukünftige  sieht.  Man  ist  versucht,  an  mexika- 
nisch ce  quauhtli  „ein  Adler"  zu  denken,  unter  welchem  Namen  im 
Cod.  Viennensis  eine  alte,  wolil  in  Beziehung  zur  Xochiquetzal-Tona- 
cacihuatl  stehende  und,  wie  diese,  gelegentlich  (z.  B.  im  Cod.  Vienn.  17) 
mit  der  Helmmaske  des  quetzal-Vogels  dargestellte  Göttin  abgebildet  wird, 
als  deren  besonderes  Attribut  im  Cod.  Vienn.  28  künstlich  verzierte 
Schulterdecken  angegeben  werden. 

Das  Zeichen  ist  im  LaNDA  sehr  undeutlich  durcli  die  Fig.  674  gegeben. 
Sehr  deutlich  und  characteristiscli  sind  die  Formen  des  Cod.  Tro  (Figg.  675 
bis  679).  Die  Codd.  Cortez  und  Perez  fügen  nichts  Neues  hinzu  und  auch 
die  Formen  der  Dresdener  Handschrift  (Figg.  680 — 683)  bieten  kaum  etwas 
Anderes.    Figg.  684—686  zeigen  die  Formen  der  Bücher  des  ChilaN  BaLAM. 

Die  Formen  der  Handschriften  sin<l,  wie  mir  scheint  ziemlich  sicher 
als  ein  Greisengesicht  zu  deuten.  Wir  sehen  den  eingekniffenen  Mund- 
winkel  und   die  Wangenfalten,    wie    sie,   genau    ebenso,    in    dem  Haupt- 


Der  Charakter  der  aztekisehen  und  der  Maja -Handschriften. 


83 


elemento  der  Hieroglyphe  des  alten  Oottes,  Itzamna's,  zu  sehen  sind.  Mit 
Berücksichtigung  dessen,  was  ich  eben  bei  der  Besprechung  des  Namens 
nien  angeführt,  bin  ich  versucht,  hier  an  eine  Göttin  zu  denken,  und  zwar 
an  <He  Göttin,  deren  Hieroglyphe  als  auszeichnendes  Element  die  Fig.  14 
(zak  ^weiss*^)  enthält  und  die  ich  oben  Fig.  29  abgebildet  habe,  die  greise 
(löttin,  die  Genossin  Itzaninas,  der,  wie  ich  meine,  der  Nameixchel  zu- 
kommt und  die  im  Wesen  jedenfalls  identisch  ist  der  Tonacacihuatl- 
Xochiquetzal,  der  im  Wiener  Codex  das  Zeichen  ce  quauhtli  als 
Namenshieroglyphe  tragenden,  die  Künste  und  Gewerbe  und  die  kunst- 
fertigen Frauen  beschirmenden  Göttin. 

Das  Zeichen  men  ist  in  einer  Reihe  augenscheinlich  zusaminen- 
gehöriger  Bilder  und  Hieroglyphen  zu  erkennen.  Bei  <ler  einen  (Pigg.  687 
bis  (589)  sieht  man  den  Scheitel  des  Zeichens  mit  einer  Beihe  Federbälle 


^11'         ^t9^  C9I  iU 


bt»8(»tzt,  und  daran  ist  gelegentlich  eine  Schleife  (Figg.  689,  «590)  zu  sehen. 
Bei  den  and<»ren  (Figg.  ()91— 69.S)  sieht  man  auf  dem  Scheitel  des  Zeichens 
den  hieroglyphischen  Kopf  des  Adlers,  ein  Auge  und  einen  Flügel.  Hier- 
von treten  Varianten  auf,  die  d(Mi  hieroglyphischen  Kopf  des  Adlers  durch 
ein  anderes  Element  er8«»tzen  (Figg.  69(5,  697).  Andere,  bei  denen  das 
Zeichen  m«»n  selbst  metamorphosirt  erscheint  (Fig. '594).  Endlich  solche, 
welche  das  metamorphosirte  Zeichen  men  auf  dem  Scheitel  mit  Federbällen 
bes(»tzt  zeigcMi  (Fig.  695).  Eine  dritte  Reihe  von  Hieroglyphen  zeigt  auf 
dem  Scheitel  des  Zeichens  men  die  ben-Oruppe  (Fig.  698).  In  diesem 
Zeichen  ist  aber  gewöhnlich  das  Element  m(Mi  metamorphosirt  (Figg.  699, 
7()0,  643).  Und  diesen  schliesst  sich  die  oben  gezeichnete  Fonn  der  Reliefs 
an  (Fig.  ()44),  widch«»  <»in  stark  metamorphosirtes  Zeichen  men,  auf  dem 
Sch«Mtel  mit  F<M|<»rbälh»n  iM'setzt,  und  darüber  die  ben-(iruppe  aufweisen. 
Diese  Hi«»roglyphen  treten  als  Attribute  verschiedener  Götter  auf. 
Und  die  erstgenannten  (Figg.  6^7 — 689)  dienen,  gleich  dem  Zeichen  Fig.  188 


84 


£.  Selbr: 


dem  Chac  und  seinem  Assistenten,  dem  Gott  mit  der  Schlange  über  dem 
Gesicht  (Fig.  33)  als  Sitz. 

Die  Beziehung  zum  Adler  ist,  meine  ich,  deutlich  gegeben:  durch 
die  der  Hieroglyphe  Fig.  644  parallele  Fig.  645,  dadurch  dass  der  hiero- 
glyphische Kopf  des  Adlers  (Fig.  335)  auf  dem  Scheitel  des  Zeichens  auf- 
tritt, dass  die  Hieroglyphe  Fig.  64*^  als  Attribut  des  Adlers  erscheint,  durch 
die  Federbälle  und  die  Flügel  un<l  die  kriegerischen  Embleme.  —  Dass 
diese  Hieroglyphen  den  Göttern  als  Attribute  beigegeben  werden,  können 
wir  verstehen.  Wie  aber  kommt  es,  dass  die  Figg.  687 — 689  dem  Chac 
als  Sitz  dienen?  Nun,  der  Chac  ist  kein  Gott  des  Wassers  überhaupt, 
sondern  des  Regens,  die  regenschwangere  Gewitterwolke  ist  sein  Vehikel, 
der  Sturmvogel  ist  das  Reitthior,  auf  dem  er  einherfiährt.  Ich  werde  auch 
unten  noch  zu  envjihnen  haben,  dass  diese  Figuren  überall  unter  Symbolen 
auftreten,  die  wir  als  Himmel  o<ler  Wolke  zu  deuten  haben. 

16.  chabln,  alimak,  clb.  Das  Wort  cib  wird  im  heutigen  Maya  für 
„Kerze",    „Wachs",    „Kautschuk",    „Kopal"  gebraucht.    Das  ist  aber  erst 

fos,      TOj»      7or      701;     101      ^io      7/f 
7iL-^      7il_     7/^.      7/6       m 


eine  abgeleitete  Bedeutung.  Die  Wurzel  ist  ci,  cii,  „gut  schmecken", 
„gut  riechen".  Davon  abgeleitet  cib,  „wodurch  etwas  gut  schmeckt",  „wo- 
durch etwas  gut  riecht",  d.  i.  „Würze"  oder  „Raucherwerk".  —  Die  anderen 
Namen  weiss  ich  nicht  zu  deut(»n. 

Das  Zeichen  hat  bei  LandA  die  Form  Fig.  704.  Im  Cod.  Tro  finden 
sich  die  Formen  Fig.  705— 711.  Aohnliche  im  Cod.  Cortez  und  Perez. 
Die  Dresdener  Handschrift  hat  die  Formen  Fig.  712—717,  wo  nur  die 
letzteren  beiden  (Dresden  46  und  49)  abweichen.  Die  Bücher  des  CHILAN 
Balam  geben  die  Formen  Figg.  718—721. 

Das  Zeichen  findet  sich  in  den  Handschriften  mehrfach  auf  Weinkrügen 
abgebildet  (Figg.  701  —  703).  Da  ei  im  Maya  der  Honigwein  heisst,  so 
stimmt  das  zusammen.  Ob  mit  dieser  Beziehung  auch  der  Sinn  des 
Zeichens  getroffen  wird,  lasse  ich  dahingestellt.  Den  Pulquekrug  sieht 
man  in  mexikanischen  Abbildungen  in  der  Regel  von  einer  Sehlange  um- 
wunden, —  zum  Zeichen  der  feurigen  und  verderblichen  Eigenschaften  des 
Getränkes.  Eine  Schlange  scheint  auch  über  dem  oberen  Theil  des  Zeichens 
cib  zu  liegen. 


Der  Charakter  der  aitekischen  und  der  Maja- Handschriften.  85 

Das  Zeichen  ist  im  Mexikanischen  nach  dem  Geier  benannt  und  ist 
Symbol  des  Alters.  Es  war  ein  auch  in  Bildern  mehrfach  ausgedrücktes 
Gesetz,  dass  der  Wein  —  vermuthlich,  wie  ich  an  einer  anderen  Stelle 
auseinandergesetzt,  wegen  der  religiösen  Bedeutung,  die  der  Wein  hatte,  — 
nur  dem  Alter  erlaubt  war,  zu  geniessen. 

17.  chlCy  noh^  caban.  Aus  den  Worten  ist  nicht  viel  herauszulesen. 
Cttb  heisst  im  Maya  „Bo<len",  ^Erde",  „Welt";  und  cab  heisst  „Honig, 
giftige  Absonderung  eines  Insekts,  Ausschwitzung  einer  Pflanze**.  Die 
erster«  Wurzel  bildet  eine  Relativform  cabal  mit  der  Bedeutung  „unten", 
^niedrig";  die  letztere  hat  die  Relativform  cab il  von  derselben  Bedeutung, 
wie  die  Wurzel,  caban  hat  die  Form  eines  Participiums  und  wüjrde,  falls 
es  mit  den  genannten  Wurzeln  in  Verbindung  gebracht  werden  darf,  etwa 
„was  in  den  Bo<len  gebracht"  oder  „was  ausgeschwitzt  worden  ist"  bedeuten. 
Allenfalls  könnte  also  das  Wort  der  mexikanischen  Bezeichnung  (oll in 
^ Kautschukball")  sich  anpassen.  —  Die  anderen  beiden  Worte  weiss  ich 
nicht  zu  deuten. 

LanDA  giebt  für  das  Zeichen  die  Fig.  722,  also  nach  rechts  gewendet. 
Der  Cod.  Tro  hat  theils  rechts,  theils  links  gewendete  Formen  (Figg.  723 
bis  729).  Ebenso  der  Cod.  Cortez.  Der  letztere  hat  daneben  noch  einige 
Doppelformen  (Figg.  730,  731).  In  der  Dresdener  Handschrift  sind  die 
Figuren,  bis  auf  einzelne  Ausnahmen  (Fig.  736),  nach  links  gewendet. 
Die  gewöhnliche  Form  ist  die  Figg.  732  und  733.  Daneben  finden  sich 
im  hinteren  Theil  der  Handschrift  noch  die  ein  besonderes  weiteres  Element 
enthaltenden  Figg.  734  und  735.  —  Die  Bücher  des  CHILAN  BALAM  geben 
die  Formen  Figg.  737—739. 

Das  Zeichen  caban  bildet  den  wesentlichen  Bestandtheil  der  Hiero- 
glyphe, welche  vertikale  Richtung,  die  Bewegung  von  oben  nach  unten 
o<ler  von  unten  nach  oben  ausdrückt  (Figg.  18,  22,  23).  Von  der  Hiero- 
glyphe kommen  zwei  Varianten  vor,  und  man  könnte  zunächst  die  Frage 
aufwerfen,  ob  wir  es  hier  nur  mit  einer  verschieden  variirten  oder  zwei 
verschiedenen  Hieroglyphen  zu  thun  haben,  von  denen  die  eine  etwa  die 
Richtung  nach  oben,  die  andere  die  Richtung  nach  unten  bedeutete.  Ich 
möchte  mich  für  die  erstere  Auffassung  entscheiden.  Denn  ich  finde  die 
beiden  Hauptvariationen  der  Hieroglyphe  an  Stellen  verwendet,  wo  von 
einem  Richtungsuuterschied  nicht  gut  die  Rede  sein  kann.  Vgl.  die 
Figg.  741 — 74*^  die  auf  Blatt  32 — 35  b  der  Dresdener  Handschrift  am 
Schluss  der  Hieroglyphengruppen  stehen,  welche  den  Text  zu  den  beiden 
Figuren  Chac's  bilden  (des  schreitenden  mit  der  Blitzfackel  in  der  Hand 
und  des  anderen,  der  mit  dem  Copalbeutel  in  der  Hand  auf  dem  von 
der  Schlange  gebildeten  Wassersack  sitzt).  Die  Fig.  22  (Hieroglyphe  der 
vertikalen  Richtung)  ist  vollkommen  gleich  der  Fig.  740,  die  im  Cod. 
Tro  32*  c    am  Kopf  des  Textes   steht,    wo   auf  dem  Bilde    darunter   ein 


86  E.  Seleb: 

schwarzer  Gott  dargestellt  ist,  der,  auf  ointT  Matte  liogoml,  ein  über  ihn 
geatalpteu  Geflecht  in  die  Höhe  drückt.  Einoii  heaondoreii  Abschnitt  des 
Cod.  Tro  bilden  die  Blätter  10*— 1',  die  von  CYRUS  THÜMAS  als  Kalender 
für  Bienenzüchter  erklärt  worden  sind.  Hau  sieht  nehmlich  in  den  meisten 
der  Abschnitte  ein  geflügeltes  Iiisect  —  von  der  Form  einer  Biene,  ikel- 
cab,  das  „Honiginsect"  im  Msya  genannt  — ,  welches  von  einer  Art  frei- 
schwebenden, mit  den  Elementen  des  Zvichens  caban  beschriebenen  Brettes 
.herabachwebt  und  sich  auf  unten  aufgestellte  Opfergaben  zu  stürzen  scheint. 

7«-         ?«       Ttf-     «S;        ;,{(.       7t7.       7»        7tf      7»  fW. 

y>^  ^ — '  -V"^         -in.  »•». '"• 

7«_    _     U^     ,fiV^/,.|^fl.i^ 


Im  Text  stehen  als  durchgehen  de  Hieroglyphe  die  Figg.  744 — 746.  Davor 
gewöhnlieb  die  Hieroglyphe  Figg-  452 — 453  (Symbol  iler  I>arbringung)  oder 
die  Hierogly])he  Figg.  iVl'A~(i-2%  (Symbol  des  Tempels).  Und  unmittelbar 
daniach  die  Namen  und  Attribute  <ler  Götter.  Die  Hieroglyphe  Figg.  744 
his  74G  selbst  entlifilt  dieselben  Elemente,  wie  die  Hieroglyphe  der 
vertikalen  Richtung.  Ich  kann  den  Vorgang  und  <lie  Hieroglyphe  nur 
deuten  als  da»  Herabkommen  der  Götter  zum  Opfer.  Bekannt  ist,  was 
LlZANA  von  dem  l<lol  Kinicli  Kakmö  „Sol  con  rostro  quc  sns  rayos 
eran  de  fuego"  erzählt,    dessen  Tempel    in   Itznial    stund,    und   das  jeden 


Der  Charakter  der  aztekischen  und  der  Maja -Handschriften.  87 

Mittiig  vom  Iliiiiinel  herunter  kam,  das  Opfer  auf  dem  Altar  zu  verbrennen, 
wie  der  bunte  Arara  im  Flug  herunterkommt  (como  bajava  volando  la 
vaeamaya  con  sus  plumas  de  varios  coloros). 

Auf  Blatt  38b  39b  der  Dresdener  Handschrift  sehen  wir  den  Chac 
mit  einem  eigenthümlichen  Gegenstand  in  der  Hand  (vgl.  Figg.  747 — 748), 
gleichsam  aus  einem  Schlauch  giessend,  und  inmitten  dieser  beiden  Dar- 
stellungen ist  eine  andere,  welche  die  rothe  üöttin  mit  den  Tigerkrallen 
(vgl.  die  Hieroglyphe  Fig.  28)  zeigt,  Wasser  aus  einem  Kruge  auf  die 
Erde  giessend.  Im  Text  steht  beide  Mal  die  Hieroglyphe  Fig.  751  bezw. 
7f)2  —  das  Symbol  der  vertikalen  Richtung  —  und  ein  drittes  Mal  die- 
selbe Hieroglj'phe  und  ausserdem  die  Hieroglyphe  Fig.  755,  die  das  Element 
caban  und,  wie  es  scheint,  einen  Topf  enthalt.  Im  Cod.  Tro  29 — 30b 
sehen  wir  eine  ganz  ähnliche  Darstellung.  Vier  sitzende  Figuren  Chac's 
unter  den  Zeichen  der  vier  Himmelsrichtungen.  In  der  Hand  derselbe 
merkwürdige  Gegenstand  (Fig.  749),  nur,  wie  es  scheint,  noch  mit  fallenden 
Tropfen  daran.  Er  hält  den  Gegenstand  über  der  Fig.  750,  d.  h.  das 
Z(Mchen  kan  mit  dem  Kopfputz  des  Gottes  des  Gedeihens  (Hobnil).  Der 
Text  zeigt  eine  der  Fig.  755  durchaus  ähnliche  Fig.  756.  Daneben  aber 
die  Hieroglyphe  Fig.  758.  Endlich  haben  wir  im  Cod.  Tro  31 — 30 d  eine 
Reihe  Darstellungen,  die  mit  dem  Chac  beginnen,  der  aus  einem  Krug 
Wasser  auf  einen  der  Fig.  750  gleichen  Aufbau  giesst.  Im  Text  haben 
wir,  neben  der  Hieroglyphe  Figg.  516 — 519,  die  Hieroglyphe  Figg.  753  u.  754, 
die  an  die  Figg.  744 — 746  erinnert  und  jedenfalls  auch  in  diesen  Zu- 
sammenhang gehört.  Eine  den  Figg.  755  und  756  ähnliche  Hieroglyphe 
ist  auch  noch  die  Fig.  757,  welche  im  Cod.  Tro  30 — 29  c  im  Text  steht, 
während  man  darunter  den  Gott  des  Gedeihens,  den  Gott  mit  dem  kan- 
Zeichen  (Hobnil)  auf  dem  Elemente  caban  sitzen  sieht,  das  erste  Mal  das 
Zeichen  ik.  das  letzte  Mal  das  Zeichen  kan  in  der  Hand  haltend. 

Das  Herabkommen  zum  Opfer,  tlas  Herabkommen  des  Regens  —  darum 
dreht  es  sich  in  allen  diesen  Hieroglyphen.  Und  aus  dem  constanten  Vor- 
kommen des  Elementes  caban  in  diesen  Hieroglyphen  schliesse  ich,  dass 
dem  letzteren  die  Bedeutung  das  „Obere",  „Himmel",  „Höhe"  zukommt. 
Eben  das  scheint  mir  auch  aus  den  sonstigen  Vorkommnissen  dieses  Ele- 
mentes hervorzugehen. 

Ueberaus  häufig  fungirt  das  Element  caban  als  Sitz  oder  Thron  oder 
Fussgestell  der  Götter.  Im  Cod.  Tro  ist  dabei  meist  das  einfache  Zeichen 
caban  verwendet,  sitzartig  erweitert  (Fig.  759)  oder  mit  einer  Rücken- 
lehne aus  Mattengeflecht  versehen  (Fig.  760).  In  der  Dresdener  Hand- 
schrift dagegen  8eh<»n  wir  gewöhnlieh  das  Zeichen  caban  und  muluc 
nebeneinander  (Figg.  701,  762),  —  ganz  wie  diese  in  der  Hieroglyphe  der 
vertikalen  Richtung  (Figg.  18  und  741)  neben  einander  zu  sehen  sind,  — 
als  Sitz-  oder  Fussgestell  für  die  Götter  dienen.  Oder  es  ist  eine  mit  den 
Elementen    des   Zeichens   caban   versehene,   oder   aus    caban   gebildete 


88  E.  Skler: 

Schlange  (Figg.  763—764),  auf  welcher  der  Chac  lierunterfahrt.  In  dem 
Text  daneben  sieht  man  bald  die  Hieroglyphe  Fig.  741,  bald  Fig.  742  oder 
(in  dem  letzteren  Falle)  die  Fig.  765.  Gerade  das  Nebeneinander  von 
caban  und  muluc,  wie  es  die  Vorkommnisse  der  Dresdener  Handschrift 
zeigen,  ist  ein  deutlicher  Beweis,  dass  das  Zeichen  caban  hier  den 
himmlischen  Sitz  bedeutet  —  ganz  wie  wir  an  verschiedenen  Stellen 
der  Handschriften  die  zeichenbedeckten  Himmelsschilder  als  Sitze  für 
Götter  fungiren  oder  geradezu  in  Stühle  transformirt  sehen. 

Von  diesem  Gesichtspunkt  aus,  glaube  ich,  muss  man  auch  die  vier- 
eckigen, theils  einfach  gelb  gemalten,  theils  mit  den  Elementen  des 
Zeichens  caban  bedeckten,  theils  frei  schwebenden,  theils  gleichsam  an 
Stricken  aufgehängten  Schilder  betrachten,  von  denen  auf  den  Blättern  10* 
bis  !•  des  Cod.  Tro  die  geflügelten  Insekten  herabschweben. 

Unter  gleichem  Gesichtspunkt  aber,  glaube  ich,  ist  es  auch  aufzufassen, 
wenn  wir  im  Cod.  Tro  24  b  die  Bearbeitung,  bezw.  das  Fällen  des  Baumes 
Fig.  766,  durch  die  Hieroglyphe  Fig.  767  ausgedrückt  finden,  wo  also  das 
Element  caban  für  den  Baum  steht. 

Ich  habe  schon  die  merkwürdigen  Darstellungen  erwähnt,  wo  wir 
Götter  in  Blättern  und  Rankenwerk  gehüllt  herabstürzen  oder  aus  dem 
Gezweig  eines  Baumes  herabsprechen  sahen.  Es  finden  sich  nun  aber  eine 
ganze  Reihe  von  Fällen,  wo  das  Gezweig  dos  Baumes  als  Sitz  für  den 
Chac  oder  dessen  Assistenten,  den  Gott  mit  der  Schlange  über  dem  Gesicht 
(Fig.  33)  dient.  In  diesen  Fällen  finden  wir,  dass  der  Baum  (Fig.  771) 
homolog  auftritt  z.  B.  den  Figg.  768,  769,  770,  d.  h.  dem  Himmelsschild,  . 
dem  Pfade  und,  —  wie  ich  unten  zeigen  werde,  —  der  Wolke.  An 
anderen  Stellen  tritt  er  homolog  auf  der  Hieroglyphe  Figg.  300,  301, 
einem  anderen  schon  genannten  unzweifelhaften  Symbol  des  Himmels, 
oder  der  Fig.  687,  dem  Adler  oder  Wassergefässen.  Und  einmal  (Cod. 
Dresden  33c)  sehen  wir  den  Baum  in  seinem  Innern  eine  von  welligen 
Seitenwandungen  begrenzte  Wassermasse  bergen,  auf  welcher  der  Chac 
sitzt.  Dass  also  der  Baum  der  Handschriften  nur  der  Wolkenbaum,  der 
Himmelsbaum  sein  kann,  erscheint  mir  zweifellos. 

18.  chinaxy  tlhax,  eonab  (ezanab).  Das  Zeichen  entspricht  dem 
mexikanischen  tecpatl  „Feuerstein".  Damit  stinmit  sehr  wohl  zusammen, 
wenn  NüNEZ  DE  LA  VEGA  von  <lem  Zeichen  ehinax,  bezw.  von  der 
Tutelargottheit  desselben  angiebt,  dass  er  ein  grossem  Krieger  war,  dass 
er  in  den  Kalendern  immer  mit  einem  Banner  in  der  Hand  dargestellt 
worden  sei,  und  dass  er  von  dem  nagual  eines  anderen  heidnischen  Zeichens 
erwürgt  und  verbrannt  worden  sei. 

Für  tihax  giebt  XlMENEZ  die  Bedeutung  „Obsidian"  an.  Mit  welchem 
Recht,  weiss  ich  nicht.  Das  Wort  scheint  mit  der  Wurzel  teuh  „kalt**, 
tih-ih  „kalt  sein"  zusammenzuhängen,  mit  der  auch  die  Worte  tic  „ein- 
stecken", „einstechen",  tiz  „nähen",  tiztic  „spitz"  zu  vergleichen  sind. 


Der  Charakter  der  azU*!kischen  und  der  Maja- Handschriften.  89 

Das  Wort  (»onab  konnte  mit  «lor  Wurzel  eo  „fest",  „starr",  „hart" 
ziiHammonhangon. 

Das  Zeichen  ist  sehr  flbereinstiinnientl  im  LanDA  (V\g,  772)  und  in 
<h»n  Handschriften  (Pigg.  778—777)  gegeben.  Nur  die  Formen  des  ChilaN 
BALA3I  weichen  vollkonim(»n  ab  (Figg.  778 — 781).  Der  Sinn  des  Zeichens 
ist  vollkommen  klar:  <lie  Bruchlinien  des  geschlagenen  Steins.  Und  dass 
dies  die  Bedeutung  des  Zeichens  ist,  geht  klar  daraus  hervor,  dass  wir 
auch  die  Feuersteinspitzen  der  Speere  (Fig.  782),  des  Steinbeils  (Fig.  783) 
und  des  Opfermessers  (Fig.  784)  mit  denselben  Zickzacklinien  gezeichnet 
sehen. 

77i.     »7^-      '?7¥     7?r.    77^.     777.     11 1     Ilf   7^9.   "iV 


19.  cabogh,  caok,  cauac.  Für  das  Cakchiquel-Wort  giebt  XlMENEZ 
die  Bedeutung  „liegen**,  also  entsprechend  dem  mexikanischen  quiahuitl. 
In  den  Vokabularien  finde  ich  ein  Wort  solcher  Bedeutung  nicht.  —  Eine 
gewis.se  Wahrscheinlichkeit  spricht  dafür,  dass  in  dem  Tzental-Wort  eine 
ältere  oder  wenigstens  präcisen»  Form  vorliegt.  Demnach  werden  wir 
annehmen  können,  dass  der  Endguttural  nicht  ein  c  oder  k,  sondern  die 
dem  k  entspr(»chende  letra  herida  ist,  d(jr  Laut,  den  BRASSEUB  mit  g 
bezeichnet,  <len  ich  mit  STOLL  'k  schreibe.  Ein  auf  diese  letra  herida 
ausgehendes  Suffix  ist  mir  in  den  Maya- Sprachen  unbekannt.  Es  muss 
also  die  mit  diesem  Laute  schliessende  Silbe  wurzelhaft  sein,  und  so 
(»rgi<d)t  sich  mit  Bestimmtheit,  dass  das  Wort  ein  Compositum  ist  un<i 
vermuthlich  in  die  zwei  Bestandtheile  cab  und  o*k  zerlegt  werden  muss. 
Für  di(»  Wurzel  cab  haben  wir  oben  die  Be<leutungen  angegeben,  einer- 
seits ^Boden",  „Erde"^,  „Tiefe",  andererseits  „Wachs",  „Ausschwitzung 
(Harz)".  Und  mit  dem  Lautwerth  o'k  finden  wir  eine  Wurzel,  von  der 
es  eine  ganze  Menge  Derivate  giebt,  und  in  der  sich  die  Begriffe  „weinen", 
„traurig  sein",  „dunkel"  zu  vereinigen  schein(»n.  Wir  würden  daher 
cab-o'k  mit  „das  Herabweinen"  oder  „das  die  Erd<»  überziehende  Dunkel" 
übersetzen  können. 

Das  Zeichen  ist  im  LANDA  durch  die  Fig.  785  gegeben.  Der 
Cod.  Tro  hat  die  Formen  Figg.  786  —  793  und  einmal  (Cod.  Tro  28M)  die 
merkwünlige  Form  Fig.  794.  Die  Formen  des  Cod.  ('Ortez  stimmen  mit 
den  gewöhnlichen  Formen  des  Cod.  Tro  überein.  Xur  kommt  gelegentlich 
einmal  (Cod.  Cortez  10a,  14b,  17b)  eine  inverse  Form  vor.    Die  Dresdener 

Zcittchrifi  für  KtbiioIoKic.    Jahry.  IMW.  7 


90  E'  Beler  : 

HandBchrift  hat  Hie  Formen  Figg.  796—801.  Der  Cod.  Perez  hat  die  Form 
Fig.  795.  Dio  Bücher  des  CUILÄN  BaLAM  enthalten  die  Figg.  802—803. 
Khe  ich  auf  die  weitere  bildliche  und  hieroglyphische  Verwendung 
dieses  Zeichens  eingehe,  erwähne  ich,  dasa  dasselbe  als  Attribut  eines 
eigenthümlichen  Wesens  erschoint,  dessen  Kopf  in  der  Hieroglyphe  des 
Monatsnamens  Moan  (Muan)  vorliegt  (vergl.  die  Figg.  51,  52  und  die 
eigenthfimliche  Variante  Fig.  54).  Der  Kopf  dieses  Thieres  (Figg.  53  und 
804)  zeigt  einen  culenarttg  gckrfimmten,  an  der  Basis  mit  starken  Scbnurr- 


iiaaren  uder  liartfcdf-ni  i'inp'fasHtcii  S(-hnal)el.  grosse  behaarte  (befiederte) 
und  gefleckte  Ohren  und  ein  grossfg  Auge,  Der  Leib,  der  bald  Menschen- 
gestalt hat  (Dresden  10a,  7('),  bald  vogolartig  und  mit  Flügeln  versehen 
ist  (Dresden  16c,  18b.  Tro  18*c),  Keigt  regelmässig  einen  mit  grossen 
schwiirzcn  Fh-cken  bcttet/.ten  Kückentheil  und  läuft  in  einen  längeren  oder 
kürzeri-n,  in  der  Regel  stum|>f  abgerundet  endigenden,  gleichfalls  gefleckten 
Schwanz  aus.  Hieroglyidiisch  ist  das  Wesen  im  (lod.  Dresden  10a  durch  die 
Fi(^.  805—808,  d.  h.  durch  das  Symbol  der  13  Himmel,  das  Zeichen  caoac, 
das  Zeichen  der  Eule  und  den  Kopf  des  ßlitzthieres  bezeichnet.    Dresden  7c 


Der  Charakter  der  axtekischen  und  der  Maja  -  Handschriften.  91 

f(»hlt  die  letzte  Hieroglyphe,  und  die  beiden  ersten  sind  etwas  variirt 
(Figg.  810,  811).  An  anderen  Stellen  steht  als  Haupthieroglypho  die 
Fig.  809,  d.  h.  die  Zahl  13  (m  Stelle  der  13  Himmel)  und  der  Kopf  des 
Moan-Thieres  scdbst.  Dahinter  folgt  gewohnlieh  die  Hieroglyphe  der  Eule 
(Fig.  807).  Dresdt^n  12a  seheint  an  <»rster  Stelh»  <lie  Fig.  813  zu  stehen, 
darnach  die  Fig.  805  und  an  Stelle  «ler  Kuh»  i\ov  Kopf  des  Todten  (Fig.  812). 

Muyal  heisst  im  Maya  die  „Wolke**  und  moankin  ein  „trüber,  reg- 
nerischer Tag**  (dia  nublado  y  lloviznoso).  Es  scheint  also,  dass  dieses 
Wt»sen  die  mythische  Coneeption  der  Wolkenbed eckung  des  Himmels 
darstellt.  Andererseits  scheint  es  k(Mnem  Zweifel  zu  unterliegen,  dass 
eines  <ler  wesentlichsten  Elemente  des  Zeichens  cauac  -  nehmlich  das, 
was  in  den  sorgfältiger  ausgeführten  Zeichnungen  der  Dresdener  Hand- 
schrift und  des  Cod.  Tro  in  (lestalt  der  Figg.  814  und  815  erscheint  — 
nichts  anderes  darstellt,  als  den  am  (irunde  von  Bartfedern  eingefassten 
Schnabel  dos  Moan -Vogels.  Als  besondere  Elemente  enthält  das  Zeichen 
cauac  noch  das  Kreuz  (AVindkreuz?)  und  die  traubigen  Massen,  die  am 
richtigsten  wohl  als  die  schweren,  vom  Himmel  herunterhängenden  Wolkon- 
ballen  gedeutet  werden. 

Findet  aber  in  der  That  dieser  Zusammenhang  zwischen  der  mythischen 
Coneeption  der  Wolkenbedeckung  des  Himmels  und  dem  Zeichen  cauac 
statt,  so  werden  wir  uns  nicht  weiter  wundem  dürfen,  dass  wir  dieses 
Zeichen,  ebenso  wie  andere  Symbole  des  Himmels,  gelegentlich  (z.  B. 
im  Cod.  Tro  14*,  13*a,  Cöd.  Cortez  25)  <len  (lottern  als  Sitz  oder  Fussgestell 
dienen  sehen.  Wir  sehen  <labei  entwe<ler  das  Zeichen  cauac  einfach 
sitzartig  verbreitert  (Fig.  816),  oder  es  hat  «lie  Gestalt  eines  an  der 
Aussenseite  eigenthümlich  ausgebuchteten  Wassergefasses  (Fig.  817),  oder 
es  ist  ein  Kopf,  mit  den  Elementen  des  Zeichens  cauac  bedeckt  (Fig.  818 
und  819).  Die  Köpft»  sind  dieselben.  wi«>  sie  an  dem  Wurzelende  von 
Bäumen  zu  seihen  sind  (vergl.  Cod.  Dresd(»n  41b,  Cod.  Tro  17*a  und  a.  a.  0.). 
Dass  diese  Kopfe  nur  als  Abbreviaturen  von  Bäumen  anzusehen  sind, 
geht  aus  der  Fig.  820  und  aus  <ler  Thatsache,  <lass  wir  auch  die  Bäume 
(z.  B.  Cod.  Tro  I5*a,  Dresden  25  —  28c)  mit  den  Elementen  des  Zeichens 
cauac  bedeckt  sehen,  hervor.  Dass  diese  Bäume  und  die  Abbreviaturen 
derselb«»n.  die  cauac- Köpfe,  nur  den  Wolkenbaum,  den  Himmel,  bedeuten 
können,  erscheint  mir  nach  den  obigen  Auseinandersetzungen  klar. 

In  diesen  Zusammenhang  scheint  mir  auch  zu  gehören,  dass  wir  auf 
den  Blättern  10*- -1*  des  Co<i.  Tro  die  oben  erwähnten  caban-Bretter  nicht 
selten  mit  ähnlichen  cauac  -  Brettern  combinirt  finden.  Auffällig  ist  nur, 
dass  diese  b(*i<len  combinirt  als  Unterlage  für  Opfergaben  fungir(»n.  Un<l 
ebenso  aufTäUig  ist  es,  dass  wir  die  Basis  an  T(*nipeln  nicht  selten  mit  den 
Elementen  <les  Zeichens  cauac  oder  mit  diesen  und  daneb^'U  mit  einer 
caban-Hinroglyphe  bedenkt  find'»n. 

Merkwürdig  sind  auch  die  Bilder  im  Cod.  Tro  32* b.     Wir  sehen  oine 


92  E-  Seler: 

Anzahl  Götter,  welche  ein  mit  den  Elementen  des  Zeichens  cauac  be- 
decktes Brett  in  der  Hand  halten.  Im  Text  steht  die  Hieroglyphe  Fig.  822, 
begleitet  von  der  Hieroglyphe  Fig.  573.  Ein  ähnliches  Brett,  nur  mit  einer 
Art  von  geflochtenem  Handgriff  versehen  (Fig.  821),  ist  vor  den  Götter- 
figuren auf  Blatt  12*c  «les  Cod.  Tro  zu  sehen.  Im  Text  steht  die  ähnliche 
Hieroglyphe  Fig.  823.  —  Eine  den  eben  gezeichneten  ähnliche  Hieroglyphe 
kommt  auch  auf  Blatt  2  (45)  b  c  der  Dresdener  Handschrift  vor  (Figg.  457 
bis  460).  Hier  lialten  aber  die  Götter,  statt  obiger  Bretter,  wie  es  scheint, 
Netze  und  Stricke  in  der  Hand. 

Von  den  hierogl}Tphischen  Vorkommnissen  des  Zeichens  ist  besonders 
bemerkenswerth  die  Fig.  824  und  825.  Die  erstere  erscheint  im  Codex 
Dresden  4b  in  der  Reihe  der  Hieroglyphen  der  6  (bezw.  7)  Götter,  die 
—  ohne  Zweifel  wohl  die  6  Hinnuelsrichtungen  bezeichnend  —  dort  das 
griinbeschuppte,  mit  den  Hieroglyphen  des  Todesgottes  gezeichnete  un- 
geheuer umgeben.  Und  sie  erscheint  im  Cod.  Dresden  12  c  und  21c  als 
Hauptlüeroglyphe  eines  alten  kahlköpfigen  Gottes  (Fig.  831),  der  in  der- 
selben Serie  (Dresden  21  c),  wie  es  scheint,  noch  einmal,  aber  durch  eine 
andere  Hauptlüeroglyphe  (Fig.  826)  bezeichnet  ist.  Die  zweite  Hieroglyphe, 
Fig.  825,  erscheint  im  Cod.  Dresden  4  a  als  zweite,  bezw.  dritte  Hiero- 
glyphe ein(»s  Gottes,  der,  wie  es  scheint,  mit  dem  vorigen  identisch  ist. 
Wenigstens  zeigt  er  dieselben  markanten  Züge  und,  wie  es  scheint,  auch 
die  Linie  um  den  äusseren  Augenwinkel,  der  in  dem  Gesicht  (Fig.  831) 
und  der  Hieroglyphe  (Fig.  826)  des  eben  genannten  Gottes  zu  sehen  ist. 
Der  Gott  selbst  ist  —  mit  dem  Kopfputz  der  Hieroglyphe  (Fig.  830)  — 
noch  einmal  im  Cod.  Dresden  37a  in  einer  Reihe  von  Chac-Darstellungen 
zu  sehen.  Hier  ist  or  aber  hieroglyphisch  nicht  durch  die  Fig.  824,  sondern 
durcli  die  Fig.  828  bezeichnet,  welche  das  Element  cauac  durch  ein  anderes 
Element  (Fig.  832),  auf  das  ich  unten  noch  zu  sprechen  kommen  werde, 
ersetzt.  Die  zweite  Hieroglyphe  (Fig.  825)  finden  wir  in  der  Reihe  der 
Hieroglyphen  der  zwanzig  (lottlieiten,  die  mit  einmaliger  Wiederholung 
auf  der  linken  Hälfte  der  Tafeln  4() — 50  und  im  Auszug  auf  der  Tafel  24 
der  Dresdener  Handsclirift  zu  sehen  sind.  Und  hier  tritt  neben  der  ur- 
sprünglichen Form  (Fig.  827)  tlie  Variante  Fig.  829  auf,  die  also  ebenfalls 
das  Klement  cauac  durch  das  Eh'ment  Fig.  832  ersetzt  zeigt. 

Was  die  Natur  dieses  (lottes  anhingt,  so  hebe  ich  her>'or,  dass  er  im 
Cotl.  Dresden  37a  in  einer  Reihe  von  Darstellungen  Chacs  erscheint  und, 
wie  der  Chac,  mit  dem  Beil  in  der  Hand  unter  dem  Wasserströme  herab- 
sendenden Ilimmelsschild  zu  sehen  ist;  tlass  er  auch  im  Cod.  Dresden  4a 
unmittelbar  dem  Chac  folgt;  dass  al)(»r  im  Cod.  Dresden  21c,  wo  der  Gott 
zweimal  vorkommt,  es  sich  augenscheinlich  um  gesclilechtliche  Vereinigung 
handelt,  wie  auch  durch  das  Zeichen  der  Vereinigung  (Fig.  77 — 79) 
angezeigt,  -  und  dass  gerade  unser  Gott  hier  in  sehr  eindeutiger  Position, 
mit  geradezu  geilen  Allüren,  gezeichnet  ist.     Als  Attribut  ist  ihm  im  Co«I. 


Der  Charakter  der  aitekischen  und  der  Maja -Handschriften.  93 

Dresden  12c  der  Kopf  des  Gottes  des  Gedeihens  (des  Gottes  mit  dem 
kan-Zeichen,  Ilobnil?)  C^^ig.  31)  beigegeben. 

Ein  zweites  interessantes  Vorkommen  ist  die  Hieroglyplie  Figg.  883,  834, 
«lie  gelegentlich  auch  (Cod.  Tro  19b)  mit  der  Variante  Fig.  835  auftritt, 
und  die  eines  der  Hauptattribute  des  Sonnen-  und  Kriegsgottes  Kinchahau, 
aber  audi  des  Chac  und  seiner  Diener,  der  Blitztliiere  bildet  (vergl.  Codex 
Dresden  37a,  36a,  39a,  45b).  —  Was  die  Kiemente  dieser  Hieroglyphe  angeht, 
so  haben  wir  in  ihr  das  Zeichen  cauac,  das  Symbol  des  wolkenbedeckten 
Himmels  oder  vielleicht  des  (lewitters,  ferner  das  Element,  welches  ich 
an  einer  anderen  Stelle  als  das  machete  gedeutet,  welches  vielfach  an 
Stelle  der  Axt  oder  zum  Ausdrucke  des  Schiagens,  Treffens  verwendet 
wird;  endlich  die  herMisschiessenden  Strahlen,  die  auch  an  der  Hieroglyphe 
dos  Blitzes  (Fig.  548)  zu  sehen  sind.  Dieselbe  Fig.  548  sehen  wir  übrigens, 
begleitet  von  unserer  Hieroglyphe  Fig.  833,  im  Cod.  Dresden  19c,  wo 
durch  sie  ohne  Zweifel  der  Blitz,  das  Feu(»r  oder  ein  den  Blitz  oder  das 
Feuer  führender  Gott  bezeichnet  ist. 

Merkwürdig  ist,  dass  gelegentlich  das  Element  cauac  dem  Element 
kin  homolog  auftritt.  Das  geschieht  in  der  Hieroglyphe  Figg.  836,  837, 
w(dche  im  Cod.  Tro  13*b  vorkommt  und  wohl  den  oben  beim  Zeichen  ik 
erwähnten  Hieroglyphen,  Figg.  235 — 239,  verwandt  ist.  —  Diese  Beziehung 
erklärt  uns  vielleiclit  auch  das  Vorkommen  des  Elements  cauac  in  den 
«Irei  Monatsnamen  yax,  zac  und  ceh  (Fig.  7 — 9). 

Endlich  ist  noch  das  Vorkommen  des  Elements  cauac  in  der  Hiero- 
glyphe Figg.  838,  839  zu  en^  ahnen,  wodurch  im  Co<l.  Dresden  16 — 17a, 
16 — 17  b,  17 — 20c,  25— 28  a  das  Tragen  in  einer  Rückentrage  bezeichnet  wird, 
welches  wir  an  <len  entsprechenden  Stellen  des  Cod.  Tro  (20* — 19*d)  durch 
die  Fig.  621  ausgedrückt  finden.  Ich  habe»  schon  in  einer  früheren  Abhandlung 
hervorgehoben,  dass  dieser  Unterschied  augenscheinlich  darin  seinen  Grund 
hat,  dass  im  Cod.  Tro  das  Tragen  in  einer  Matte  geschieht,  —  und  die 
Fig.  621  enthält  das  Element  der  Matte  — ,  während  in  der  Dresdener 
Handschrift  eine  Rückentrage  von  <ler  Gestalt  der  Figg.  840 — 842  zu  sehen 
ist,  die,  wie  es  scheint,  aus  gebogenem  Leder  oder  Holz  besteht.  Ich 
habe  damals  die  Ansicht  ausgesprochen,  dass  das  accessorische  Element, 
w(dches  in  der  Fig.  838  zu  sehen  ist,  viell(»icht  Ausdruck  der  Krümmung 
sei.  Dass  es  einen  in  der  Hand  gehaltenen  gekrümmten  (legenstand 
(machete,  Keule)  zum  Ausdruck  bringt  und  mit  dem  Element,  das  in  den 
Figg.  833 — 835  zu  sehen  ist,  im  ^Vesentlichen  identisch  ist,  scheint  mir 
zweifellos.  An  dies(»r  Steih»  scheint  es  mir  aber  nur  den  Begriff  des 
Tragens,  der  in  dem  unteren  Theil  der  Hieroglyphe  liegt,  dem  Element 
Fig.  445,  gewiss ermaassen  verstärken  zu  sollen.  Denn  wir  finden  es  in 
derselben  (accessorischen,  fakultativen)  Weise  auch  bei  anderen,  dem 
letzteren  homologen  Elementen  verw(»ndet. 

20.  aghoal,  huuahpu,  ahaa.    Das  Wort  ahau  heisst  „König"',  „Herr^ 


94  ^-  Seler: 

und  wird  in  dieser  Bedeutung  nicht  nur  in  dem  eigentlichen  Maya  von 
Yucatan,  sondern  auch  in  den  verwandten  Sprachen  Guatemala's  gebraucht. 
Das  Wort  ist  in  verschiedener  Weise  interpretirt  worden.  Dass  es  mit 
dem  Masculinpräfix  (bezw.  dem  Präfix  des  Besitzers)  ah  zusammenhängt, 
unterliegt  wohl  keinem  Zweifel.  BrassEÜR  erklärt  „Herr  des  Halsbands" 
(au).  STOLL  (Sprache  der  IxiUndianer  S.  155)  „Herr  des  cultivirten 
Landes''  (vgl.  Ixil  avuan,  „säen").  Auf  richtigerer  Fährte  scheint  mir  der 
letztere  zu  sein,  wenn  er  das  Ixil-Wort  vual  =  Pokonche  haual,  re-haual, 
„viel",  „sehr"  heranzieht  (ibid.  S.  53).  Denn  das  oben  dem  Maya  ahau 
parallel  stehende  Tzental  aghual,  welches  ohne  Zweifel  der  abstracten 
Form  ah  anal  des  Wortes  ahau  entspricht,  deutet  mehr  auf  eine  Grund- 
for;n  avu,  a'ku,  ahn,  als  auf  ahau  hin.  In  dem  Tzental- Vaterunser,  das 
PlMENTEL  (H.  235)  anführt,  finden  wir  die  Phrase  „zu  uns  komme  dein 
Reich  (deine  Herrschaft)"  durch  aca  talüc  te  aguajuale  übersetzt. 
Die  Grundbedeutung  von  ahau  ist  jedenfalls  „Maim",  „Herr",  und  es 
scheinen  in  dem  W^ort  die  beiden  Wurzeln  gleicher  Bedeutung  ah  und  vu 
(vgl.  uinic,  vinak  „Mann")  zu  concurriren. 

Hunahpu  ist  der  Name  des  bekannten  Heros  der  Qu'iche-Mythen, 
der  mit  seinem  Genossen  Xbalanque  Ball  auf  der  Erde  spielt,  von  dem 
Fürsten  der  Unterwelt  zum  Wettkampf  herausgefordert,  in  die  Unterwelt 
hinabsteigt,  dort  verschiedene  Proben  siegreich  besteht,  zum  Schluss  aber 
doch  den  Mächten  der  Unterwelt  unterliegt,  —  allein  nicht  für  immer. 
Die  unterweltlichen  Mächte  betrügend,  erwacht  er  zu  neuem  Leben  wieder 
und  steigt  als  Sonne  zum  Himmel  empor.  Ein  durchsichtiger  Mythus,  der 
das  tägliche  Verschwinden  der  Sonne  und  Wiederaufgehen  symbolisirt. 

Der  Name  Hunahpu  ist  aus  dem  Zahlwort  hun  „eins"  und  dem 
Worte  ahpu  zusammengesetzt,  das  gewöhnlich  als  „Herr  des  Blasrohrs" 
(pu)  oder  „Blasrohrschiesser"  übersetzt  wird.  Der  Name  ist  genau  so 
gebildet,  wie  andere  Personennamen  der  Qu  iche-Cakchiquel,  die  in  der 
überwiegenden  M(»hrheit  der  Fälle  dem  Kalender  entnonunen  sind,  ohne 
Zweifel  den  Tag  bezeichnend,  an  welchem  die  Cieburt  erfolgte.  Nun  existirt 
aber  ahpu  unter  den  Namen  der  Tageszeichen  nicht,  (»s  müsste  denn  sein, 
dass  man  ah-pu  =  ahau  setzt,  vielleicht  unter  Annahme  einer  Zwischen- 
form ah-vu,  die  wir  ja  oben  unter  Berücksichtigung  der  Tzental-Form 
des  Zeichens  ebenfalls  construirt  haben.  —  Wie  dem  auch  sei,  wenn  auch 
nicht  <lem  Wortlaut,  so  der  That  naclu  entspricht  hun -ahpu  dem  mexi- 
kanischen ce  xochiti,  das  im  Wiener  Cod.  23  unzweifelhaft  als  Symbol 
des  Sonnengottes,  oder  richtiger  wolil  als  Name  des  Sonnengottes  an- 
getroffen wird.  Die  Sonne  ist  der  König  unter  den  Göttern,  und  so  stimmen 
ahau  und  hunali  pu  und  das  mexikanische  xochiti  vortrefflich  zusammen. 

Das  Zeichen  ist  im  LanDA  durch  die  Fig.  843  gegeben.  Damit 
stinmien  die  Formen  des  Cod.  Tro  (Fig.  844)  und  Cortez  nahezu  voll- 
ständig überein.    Nur  konmit  gelegentlich  eine  inverse  Form  vor  (Fig.  845). 


Der  Charakter  der  aztekischen  und  der  Maja- Handschriften. 


95 


Auch  in  der  Dresdener  Handschrift  kommen  ^anz  ähnliche  Formen  vor 
(Figg.  846,  847).  (lewöhnlich  aber  sind  in  dieser  Handschrift  die  Formen 
zeichnerisch  eti^as  variirt  (Figg.  848 — 852),  und  auf  Blatt  24  treffen  wir 
eine  ganze  Serie  von  .merkwürdigen  variirtcn  Zeichnun(;en  (Figg.  854 — 859), 
welchen  sich  in  gewisser  Weise  auch  die  Formen  Figg.  860  (55  b)  und  861 
(Cod.  Dresden  47,  50)  anschliessen.  Im  Cod.  Perez  finden  wir  neben  den 
gewöhnlichen  Formen  die  Fig.  853.  Das  Zeichen  hat  eine  weite  Ver- 
breitung, da  der  Name  ah  au  auch  der  Name  der  Maya-Cyclen,  der 
Perioden  von  20  (24)  Jahren  ist.  Es  ist  daher  nicht  wunderbar,  dass  wir 
dieses  Zeichen  auch  auf  den  Reliefs  vielfach  vorfinden,  und  ich  bemerke, 
dass  dasselbe    besonder»    häufig    als  Anfnngshieroglyphe    erscheint.     Inter- 


essant ist  vor  Allem  die  Cedernholzj)latte  von  Tikal  (Fig.  8f)G).  Be- 
merkenswerth  auch  wegen  der  vollständigem  Uebereinstimmung  d(»r 
Schreibung  mit  der  gewöhnlichen  Form  der  Dresdener  Handschrift,  die 
Anfangshieroglyphe  der  Altari)latt(»  von  Lorillard  City  (Nr.  24  der  Charnay'- 
Hchen  Sammlung)  (Fig.  687).  Auf  <len  Reliefs  von  Palenque  kommt  das 
Zeichen  ebenfalls  vielfach  vor,  gewöhnlich  in  zi<»mlich  gleichmässiger  (lestalt. 
Vgl.  die  Fig.  868,  die  der  linken  Seite  der  Altarplatte  des  Kreuztempels 
Nr.  1  entnommen  ist.  —  Die  Formen  iler  Hücher  des  CHILAN  IUI.AM 
(Figg.  862—865)  sind  nur  Variationen  der  Form  der  Handschriften. 

Die  ganze  Reihe  der  Figuren  scheint  «»s  ziemlich  zweifellos  zu  machen, 
dass  ein  Gesicht  en  face  dargestellt  wer<len  sollte,  b(»zw.  dessen  promi- 
nenteste Theile.  Augen,  Nase,  Mund,  -  oder  auch  ein  en  face  gezeichnetes 
Vogolgesicht,    mit  Augen  und  Schnabel.     Lnd  ich  glaubt»,    wir  werden  an 


96  ^*  Seler: 

das  Sonn  enge  sieht  oder  den  Sonnen  vogel  denken  müssen,  wie  solches 
z.  B.  auf  der  Cedernholzplatte  von  Tikal,  über  der  Gottheit  sehwebend,  zu 
sehen  ist.  Den  centralen  Theil  desselben,  der  das  Vogelgesicht  en  face 
und  die  Vogelkrallen  zeigt,  habe  ich  in  der  Fig.  870  wiedergegeben. 

An  die  Sonne  und  den  Vogel  erinnert  auch  die  merkwürdige  Fig.  869, 
die  in  der  Dresdener  Handschrift  9  b  an  einer  Stelle  zu  sehen  ist,  wo 
eigentlich  das  Zahlzeichen  drei  erwartet  werden  miisste.  Wir  sehen  das 
Zeichen  ah  au  von  Strahlen  oder  Tropfen  umgeben,  ganz  an  die  Art  er- 
innernd, wie  in  mexikanischen  Handschriften  (z.  B.  im  Cod.  Viennensis) 
das  Bild  der  Sonne  von  blutrothen  Tropfen  umgeben  ist;  und  darüber 
sehen  wir  eine  Feder. 

Von  den  sonstigen  Beziehungen,  die  das  Zeichen  ah  au  erkennen  lässt, 
erwähne  ich,  dass  dasselbe  entschieden  Aehnlichkeit  mit  einem  Elemente 
hat,  dessen  handschriftliche  Formen  ich  in  den  Figg.  871,  872  (im  Cod. 
Dresden)  und  873  (Codd.  Perez,  Tro)  wiedergegeben  habe,  und  das 
auch  unter  den  Hieroglyphen  der  Reliefs  überaus  häufig  angetroffen  wird. 
Das  Element  weist  in  den  Handschriften  zwei  bemerkenswerthe  Vor- 
kommnisse auf.  Pjinmal  nehmlich  sehen  wir  es  in  dem  Stirnschmuck  des 
oben  erwähnten  kahlköpfigen  Gottes  (Fig.  831),  und  hier  ist  dasselbe  in 
<lem  einfacher  gezeichneten  Kopf,  Fig.  830,  ferner  in  den  Hieroglyphen 
Figg.  824 — 829  durch  die  einfache  Figur  des  Auges  vertreten.  Und  dann 
sehen  wir  das  Element  vielfach  als  Sitz  oder  Fussgestell  für  Götter  fungiren, 
in  derselben  Weise,  wie  das  Zeichen  caban  (im  Cod.  Tro  82 d  sogar  mit 
dem  letzteren  abwechselnd),  wie  das  Zeichen  cauac  und  andere  Symbole 
des  Himmels.  Es  wäre  nicht  unmöglich,  dass  dem  Element  als  (frund- 
begriflf  die  Bedeutung  „Edelstein**  oder  „Smaragd**  zukäme.  Aus  demselben 
könnte  sowohl  die  Beziehung  zum  Auge,  wie  zur  Sonne  und  zum  Himmel 
sich  ableiten.  "Wir  haben  oben  (Figg.  824  und  828,  827  und  829)  gesehen, 
dass  in  Hieroglyphen  das  Element  synonym  dem  Zeichen  cauac  auftritt, 
und  da  ist  jedenfalls  zu  notiren,  dass  wir  in  den  beiden  Hieroglyphen 
Fig.  874  (Cod.  Tro  35d)  auch  das  Element  ahau  dem  Element  cauac 
synonym  verwendet  finden.     Vgl.  auch  oben  Figg.  836,  837. 

Von  den  Hieroglyphen,  in  denen  das  Zeichen  ahau  vorkommt,  ist  die 
bemerkenswertheste  die  Fig.  876,  wo  mit  dem  Elemente  ahau  (die  Sonne) 
die  Elemente  der  Schärfe,  der  Schneide  vereinigt  sind.  Die  Hieroglyphe 
ist  das  gewöhnlichste  Attribut  des  Licht-  und  Himmelsgottes  Itzamnä, 
kommt  aber  auch  bei  einer  ganzen  Reihe  anderer,  doch  ausschliesslich 
bei  Licht,  Leben,  Gedeihen  verbürgenden  Gottheiten  vor,  bei  den  feind- 
Ii(jhen  Gewalten,  den  Todesgottheiten,  vollkommen  fehlend. 

Die  in  dem  Vorstehenden  vorgenommene  sorgfältige  Prüfung  des  Vor- 
kommens und  der  Bedeutung  der  Maya-Tageszeichen  und  die  daran  sich 
schliessenden  Ausführungen  werden  —  das  verhehle  ich  mir  nicht  —  Irr- 
thümer  genug  enthalten.     Es   ist   ein   erstes  Eindringen    in    einen  Urwald 


Der  Charakter  der  aztekischen  und  der  Maja- Handschriften.  97 

wo  auch  der,  wolclior  da»  Auge  fest  auf  die  liussole  gericlitet  hält  schwer- 
lich jederzeit  die  richti(;e  Kichtun<^  einzuhalten  im  Stande  sein  wird. 
Möge  ich  nachsiditige  Leser  findcMi.  Ein  ilauptresultat  wird  mir,  davon 
bin  ich  fiberzeugt,  nicht  streitig  g(»macht  wenden  können,  dass  -so  ver- 
schieden auch  die  Ausgestaltung  im  Kinzelnen  war  -  -  ein  Grundzug  die 
Wissenschaft  der  Mexikaner  und  der  Maya-Völker  beherrsdite,  dass  es  ein 
Patrimonium  commune  war,  an  dem  die  einen,  wie  die  anderen  zehrten. 


IL 


Eintheilung  und  Verbreitung  der  Berberbevölkerung 

in  Marokko*). 


Von 

M.  Quedenfeldt. 

(Hierzu  eine  Karte:  Tafel  I.) 


Es  ist  bekannt,  dass  die  Bevölkerung  des  Sultanats  Marokko  sich 
gegenwärtig  aus  zwei  Hauptbestandtheilen  zusammensetzt,  den  Berbern 
und  den  Arabern.  Die  Angehörigen  der  berberischen  oder  libyschen  Kasse, 
welche  ehedem  das  ungeheuere  Gebiet  vom  rothen  Meere  bis  zu  den 
,,insulis  fortunatis^  der  Alten,  den  heutigen  Kanaren,  allein  inne  hatten, 
worden  gewöhnlich  als  die  „Ureinwohner"  dieser  Länder  bezeichnet.  Doch 
lassen  die  in  verschiedenen  Theilen  Nordafrika's  und  auch  in  Marokko 
mehr  oder  minder  zahlreich  aufgefundenen  megalithischen  und  mono- 
lithischen Denkmäler  (Dolmen,  Menhir,  Galgal,  Cromlech  u.  s.  w.)  den 
Schluss  zu,  dass  vielleicht  eine  noch  ältere,  autochthone  Bevölkerung  vor- 
handen war. 

Die  Invasionen  der  Phönicier,  Karthager,  Griechen,  Römer  und  Van- 
dalen  waren  keine  bleibenden,  obschon  sie  bis  zum  heutigen  Tage  dauernde 
Spuren  hinterlassen  haben.  Erst  die  wiederholten  Einbrüche  der  Araber, 
die  um  die  Mitte  des  7.  Jahrhunderts  begannen,  hatten  insoweit  nachhaltige 
Resultate,  als  sie  die  gesammte  Berberbevölkerung  des  nordafrikanischen 
Festlandes  zur  Annahme  des  mohammedanischen  Glaubens  veranlassten 
und  zu  einem  Nebeneinanderleben  beider  Rassen,  in  gewissen  Fällen  auch 
zu  einer  Vermischung  derselben  führten.  ¥Ano  eigentliche  Unterjochung 
oder  eine  Absorbirung  der  Berber  durch  das  arabische  Element  hat  wenig- 
stens in  Marokko  bis  zum  heutigen  Tage  nicht  stattgt^funden. 

Es  gehört  nicht  in  den  Rahmen  <ler  vorliegenden  Arbeit,  Reflexionen 


1)    Die   Schreibweise   der   arabischen   und   berborischen   Bezeichnungen   ist  ihrer 
Aussprache   angepasst.    Von   den   in   unserem  Alphabet  nicht  vorhandenen  Buchstaben 

ist  der  arabische  scharfe  h-Lant  r  durch  h,  der  weiche  s-Laut  J  durch  s,  das  scharfe 
s  LT  diurch  ss,  der  Buchstabe  'ain  ^  durch  ',  das  dem  französischen  r  grassey^  ent- 
sprechende gain  ^  durch  g  und  das  emphatische  kaf  /^  durch  k  bezeichnet. 


^ 


T<if.l. 


X 


;  •  •  • 


Eintlieilung  und  Verlircitunf?  der  Herberbevölkerung  in  Marokko.  9g 

tlarül»«»r  aiizustolKm,  woldier  «lor  •^[rosson  Volkorfaniilien  die  berberisclie 
Russe  heiziizählon  soi.  Die  anthro|)olo*^isohen  und  linguistischen  Unter- 
sucliun^«»n,  welche  nach  dieser  Richtun<j^  von  Berufenen  bisher  vorgenommen 
\verd<»n  konnten,  haben  zu  keinem  Resultate  geführt.  Meist  konnten  nur 
dir  algerisch(»n  l^erl)er  in  der  sogenannten  grossen  und  khdnen  Kabylie, 
im  DJiirdjüra-^)  un<l  Aures- Gebirge,  seit  der  Erol)erung  dieses  Landes 
^ri'uauer  beobachtet  und  untersucht  werden.  Xaturgemfiss  waren  es,  neben 
einigen  AushlnderiK  in  erster  Linie  französi solle  Archäologen,  Kthnologen 
und  Linguisten,  welche  sich  mit  di(»s<»n  Fragen  tlieoretisch  oder  practisch 
beschäftigt    liaben.      In    den    Schriften    von    BARTH,    CaRETTE,    DaüMAS, 

DuvKYRiEK,  Judas,  Faidherbe,  Stanhope-Freeman,  Hanoteau  und 
Letourneux,  E.  Renan,   de  Rochemonteix,  de  Slane,  M.  Tissot, 

ToiMNARD-)  u.  A.  wird  der,  welcher  sich  Aber  die  Abstammung  der  Berber, 
die  Sprache»]!  und  di(»  (jeschichte  derselben  u.  s.  w.  eingehender  unterrichten 
will,  zahlreiches  Matt»rial  finden.  Viele  dieser  Publicationen  sind  in  fran- 
zösis(*hen  anthro])ologischen  und  anderen  wissenschaftlichen  Zeitschriften 
veröttVntlicht;  auf  einzelne  derselbtMi  komme  ich  noch  zurück.  Ueber  die 
Ziigi'hörigkeit  der  Berber  zur  indo- europaischen  oder  semitischen  Völker- 
gruppt»  ist,  wie  gesagt,  bis  jetzt  noch  nichts  entschieden.  In  der  Revue 
do  rOricnt  1857  versucht  Dr.  JUDAS  nachzuweisen,  dass  <lie  Berbersprachen 
einer  Ciruppe  beizuzahlen  8ei(»n.  welche  E.  RENAN  ,,langues  chamitiques" 
zu  nennen  vorschlügt  und  welche  das  Koptische  und  die  nicht  semitischen 
SpracluMi  Xubiens  und  Abessyniens  umfassen  soll.  Bereits  IBN  CHALDUN 
und  andere  mohammedanische  ilistoriographen  sprechen  sich  gegen  eine 
Zugehörigkeit  der  Berbersjirachen  zu  den  semitischen  aus. 

Wenn  man  von  „Berbern*'  im  Allgemeinen  spricht  so  ist  dies  nur 
so  zu  verstellen,  wie  etwa  die  Bezeichnung  ^Germanen**  oder  ^Romanen" 
im  weitesttMi  Simie.  Ks  existiren  beispielsweise  zwischen  einem  Berber 
<ler  Ojise  Siwah  imd  einem  marokkanischen  Rif- Berber  ebens(dche,  wenn 
nicht  noeh  grössere  Unterschiede  in  Habitus.  Sprache.  Sitten  und  Gebräuchen, 
wie  zwisdien  einem  Deutsehen  und  einem  Norweger,  oder  zwisclu»n  einem 
l*ortugies«Mi  und  einem  Rumänen. 

Souar  unter  den  im  Sultanat  Marokko,  also  verhültnissmassig  sich  nahe 
wolineudeu  Bf*rbern,  bestehen,  wie  ich  in  d(»r  Folge  nachzuw<»isen  versuchen 
vMTd«',  so  grosse  Verschiedenheiten,  dass  eine  Theilung  der8ellH»n  in  drei 
irut  zu  unters<'lM»iden«le  Haui>tgru|)pen  geboten  erscheint. 

Hieraus  erliellt.  wi(»  wenig  berechtigt  (»s  ist,  wenn  manche  Autoren 
<len  Herliein  im  Allgemeinen  gewisse  Charaktereigenschaften  vindiciren, 
z.  li.  dass  sie  culturfähiger.  als  die  Araber,  weniger  fanatisch,  als  diese  seien 

1;  Von  d«-n  Kintrolmn-nt'n  Djordjoru.  mit  dem  Ton  auf  der  ersten  und  mit  kurz«'m  e 
in  liiiii«'!i  SüImmi.  ;:t'si»n)«'li»'ii. 

2}  IKt  «rrösstf  I'heil  d«'r  WiTkf  dieser  Auton»n  belindet  sich  in  der  Berliner  König^ 
Hililiothtk. 


-••« 


100  M.  Quedenfeldt: 

• 

und  dergleichen  mehr.  Das  ma<i;  nach  den  Erfahrunfi:en  der  Franzosen  bei 
den  algerischen  Kabylen  zutreffen;  ich  zweifele  aber  doch  sehr,  ob  diese 
Phrasen  auch  auf  die  Tuareg,  auf  die  ^Breber"  (^Beräbir*^)  im  Centrum  von 
Marokko  und  auf  andere  Berbervölker  anzuwenden  seien.  Welche  der- 
selben kennen  wir  so  «c^^nau,  um  ein  Recht  zu  derartigen  Urtlieilen,  die 
auf  das  eingehendste  Studium  eines  Volkes  nach  jed(»r  Richtung  basirt 
sein  müssen,  zu  haben? 

Es  erscheint  nothwendig,  diesen  Punkt  besonders  hervorzuheben,  weil 
der  Irrthum,  alle  diese  so  unendlicli  verschiedenen  Bestandtheile  (h*r 
berberischen  Rasse  in  einen  Topf  zu  werfen  und  den  Arabern  als  Col- 
lectivum  gegenulier  zu  stellen,  ein  selir  allgemeiner  ist. 

Bevor  ich  zu  einer  specielleren  Betrachtung  der  heutigen  Berber- 
bevölkerung des  Sultanats  Marokko  übergehe,  sei  eine  kurze  Mittheilung 
über  die  Bewohner  der  römischen  Provinz  Mauritania  tingitana  voraus- 
geschickt. ^)  Es  ergiebt  sich  aus  derselben  die  EtjTnologie  mancher  noch 
gegenwärtig,  wenn  auch  in  veränderter  Form,  vorkommenden  Namen.  Ich 
folge  hierbei  M.  TiSSOT  ^),  dem  gelehrten  französischen  Archäologen,  welcher 
während  seiner  mehrjährigen  amtlichen  Stellung  als  diplomatischer  Ver- 
treter Frankreichs  in  Marokko  Gelegenheit  zu  höchst  werthvoUen  wissen- 
schaftlichen Untersuchungen  in  diesem  Lande  hatte. 

Die  ältesten  griechischen  Schriften  geben  allen  Völkern  Mauritaniens 
von  weisser  Rasse  —  im  Cregensatze  zu  den  Aethiopiern  —  <len  Namen 
Libyer,  yliftvBQ,  Dies(T  Name  ist  später  durch:  Maurusier  oder  Mauren, 
welche  Bezeichnungen  wir  bei  STRABON')  und  PliniUS*)  finden,  ersetzt 
worden.  Durch  den  ersteren  dieser  beiden  Autoren  wissen  wir,  dass  der 
Name  „Mauri**  von  den  Eingeborenen  selbst  angewendet  wurde;  man  hat 
in  ihm  wahrscheinlich  das  semitische  Wort  „Ma'urim"  wiederzufinden, 
dessen  genaue  Uebersetzung  das  arabische  Wort  „el-garbaua'',  Leute  des 
Westens"  ist,  —  die  Selbstbezeichimng  der  heutigen  Marokkaner.  PlINFIS 
fügt  hinzu,  dass  die  Stämme  «ler  Mauren,  durch  Kriege  decimirt,  nur  einige 
Familien    zählten    und    dass    <lie    herrschende    Nation    die»    «ler    (Jaetuler 


V.  Von  einer  vollständigen  Schilderung  d«'r  historischen  Entwickelung  des  Staates 
Marokko  inuss  hier  natürlich  Abstand  genommen  werden.  Mau  vergleiche  darüber  Host, 
Gkabkro  von  Hemsoe,  A  L.  Schlözeii  und  \iele  andere  ältere  und  neuere  Schriften 
über  Marokko  und  Meschichtswerke. 

2)  Memoires  presentes  par  divors  savants  a  rAcadtMiiin  des  inscriptions  et  helles- 
lettres,  premiere  serie,  IX.,  Paris  1S78:  Kecliorches  sur  la  Geographie  comparee  de  la 
Mauretanie  tingitan«*,  S.  309.  —  Tissar  liatte  vor  den  Professoren  Mannhrt.  Movkrs, 
C.  Möller  u.  A.,  welche  sich  mit  dem  gleiclu^n  Gegenstände  beschäftigt  haben,  die  Kfunt- 
uiss  des  magribinischen  Arabisch  und  durch  seinen  langen  Aufenthalt  im  Lande  die  Gelegen- 
heit   voraus,    pr actische  Studien  an  Ort  und  Stelle  anstellen  zu  können. 

B)    XVir,   iri:    Otxovai   J*  fyjavxfa   Mavgovaioi    /uty    vno    imv   *Ekkiiyu>y   liyofiivot^ 
JVtavQOt  (T  vno  tütr  ^Pioßiaitoy  xa)  i&y  fnij^tagft^v,  Xißvxor  «•9roc  fifyo  xa)  e^Jai^Of. 
:     4)    V,  II:   Gentes  in  ea,   quondam   jtniecipua  Maurorum,  unde  nomen,   qnos  plerique 
.Ijtaumsios  dixerunt. 


KiiitlieiluTig  und  Verbreitimi?  clor  Hcrborl)ovolk<»ninjr  in  Marokko.  101 

war,  Nvt'lchc  sich  wicch^rum  in  lianiurac  iiikI  Aiitololos  thoilto;  eine  Fraction 
«liosor  lotztt'ivii,  «lie  Vi'suni,  war  nach  «loni  Süden  zu  den  Aethiopieru 
ji;eflflelitet  und  bildete  dort  ein  besonderes  Volk*). 

PTOLEMAKUS  giebt  nns  eine  Vidlständij^e  Aufzahlunji;  «1er  versehiedenen 
niauritaniselien  Stämme  und  ihrer  Wtdmsitze.  Das  Küstengebiet  an  der 
Meerenge  von  Gibraltar,  die  heutigen  Districte  „Andjera"  und  ^llaus", 
war  von  den  Metayiovlzai  bt»wohnt;  dasjenige  am  iberischen  Meer,  der 
Rif,  durch  die  ^loxnamni:  weiter  sudlich  hatten  die  Ovegovelg  ihren  Platz. 
Noch    heute    giebt    es    in  d(»n  Südabhangen  des  Rif  einen  Distrikt  Uarga. 

In  der  Richtung  von  Nord  nach  Süd  von  der  Region  der  Metagoniten 
reihen  sich  die  Mdaixeg,  die  OviQßixai  oder  Ovigßeixeg^  die  Salipoaij 
die  Kavpot^  die  Cauni  des  Fl.  Crt^sconius  Coripjms,  dann  die  Baxovaiai 
und  die  Maaavnai  an,  welche  wir  in  dem  Itinerar  ANTüNIN's  als  Baccavates 
und  Macenites  Rarbari  wiederfinden.-) 

Wiederum  sü<llich  der  Dlaxavltai  finden  sich  eine  andere  Fraction  der 
Ov€QOV€ig  und  die  OvoXovßiliavni^  welche  das  Serhon-iiebirgo  bewohnen. 
Dann  kommen  die  ^layyavxavoi  oder  uiyxavxavoi  und  die  Nixußtjgeg^  ge- 
trennt durch  das  flv^^ov  /aediov  der  ZeyQf'vaioi  und  der  Baviovßai,  Ba- 
niurae  bei  PliNIU.s;  und  endlich  die  Ovaxovaxm^  welche  augenscheinlich 
nur  eine  Fraction  der  weiter  oben  angeführten   BaxovStai  sind. 

Der  östliche  Theil  <ler  Tingitana  ist  gänzlich  durch  die  MavQijvoioi 
und  eine  Fraction  der  'Egneöiravoi  bewohnt,  deren  Hauptstadt  Ilerpis  sich 
in  der  Phocra  befand. 

AETllIcrs  giebt  den  Autololes  bei  PLlNirs  den  Namen  ^Auloles'' 
und  theilt  uns  mit,  dass  man  sie  zu  seiner  Zeit  „Galaudae"  nannte.-*) 

ISIDoRrs  von  Sevilla  erwähnt  in  seiner  Wiedergabe  der  geographischen 
Angaben  des  AeTHKTS  di<'se  Identität  der  Autololes  und  der  Galaudae, 
welche  er  Gaulales  nennt,  nicht.*) 

So  ermü«l(»nd  eine  so  lange  Aufzählung  von  Namen  auch  auf  den 
(»rsten  Anblick  erscheint,  so  bietet  sw  nichtsdestoweniger  vom  ethnologischen 
Gesichtspunkte  aus  ein  grosses  Interesse.  Eine  Anzahl  von  Namen  dieser 
mam'itanischen  Stämme  findet  sich  in  den  Listen  der  Herbertriben  wieder, 
flie  nns  die  arabischen  (leograj)hen  und  Historiker  des  Mittelalters  über- 
liefert haben,  oder  existirt  noch  heute.  Die  Bacuatae.  Macenites,  Autololes 
sind  sicher  die  H^rguäta.  Miknassa,  Ait  Hilala  des  heutigen  Marokko  und 

V  V.  M:  Attniuata  Im-IHs  ad  jjaucas  reciriit  faniilias  .  .  .  (iac'tiilao  niinr  tenent  j^entes, 
Haniiiru«*.  inultoqnp  vali<lissniii  Autololes:  ^t  1u»ruin  pars  qiiondani  Vesuni,  (|in  avulsi  his 
|>ro))naiii  fo«.M'n'  ^'^♦'nt«'m.  Vfr>i  a<l  Acthiopas. 

*i     A  Tin*ri  Maiiretania.  i<l  est  ul»i  Hacravatcs  <*t  Ma(«'nites  Barbari  niorantur. 

ly  Tin^n  Maiin'tania  ultima  ost  totius  .  .  al»  occid^'nt«*  habet  Atlaiitem  montoni: 
a  nimdie  ;r<'nt('s  Autoluin  quas  nunc  (lalaudas  vocant.  usque  ad  Organum  Hosporium  con- 
tinp'ntps. 

1  On^^  XIV,  V:  Mauritania  Tinj^ntana  .  .  a  meridie  Gaulalum  g«*ntes  usque  ad 
Oe4*aninii  Hosporium  p**r**rrantcs. 


1 02  M.  QüBDENPBLDT : 

ebenso  ist  der  Name  Mazices  mit  „Masig"  zu  ideutificiren.  Dieses  Wort 
(Sing.  Amasig,  Phir.  Imasigen)  nebst  seinen  verschiedenen  Varianten*)  ist 
die  Bezeichnung,  welche  sich  die  nordwestafrikanischen  Berber  als  Volks- 
namen selbst  beilegen.  ORABERG  VON  IlEMSt )£*-')  behauptet,  dass  „dieser 
Name  in  ihrer  Sprache  edel,  iiusgezeichnet,  berühmt,  frei,  unabhängig 
bedeute  und  der  Meinung  des  germanischen  oder  deutschen  „frank"  und 
des  moskowitischen  „slav"  gleichkomme".  Nach  SABATIER  (Soc.  d'Anthrop. 
1881)  sollte  der  Name  „Ackerbauer"  (?)  bedeuten  ').  Durch  die  regelmässige 
berberische  Femininalbildung,  ein  dem  Worte  am  Anfang  und  am  Ende  bei- 
gefügtes t  in  „tamasigt"  verwandelt,  bezeichnet  dies  Wort  sowohl  die 
Sprache  der  Imasigen,  wie  auch  eine  Frau  aus  dieser  Rasse. 

Die  Bezeichnung  „Berber",  von  den  magribinischen  Arabern  in  der 
Pluralform  „Breber"  (Beräbir),  Sing.  „Berberi",  gebraucht,  weist  ver- 
schiedene Etymologien  auf.  Die  bekaimteste  Ableitung  des  Wortes  ist 
die  vom  lateinisdien  barbari  (ßaQßaQOi)^  mit  welchem  Ausdrucke  die 
Römer  die  wilden  und  grausamen,  aller  Cultur  entbehrenden  Bewohner 
Nordafrika's  bezeichneten.  Docli  überliefern  uns  die  arabischen  Geschichts- 
schreiber des  Mittelalters,  IbnChalDUN  und  andere,  keine  Mittheilungen, 
aus  denen  hervorgeht,  dass  ihnen  diese  Ableitung  bekannt  gewesen  sei. 
Die  arabischen  Herleitungen  dieser  Bezeichnung  scheinen  sich  auf  Wort- 
spielereien zuzuspitzen.  iBN  ChaLDÜN*),  übersetzt  von  SLANE,  giebt  die 
folgende:  Leur  langage  est  un  idiome  etranger,  different  de  tout  autre: 
circonstance  qui  leur  a  valu  le  nom  de  Berberes.  Voici  comment  on  ra- 
conte  la  chose:  Ifricos,  fils  de  Cais-Ibn-Saifi,  Tun  des  rois  du  Yemen 
appeles  Tobba,  envahit  le  Maghreb  et  llfrikia  et  y  batit  des  bourgs  et 
des  villes  apres  en  avoir  tue  le  roi,  El-Djerdjis.  Ce  fut  meme  d'apres 
lui,  k  ce  que  Ton  pretend  que  ce  pays  fut  nomme  Tlfrikia.  Lorsqu'il  eiit 
vu  ce  peuple  de  race  etrangere  et  qu'il  eut  entendre  parier  uu  langage, 
dont  les  varietes  et  les  dialectes  frapperent  son  attention,  il  c('Mla  a  Tetonne- 
ment  et  sVcria:  „Quelle  berbera  est  la  votre!"  On  les  nomma  „Berberes" 
pour  cette  raison;  le  mot  „berbera"  signifie  en  arabe  „un  melange  de  cris 
inintelligibles" ;  de  la  on  dit,  en  parlant  du  lion,  qu'il  „herbere",  quand  il 
pousse  des  rugistJements  confus. 

Leo  AFRICANUS'')  sagt  auf  S.  8:    die  Weissen,    die  jetzt  da    wohnen, 

1)  Verj;l.  hiorüber:  Hanoteai',  Vorwort  zur  (iraiiiiiiairo  kabyle,  sowie  die  int-eressant^n 
Ausfuhrungen  von  Gl.  Wetzstein  im  Jahrp.  1887  «lor  Verhanrll.  der  Berliner  Anthrop.  Ges., 
S.  37  und  38. 

2)  Das  Sultanat  Moghrib-ul-Aksa  u.  s.  w.  Aus  der  italiänisrhen  Handschrift  über- 
setzt von  A.  Keumont,   Stuttgart  und  Tübingen  1833,  S.  47. 

3)  E.  Re(;lü8,  Nouvelle  Geographie  universelle,  Paris  1886,  Bd.  XI.  S.  442. 

4)  Histoire  des  Berberes  et  des  dynasties  musulmanes  de  PAfrique  septentrionale  par 
Ibn  Khaldun,  traduite  de  Tarabe  par  M.  le  Baron  de  Slane,  Interpret^»  principal  de 
rannte  d  Afrique.    Alger  1852,  Tome  T.  S.  168. 

.*))  Johann  Leo's.  des  Afrikaners.  Beschreibung  von  Afrik«.  Ans  dem  IfaliRni««chen 
übersetzt  u.  s.  w.  von  G.  W.  I^)ksbach,  Bd.  I,  Hcrboru  1805. 


Eifitheilung  und  Verbreitung  der  Berberbovolkerunjf  in  Marokko.  103 

wenlen  Klbarbar  ^onannt  und  dieser  Naine  ist  nach  einigen  von  Barbara^ 
welches  im  Arabischen  murmeln  bedeutet,  abzuleiten,  weil  nehnilich  die 
Sprache  der  Afrikaner  den  Arabern  wie  <lie  unarticulirten  Stimmen  der 
Thiere  Torkommt.  Nach  andern  ist  Barbar  aus  der  Verdoppelung  des 
anibischen  ^Vorte8  Bar,  die  Wüste»,  entstanden.  Als  der  König  Afriko« 
(so  erzflhlen  sie)  von  den  Assyrem  oder  auch  von  den  Aethiopiern  ge- 
schlagen war  und  sich  nach  Aegypten  flüchten  wollte,  verfolgten  ihn  die 
Feinde  überall;  unvermögend,  sich  zu  vertheidigen,  fragte  er  seine  Leute, 
was  sie  ihm  zu  ihrer  Kettung  für  einen  Ilath  gäben.  Sie  antworteten 
weiter  nichts  und  riefen  ihm  nur  „El  barbar",  d.  i.  in  die  Wüste!  in  die 
Wüste!  zu,  um  anzudeuten,  dass  ihnen  kein  anderes  Rettungsmittel,  als 
die  Flucht  über  <len  Nil  in  die  Wüsten  von  Afrika  bekannt  wäre. 

(tRABERG  VON  HemSOE  endlich  giebt  nach  arabischen  Autoren  noch 
eine  dritte  Ableitung  des  Wortes,  indem  er  a.  a.  0.  S.  48  sagt:  Es  scheint 
nichtsdestoweniger,  dass  der  Name  Berber,  der  im  Arabischen  Erde  oder 
Land  des  Berr  bedeuten  würde,  von  irgend  einem  Manne  dieses  Namens 
stamme,  nach  den  arabischen  (lenealogisten  von  dem  Sohne  des  Kis  und 
Enkel  des  A*ilam,  einem  der  Ilirtenkönige  Aegjrptens,  welcher,  gezwungen 
sich  nach  Nordafrika  zu  flüchten,  dem  Lande  sodann  seinen  Namen  gegeben. 

So  fragwürdig,  wie  gesagt,  <ler  Werth  dieser  Etymologien  ist,  so  scheint 
ihr  Vorhandensein  doch  zu  beweisen,  dass  schon  vor  der  Ankunft  der 
Griechen  oder  Römer  die  Bezeichnung  „Berber"  (in  dieser  oder 
jener  Variante)  in  Nordafrika  vorhanden  war.  Das  wird  überdies 
durch  die  Thatsache  wahrscheinlich  gemacht,  dass  noch  heut  im  süd- 
lichen Marokko  eine  grosse  und  mächtige  Berbervereinigung 
sich  selbst  den  Namen  „Beräbir"  oder  „Breber"  beilegt.  Würde 
dies  der  Fall  sein,  wenn  <lie  Bezeichnung  zucTst  von  Fremden  als  Schimpf- 
oder Spottname  angewenilet  worden  wäre? 

Die  marokkanischen  BtTber  unterscheiden  sich  gegenwärtig  in  drei 
grosse  Gruppen,  deren  Wohngebiete  auf  der  beigegebenen  Karte 
(Tafel  I)  durch  verschiedene  Farben  bezeichnet  sind.  Die  Eintheilung 
entspricht  genau  derjenigen,  welche  die  Berber  und  Araber 
im  Lande  selbst  machen  und  dieselbe  ist  basirt  auf  durchgreifende 
Verschiedenheiten  in  Sprache,  Typus,  Sitten  und  Gebräuchen.  Man  unter- 
scheidet 1.  die  nördliche  Gruppe,  d.h.  <lie  Berber  des  Küstengebietes  am 
Mittelmeer,  deren  Gebiet  mit  grüner  Farbe  kenntlich  gemacht  ist:  2.  die 
mittlere  (iruppe,  die  das  Centrum  d(»s  Landes  bewohnenden  Berber,  welche 
das  mit  rother  Farbe  umzogene  Gebiet  innehaben;  3.  die  südliche  Gruppe, 
die  Berber,  welche  den  westliclH»n  Theil  des  grossen  Atlas,  das  nördlich 
von  diesem  (lebirge  lieg<»nde  Terrain  bis  Mogador  und  Marrakesch  und  das 
zwischen  dem  Atlas  untl  dem  Uäd  Draji  gelegene  Gebiet  bewohnen. 
Dieses  (rebiet  ist  mit  blauer  Farbe  bezeichnet;  in  d(>n  südlicheren  Theilen 
desselben  finden  sich  neben  den  berberischen  Elementen  der  Bevölkerung 


104  M.  Quedenfeldt: 

zahlreiche  iiomadisirende  Araberstämme.  Ausser  diesen  drei  Hauptgruppen, 
innerhalb  deren  sich  einige  Stämme  durch  geringere  dialectische  Ver- 
schiedenheiten abzweigen,  kann  man  allenfalls  noch  eine  vierte  grössere 
Gruppe  gelten  lassen,  die  im  Wesentlichen  die  Bewohner  des  oberen  Draa, 
sowie  die  der  Oasen  Tafilelt  und  Tuat  umfassen  würde.  Hier  hat  eine 
so  starke  Mischung  der  berberischen  (bezw.  arabischen)  Bevölkerungs- 
theile  mit  nigritischen  Elementen  stattgefunden,  dass  diese  der  dortigen 
weissen  Gesammtbevölkerung  ein  ganz  besonderes  tfepräge  verleihen  '). 
Ein  (rleiches  findet  sporadisch  im  ganzen  Draa-Becken  statt,  und  es  unter- 
liegt wohl  keinem  Zweifel,  dass  wir  in  dieser  Mischrasse  die  Melano- 
(iätuler  der  Alten  zu  sehen  ha])en.  Der  Name  „Gesula",  den  noch  gegen- 
wärtig eine  mächtige  Bt^bervereinigung  im  westlichen  südatlantischen 
Marokko,  wie  auch  speciell  eine  Kabila  führt,  erinnert  daran. 

In  Tuat  und  Tidikilt^)  treten  hierzu  noch  targische  Einflüsse.  Ich 
möchte  indessen  diesen  Mischgruppen  keine  selbständige  Stellung  anweisen. 
In  Tafilelt  dominiren  die  Berber  der  Gruppe  2  durch  die  mächtige  Praction 
der  Ait  Atta  („Breber"  im  engeren  Sinne),  während  die  Draaleute  sich 
mehr  denen  der  Gruppe  3  zuneigen. 

So  einfach  diese  —  wie  ich  nochmals  betone,  lediglich  auf  die  Unter- 
scheidung durch  die  Eingeborenen  selbst  basirte  —  Dreitheilung  der 
marokkanischen  Imasigen  erscheint,  so  ist  dieselbe  meines  Wissens  noch 
von  keinem  Publicisten  über  das  Land  genügend  hervorgehoben  worden. 
Die  meisten  Reisenden  schreiben  nur  von  Berbern  im  Allgemeinen,  be- 
zeichnen dieselben  auch  wohl  (mit  mehr  oder  minder  der  richtigen  Aus- 
sprache   entsprechender   Schreibweise)    als  Schlöh');    nur    einige    wenige, 

wie  Grey  Jackson,  Washington,  Graberg  von  Hemsoe  etc.  unter- 
scheiden zwischen  Breber,  bezw\  Amazirghen  (Imasigen)  und  Schlöh. 
Jackson  giebt  eine  kleine  Zusammenstellung  von  Worten  mit  gleicher 
Bedeutung  in  diesen    beiden  Sprachen,    um    deren  Verschiedenheit   nach- 


1)  Diese  Mischlinge  werden  mit  dem  Namen  «Haratin-,  Sinj,'.  ^Hartäni"*,  bezeichnet.  (In 
den  l.andestheilen  nördlich  vom  Atlas  ist  der  Plural  »Hartanin-  gebräuchlich.)  Am  oberen  und 
mittleren  Draa  fuhren  sie  den  Namen  Draua  (Sing.  Draui).  Die  Bezeichnung  „Bei  Draui* 
gilt  im  nordatlantischen  Marokko  für  ein  arges  Schimpfwort,  bezieht  sich  aber  weniger 
auf  die  Mischung  mit  Negerblut,  sondeni  hat  mehr  die  Bedeutung:  gänzlich  ungebildeter, 
uncivilisiiter  Mensch.  Unter  «Hartani**  versteht  man  eigentlich  im  nördlichen  Marokko 
einen  freigelassenen  Neger  oder  Mulatten:  ein  Neger  im  Allgemeinen  (gleichviel  ob  Sclave 
oder  Freigelassener)  heisst  Gnaui  (otler  Genaui  ,  Plur.  (rnaua.  .Bei  Gnaui"  und  ^Bel 
Hartani**  sind  böse,  auf  die  Abstammung  bezügliche  Schimpfwörter  (Bei  ist  contrahirt  aus 
,Ben  el",  «Sohn  eines**).  Ein  beliebtes  Schimpfwort  für  Neger  ist  auch:  kimet  el-milh 
(gespr.  gimt  el-milh),  wörtlich:  Preis  oder  Aequivalent  für  Salz,  weil  die  Neger  im  Ssudan 
von  den  Sclavenhändlem  für  Salz  eingetauscht  werden.  «Bei  'Atrüss**  oder  .Bei  'Ansiss", 
Sohn  des  Ziegenbockes,  wie  man  gleichfalls  häufig  einen  Neger  geschimpft  werden  hört, 
bezieht  sich  auf  den  ihnen  anhaftenden  Genich. 

2)  Berberisches  Wort,  bedeuti»t  im  Schi  1ha:  Handfläche. 

3)  Vergl.  über  die  Etymologie  di<'8cs  Wortes;  Wbtzstkin,  1.  c.  S.  34  und  35. 


Eintheilung  und  VerbrcitiiDg  der  Rerberbcvölkoruug  in  Marokko.  105 

zuwei8on.  Dieso  Autoren  tliuii  abor  witMlorum  «lor  Rif-Borber  (Gruppe  1) 
nicht  als  einer  besonderen  Gruppe  p]rwähnun<;. 

In  jüngster  Zeit  sind  von  zwei  französischen  Offizieren,  den  Herren 
J.  Brinkmann»)  »»<•  Vicointe  CH.  DE  FOUCAULD*),  zwei  sehr  beachtens- 
werthe  Publicationen  erschienen,  von  denen  j^anz  besoinh^rs  das  Werk 
des  Herrn  DE  POUC-AULD  j^eoj^raphisch  einen  hohen  W(»rth  hat.  Ich 
komme  auf  diese  Werke  noch  wiederholt  zurück.  Hezflji;lich  der  Ein- 
theilung der  marokkanisdien  BerbcT,  welclie  in  beiden  Schriften  ilbrigens 
nur  kurz  ^»stnMft  wird,  W(Mchen  die  Anscliauungen  (h»r  französisclien  Autoren 
nicht  unwesentlidi  von  der  meinigen  und  auch  unter  einander  ab. 

KRCKMANN  halt  auch  di<»  Bewohner  der  marokkanischen  Eb<»nen  für 
Berber,  welclu»  nur  im  Laufe  der  JahrhundtTte  die  Sprache  und  Sitten 
der  eing(»wanderten  Araber  angenommen  hätten,  gewissermmissen  in  diesen 
aufgegangen  seien ').  Das  verhalt  sich  doch  anders.  Die  Nomad(*n  der 
grossen  EbiMien  im  Westen  «les  Landes,  in  den  Provinzen  'Abda,  Dukkala, 
esch-Schauija,  im  westlichen  Theil  des(;arb,  wie  auch  im  Osten  an  der  alge- 
rischen Grenze  die  Ulecl  el-Hadj.  Ilallaf,  Beni  Ukil  etc.  sind  noch  heute 
dieselben  reinen  Araber,  wie  zur  Zeit  der  Livasionen.  Sie  haben  sich 
nicht  mit  den  Berbern  vermischt,  wohl  aber  diese  letzteren  aus  ihren 
ursprünglichen  Wohnsitzen  hinaus  und  in  die  Gebirge  g(»drangt.  Ueber 
die  Gruppirung  der  Berber  Marokkos  sj^richt  sich  ERCK3IANN  nur  ganz 
kurz,  wie  folgt,  aus: 

„On  partage  generalement  les  Berberes  du  llaroc  en  quatre  groujies: 
L  Ceux  du  Rif. 

2.  Ceux  du  centre  entre  Fez  et  Maroc. 

3.  Ceux  du  Sous  qu'on  appelle  Chlc»uh  (ce  nom  s'applique  quelquefois 
aussi  aux  autres  Berberes). 

4.  Ceux  de  Tafilet. 

11s  parlent  <livers  dialectes  de  la  langue  chelha  (ces  diah»ctes  peuvent 
etre  ranumes  a  deux)." 

De  FoiTArLD  sagt  (S.  10)  über  dies(»n  (legtMistand:  „Les  <»xpressions 
de  Qeball,  Chellaha,  Uaratin,  BerAber  sont  autant  de  mots  emi>loye8  par 
les  Arabes  pour  desigiier  un<»  rac<»  uni<iue  dont  le  nom  nutionaK  le  seul 
qui  se  donnent  ses  m<»mbres,  est  celui  d'Amazir  (feminin  Tamazift,  pluriel 
Imaziren).  xVu  Maroc,  les  Arabes  appelh»nt  Q<d>ail  h's  Inniziren  de  la 
|>artie  sej)tentrionale,  ceux,  <|ni  habitent  au  Xord  du  |)arallMe  de  Fas,  ils 
donnent  le  nom  dt»  (Miellaha  ii  tous  les  Imaziren  blancs  n'sidant  au  sud 
de  cette  ligne  (en  (lautres  ttTUies,  (»t  plus  exactement.  les  Imaziren  du  massif 

1)  Le  Maroc  inodeme,  Paris  IS-^ö. 

2)  Reconnaissanre  au  Maroc.  Paris  1S88. 

3)  ^ les  preiiüiTs   (»lie   Htwohner   der  Kbeneni    se  s(»iU  trouves  sur  la  route  de 

^ontes  les  iuvaftions.  «»t  ont  pris  la  laii^uc  «-t  l»^s  Iialntud<'s  des  Arahes  venus 
d^Orient  a  diverses  öpoqucs."    A.a.O.  S.  7. 

Z«ttMferift  für  BUiDologie.    Jahr|^  Id^M.  8 


106  M.  Qüedenfeldt: 

Rifaiii  sollt  appelles  Qebail  et  ceux  du  massif  Atlaiitique  Cliellaha;  la 
ligne  de  demarcatiou  eiitre  les  deux  iioms  est  la  large  trouee  qui  separo 
les  deux  massifs,  celle  qui  coiiduit  de  Ijalla  Mariiia  a  Fäs  et  de  lä  ä  TOceaii 
par  la  vallee  du  Sebou);  celui  de  Ilaratin  aux  Imaziren  iioirs,  Leueaethiopes 
des  anciens;  eiifiu  celui  de  Beräber  est  reserve  ä  la  puissante  tribu  ta- 
mazirt  doiit  il  est  propremeiit  le  noni.  M.  le  colouel  Carette  iie  s'etait 
pas  trompe  eii  disant  que  le  mot  de  Beriiber,  applique  par  les  geuealogistes 
arabes  a  toute  la  race  tamazirt,  devait  etre  celui  de  quelque  tribu  im- 
portaiite  de  ce  peuple,  tribu  dout  oii  avait  par  erreur  eteiidu  le  nom  a  toutes 
les  autres.  Cette  tribu  des  Beraber  existe  toujours:  c'est  encore  aujourd'hui 
la  plus  puissante  du  Maroc;  eile  occui>e  toute  la  portion  du  Sahara  com- 
prise  entre  VOuad  Dra  et  l'Ouad  Ziz,  ])Ossede  presque  eu  eiitier  le  cours 
de  ces  deux  fleuves,  et  deborde  eii  bieii  des  points  sur  le  flaue  nord  du 
Grand  Atlas;  eile  est  juscju  ii  ce  jour  restc'e  compacte  et  eile  reuiiit  chaque 
annee  eu  assemblee  generale  les  chefs  de  ses  nombreuses  fractions:  nous 
doniierons  dailleur«  sa  deconipositioii.  Dans  le  Sahara,  dans  le  bassin  de 
la  Mlouia,  on  est  ])res  de  la  tribu  des  Beräber:  on  la  connait;  on  ifa 
garde  d^appliquer  son  nom  a  dautres  quii  eile.  Mais  qu'oii  s'eloigiie  vers 
It»  nord,  qu'on  aille  ji  Fäs  ou  a  Sfrou,  on  trouve  deja  la  confusion.  On 
entend  generaliser  le  nom  de  la  celebre  tribu  du  sud  et  Tappliquer  iii- 
di  ff  er  eminent  a  toutes  celles  des  environs,  qui  parlent  la  meme  langue, 
corame  les  Ait  Joussi,  les  Beiii  Ouarain*),  les  Belli  Mgild,  les  Zaian  etc., 
tribus  (pie,  inieux  informes,  les  Arabes  de  Q^^äbi  ech  Cheurfa  ou  des  Oulad 
el  Hadj  auront  sein  de  irappeler  jamais  que  du  nom  geiicTal  de  Chellaha. 
Pour  nous,  suivaiit  Texemple  des  tribus  limitrophes  des  Beräber,  nous 
doniierons  le  nom  de  Qeba'il  aux  Imaziren  que  Tusage  fait  designer  ainsi, 
aux  autres  celui   de  Chellaha  ou  do  Ilaratin,    reservant    celui    de  Beraber 

•  •  •         ' 

pour  la  seule  tribu  a  laquelle  il  appartient.** 

Der  Verf.  berücksiclitigt  hierbei  gar  nicht  die  sprachlichen  und  sonstigen 
Unterschiede,  die  bei  einer  (iruppirung  der  Berber  Marokkos  maassgebend 
sein  müssen,  und  welclie  auch  die  Araber  zu  ihrer  Eintheilung  derselben 
veranlasst  haben.  Auf  die  blossen  Namen  kommt  es  dabei  wenig  an.  Es 
ist,  wie  ich  bereits  andeutete,  s(^hr  walirsclieinlich,  dass  von  der  mächtigen 
Berberfraction,  die  sicli  scdbst  Beräbir  oder  Breber  -)  im  engeren  Sinne  nennt, 
dii^sor  Name  auf  einr  ganze  (iruppe  ((iru])p(»  2  mcMiicr  Kinth(»iliiiig)  von  den 
Arabern  übertragen  ist.  Das  ist  aber  niclit.  wie  Herr  DE  FoUCArLD  meint, 
eine  „Verwirrung'',  sondern  sehr  wohl  in  spracldichen  und  liabituelleii  Ueber- 
einstimmungen  begründet.  Ein  Angehöriger  d(»r  Kabilen,  die  der  H(»rr  Ver- 
fasser   ausscliliesslich    als   „Brebrr"    b<»z«*ichnet    wissen    will,    weil    sie 


1)  Dio  Beni  Uar^ain  sprechen  nach  meinen  Intormationen  arabisch. 

2)  Diese    letztere  Schreibweise  entspricht  der  niagribinischen  Aussprache,   in  der  der 
lange  a-Laut  meist  in  e  (oder  ä)  verwandelt  wird,  am  genauesten. 


( 


Eintheilunir  und  Verbreitung  der  Berberbevölkerung  in  Marokko.  107 

sich  8i»ll)ftt  so  iKMHion,  (lor  Alt  Atta,  Alt  Iladidu  oti*. •),  kann  sich  z.  B. 
mit  oin(»Tn  Berber  <ler  Kabila  (uTiuiii  im  Nonlwcsten  des  (lebiets  mit 
Leichtigkeit  ohne»  Dolmetscher  vc»rstandigen,  während  ihm  das  mit  einem 
Schilh,  beispielsweise  aus  der  Provinz  Ilaha  oder  aus  dem  Ssiiss  nicht 
möglich  ist. 

l'eber  die  ^llarätin'*  habe  ich  auf  S.  104  und  in  der  Noto  dasolbst 
bereits  Einiges  gesagt.  Was  das  Wort  ^Kebail**  betrifft,  so  ist  mir  dasselbe 
in  d(»r  vom  Verf.  angew(»ndet(»n  Bedeutung  (als  Colb»ctivname  für  die* 
Berber  meim»r  (iruppe  1)  vollkommen  unbekannt  geblieben.  So  viel  mir 
bekannt  ist,  be<leutet  das  arabische»  Wort  „Kcd)}!!!**  in  Marokko  nur  „Stamme", 
„Tribus**  (Sing.:  „Kabila"),  und  hat  diese  Bed(»utung  im  ganzen  Lande, 
gleichviel  ob  bei  Berbern  oder  Arab(»rn.  In  verschiedenen  Theilen  des 
l^andes  kommt  noch  eine  spcK'ifisch  niagribinische  Pluralform  des  Wortes 
vor:  Kabilat. 

DcT  Marokkaner  unterscheidest  ilberliauj>t  nur  folgcMide  Idiome»,  die  in 
seinem  T^ande  gesprochen  werden:  1.  das  Arabische»,  „el-*arbia"  (el-arabija), 
worunter  eT  sowohl  elas  normale»  Koran- Arabisch,  als  auch  elas  vulgäre  magri- 
binische  Arabisch,  wie»  es  in  ele»n  Stjlelten  unel  auf  elem  plattem  Lande 
ge8j>roche'n  wirel,  verste»ht.  Selbstverständlich  kommen  hie»r,  wie  in  allen 
Sprache»!!,  kleine  V<»rschieele!ihe»iten  in  el(»r  Aussprache  (ich  erinnere  nur  an 
lie  Aussprache  eles  Buchstiibe»!i8  et-te  wie»  unser  z  oder  tz  im  nördlichen 
Marokko),  Provinzialismen  e»tc.  vor,  auf  welche»  naher  einzugehen,  hier  nicht 
eler  Ort  ist.  2.  Der  im  soge»nannten  „Dje»be'»l'"  (Djibal)  gesprochene,  sehr 
corrumpirte  unel  mit  be»rbe»rische»n  Worte»n  elurchsetzte  I)iale»kt  des  magri- 
binischen  Arabisch,  „esl-eljibe'lia*".  Unter  „Djebe*»!**  (Plural  von  Djebel,  Berg, 
also  eigentlich  nur  „Ge»birg«***  bedeute»n<l)  ve»rsteht  man  ganz  speciell  die- 
jenige (Tebirgsge»ge»nel,  we'lche  sich  südlich  von  Tetuan  etwa  bis  Uasan 
(gesprochen!  mit  eloppeltem  weiche»n  s)  und  Fäss  (Fass)  e'rstreckt  also 
e»twa  den  e*>stlichen  Theil  de»»  Garb.  Die  (jrre»nzen  de»s  „Dje»bel"  im  Ost<Mi 
wflreb»n  also  zunächst  elie  Rif-(ie»birge»,  elann  elie  Ss(»bü-Nie'<le.»rung  bilelen: 
elie'selbe  ist  zugleie*h  die  Südgre^nze».  Im  We'ste'U  sinel  e's  elie  Ebenen  oeler 
das  nie»de»re'  llügellanel  des  <;arb,  welche»  elie»  Grenze  bilele»n,  im  Norelen 
das  Me»e»r.  ele»nn  ele»r  Distrikt  von  Andjera  wirel  me»istens  gleichfalls  mit 
zum  „Dje'be'l"^  ge»rechni»t*-).  3.  Die»  S])rache»  ele'r  Rif-Berbe*r  ((.irui)pe  1) 
«e»r-rifia''.  4.  Die*  Sprache  ele»r  Breber  (Gruppe  2)  „ed-be»rbe»ria*'.  5.  Die 
Spraedie  der  Sehledj  ((iruppe»  3)  „e'sch-schilha**,  oele»r  auch,  in  Ableitung 
ve)m  Worte»  Ssuss,  „ess-ssilssia*"  ge»nannt.  0.  Die  Sprae'he»  eb»r  Ne»ge»r,  „el- 
gnauia"*,     von     dem    Substantiv    „Gnaui*,    Neger,    abgeli»itet  ^).      7.     Die 

1 ,    Writor  unten  j;e?l»e  ich  Näheres  über  die  Eintheiliin^  elieser  ^310661**. 
'2.  Im  ei^entliehen  Herzen  dieses  (iel»ietes  Jie^t  ein  hochverehrtes  nKthanimedanisches 
Sanctnariiuii,   die  Kubha  d<*s  lieilip'n  Mulai  'Abd-ess  iSsalam  Ben  Mschisch  (f  1227;  auf 
dem  I)jcb«d-A'lam  ;.,Fahnenberg") 
P         3)    .(inaui"  «»der  .(Jcnaui*  -  Eiu«'r  aus  üuinea. 


108  ^'  Quedenfeldt: 

Sprache  der  Juden,  hebräisch,  „el-ihiidia"  (von  Ihiidi,  Jude*)),  und  end- 
lich 8.  die  Sprachen  der  Europäer,  welche  in  Marokko,  gleichviel  ob  es 
nun  Deutsch,  Spanisch,  Französisch  u.  s.  w.  sei,  mit  dem  Worte  „el- 
'adjmia"  bezeichnet  werden.  — 

Es  bedarf  kaum  einer  besonderen  Erwähnung,  dass  die  Araber  bei 
ihrem  ei'sten  Einbruch  das  ganze  Land,  selbstverständlich  auch  die 
Ebenen,  von  Berbern  bewohnt  vorfanden.  Noch  heut  erinnern  in  Gegenden, 
wo  diese  längst  verschwunden  sind,  viele  locale  Bezeichnungen,  wie  z.  B. 
die  Namen  der  Städte  Tetuan^),  Aseniilr'),  der  Ruinen  von  Tit*)  unweit 
Masagan*)  an  die  früheren  Bewohner.  Was  die  gegenwärtig  arabisch 
redende  Bevölkerung  der  gebirgigen  Theile  Marokko's  betriflTt,  so  ist 
dieselbe  ohne  Zweifel  zum  weitaus  grössten  Theile  berberischen  Ursprungs. 
So  z.  B.  di(»  Stämme  der  Beni  Hassan,  Beni  Seruäl,  Beni  Ahmed  etc.  im 
„Djebel",  die  um  Tessa  (auch  Tesa  oder  Tasa)  wohnenden  Kabilen  Gijäta, 
Beni  Uargain,  die  Zul  (üsul,  Atssul),  el-Abranss  (el-Branss),  Beni-Ulid  und 
andere.  Diese  Stämme  gehören,  mit  wenigen  Ausnahmen,  zu  den  wildesten 
und  unbotmässigsten  des  ganzen  Magrib  und  sie  neigen  in  Habitus,  Sitten 
und  Bräuchen  sehr  zu  den  Berbern  der  Gruppen  l  oder  2.  Das  Gleiche 
thun  die  westlich  an  das  Gebiet  der  „Breber"  grenzenden,  arabisch 
redenden  Stämme  der  Beni  Aljssin  (Hassin),  Säir^)  (Isair)  etc.,  von 
denen  z.  B.  d\o  genannten  die  Gewohnheit  der  ilmen  benachbarten 
Semilr-Schilh  und  Saian  angenommen  haben,  grosse  Locken,  ähnlich  denen 
der  marokkanischen  Juden,  (nuäder),  an  jeder  Seite  des  Kopfes  zu  trägen. 
Indessen  die  Sprache  aller  dieser  Kabilen,  sowie  auch  verschiedener  im 
Osten  an  das  Gebiet  unserer  Gruppe  2  grenzender  Stämme  von  vermuthlich 
berberischer  Provenienz  ist  gegenwärtig  arabisch.  Bei  dem  bisherigen 
Mangel  jeder  anthropologischen  Untersuchung,  bei  unserer  nach  allen 
Richtungen  hin  so  geringen  Kenntniss  dieser  Stämme,  die  jede  Gewiss- 
heit über  ihre  Zugehörigkeit  zu  d(»r  einen  oder  der  anderen  Rasse  aus- 
schliesst,    können  wir  uns    nur   an    die    sprachlichen  Unterschiede    halten. 


1)  Correct:  „ol-jehudia"  (el-jehüdija)  und  „Jehüdi". 

2)  ^Tettauin**  (woraus  dio  europaische,  ähnlich  lautende  Benennung  entstanden  ist) 
bedeutet  in  der  Sprache  der  Hif-  und  centralen  Berber  „Augen**  oder  .»Quellen'*;  der 
Name  bezieht  sich  auf  den  Wasserreichthuni  der  Stadt.  Die  Sage  von  der  einäugigen 
Grälin  bei  Leo  Africanus  u.  A.  ist  etymologisch  ohne  Werth. 

3)  In  der  Sprache  der  Schlöh  =  wilder  Oelbaum. 

4)  Sing,  von  Tettauin,  also  .,ein  Auge".  (iREY  Jackson  leitet  auf  S.  43  seines  Buches: 
^An  Account  of  the  empire  of  Marocco-  u.  s.  w.,  London  1811,  diese  Bezeichnung  von  — 
Titus  ab. 

5)  Der  europäische  Name  dieser  150G  von  don  Portugiesen  erbauten  Stadt  ist  von 
..Imasigen""  abzuleiten:  die  Araber  nennen  den  Ort  meist  „el-Djedida",  die  Neue,  oder 
seltener  „el-Bridja",  kleines  Castell,  Diminutiv  von  ..el-Bordj**. 

6)  FoucAULD  giebt  irrthümlich  auf  8.  264  seines  Buches  an,  dass  die  Sälr  Tamasigt 
sprechen.  Ich  habe  mich  in  Rabat  vielfach  durch  persönlichen  Verkehr  mit  den  Leuten 
dieser  Kabila  überzeugt,  dass  dies  nicht  der  Fall  ist. 


Eintheilnng  and  Verbreitnng  der  Berberbevölkerung  in  Marokko.  109 

Wonn  «Ho  Hositzorf^eifiing  Marokko'«  durch  oino  ouropÄischo  Macht  der 
wiRsenKchaftlichou  For8('hiiii<j;  mehr  Spielraum  gewahren  wird,  als  dies 
unter  muHelmanisehem  Rejcim«»  der  Fall  ist,  werden  sieh  manche  dieser 
Zweifel  endj^flltig  lösen  lassen. 

Obgleich  in  den  meisten  Publicatiouen  über  Marokko  das  Gegentheil 
behau]»tet  wird,  so  dürften  doch  die  von  arabisch  red(»nden  Bewohnern 
occupirten  I^andestheile  den  von  Herbern  bewohnten  beinahe  an  Umfang 
gleichkommen.  Will  man  allerdings  die  sprachlichen  Unterschiede  nicht 
allein  berficksichtigen,  so  kann  man  CiKRHAKI)  RoHLFö  beipflichten,  wenn 

er  sagt:    ^ und   wenn  man    die  Karte    zur  Hand    nimmt,   wird    man 

finden,  dass  die  Araber  nur  einen  sehr  geringen  Theil  dieses  Reiches 
inn(»haben:  Beni-Snassen,  (laret,  Rif  im  Norden  haben  berberische  Be- 
völkerung, nur  der  (larb,  Beni  Ilassin,  Andjera  und  die  Atlantische  Küste 
bis  zur  Mündung  d(»8  Uäd  Tensift  sind  von  Arabeni  bewohnt  alles  übrige 
Gebiet,  welch(»s  der  Atlas  beherrsdit,  im  Norden  und  Süden,  haben  Berber 
inne,  theils  ansässige,  theils  Nomaden.')" 

Die  atlantischen  Küstenprovinzen  sind  sehr  gross  und  zeichnen  sich 
von  d(»n  gewissernuuissen  mit  ihn(»n  correspondirenden  Kb(»nen  im  Osten 
des  mittleren  (lebirgsstockes  durch  Fruchtbarkeit  des  Bodens  aus.  (Janz 
entschieden  unrichtig  ist  es,  wenn  in  der  kleinen  Bevölkerungskarte  von 
Marokko  auf  S.  689  des  XL  Bandes  des  RECLUS'schen  Prachtworkes  die 
gesammte  Provinz  Schauja  mit  Ausnahme  eines  ganz  schmalen  Küsten- 
striches, sowie  ein  Theil  von  Dukkala,  als  berberisdi  bezcMchnet  ist.  Hier 
leben,  wie  ich  schon  erwähnte,  reine  Arab(»r,  und  es  kann  also  nicht 
einnuil  von  „arabisirten  Berb(»rn**,  —  einem  in  jedem  Falle  sehr  vagen 
Begriffe,  —  die  RchIc»  sein. 

Ich  gehe  nun  zu  einer  kurzen  Charakteristik  jeder  der  drei  Gruppen 
über.  So  gering  auch  das  gebotene  Gesammtmaterial  ist,  ganz  besonders 
das  linguistische,  so  dürfte  «lasselbe  doch  einiges  Interesse  beans])ruchen, 
schon  aus  dem  Grunde,  weil  die  nuirokkanischen  Berber,  so  viel  mir  bekannt, 
bisher  noch  nicht  in  monographischer  Weise  behandelt  worden  sind. 

I.  Nördliche  Gruppe.    Rif- Berber. 

Die  Araber  bezeichnen  die  Rif- Berber  mit  dem  Worte  „Ruafa*)*", 
Plural  von  „Rifi*".  Das  Küstenland,  welches  dieselben  bewohnen,  ist  mit 
äusserst  rauhen  und  unwegsamen  Gebirgen,  welche  mit  dem  System  des 
grossen  Atlas  nur  in  indirecter  Verbindung  stehen  und  welche  man  mit 
dem  Collectivnamen  „Rif-Ciebirge**  bezeichnet,  bedeckt.  Der  eigentliche 
Distrikt  „er-Rif** ')  b(»ginnt  etwa  bei  dem  kleinen  Und  Lau  (Scheschauen 
gehört  noch  zum  „Djebeb)    und  (»rstreckt   sich  östlich   bis  zum  Uiid  Kert 

1;  Reise  durch  Marokko,  Uebersteigung  dos  grossen  Atlas  u.  «.  w.,  Bremen  1868,  8.  26. 

2i   Der  Aussprache  j^enaii  entsprechend  würde  man  .RuJ^flEa"  schreiben  müssen. 

3)  Der  Name  kommt  vom  lateinischen  ripa,  also  Küsten-,  Uferland.  Die  Schreibweise 
^Rür*  statt  ^Rif",  welcher  man  in  Bezug  auf  di<'  Bewohner  dieser  Gegend,  namentlich 
in  der  Zusammensetzung  ^Riffpiraten".  öfter  1iegeg:net,  ist  falsch. 


110  .  M.  Qüedenfeldt: 

(Kerd,  Bu-Kerd),  auf  dessen  rechtem  Ufer  der  Distrikt  von  Gart  beginnt. 
Nach  Anderen  bilden  auch  die  kleinen  Küstenflüsse  Gis  und  Nekiir  (Nakur) 
die  Grenze.  Die  Namen  „Kord**  und  „Gart"  (Garet'))  stehen  natürlich 
im  Zusammenhang.  Nicht  unmöglich  ist  ihre  Ableitung  vom  arabischen 
Worte  „Kard**,  Affe,  da  das  ganze  Rif- Gebiet,  wie  auch  schon  der  Djebel 
Müssa  bei  Ceuta,  der  „Apes-Hill"  unserer  Karten,  zahlreichen  Pithecus 
InuusL.  zum  Aufenthalte  dienen.  TiSSOT  -)  versucht,  etr^^as  weit  hergeholt,  die 
Bezeichnung  Kert  mit  dem  antiken  nQdd^ig  des  Mnaseas  (PliNIÃœS,  XXXVII, 
XI:  „.  .  .  Mnaseas  Africae  locum  Sicyonem  appellat,  et  Crathin,  amnem 
in  Oceanum  affluentem  o  lacu"*)  in  Verbindung  zu  bringen,  welcher  wahr- 
scheinlich mit  dem  heutigen  Uad  Ssebu  zu  identificiren  ist. 

Der  Distrikt  Gart  erstreckt  sich  bis  zum  unteren  Laufe  des  Muluja 
(Mluia,  Miluia).  Oestlich  von  diesem  Flusse  bis  ungefähr  in  der  Nähe 
von  üdjda,  der  Grenzstadt  Marokkos  gegen  Algerien,  wohnen  die  Beni 
Snassen  oder  Isnäten '').  Dieser  grosse  Stamm  spricht  einen  von  der 
Sprache  der  Kif- Berber  abweichenden  Dialekt,  welcher  nach  Mittheilungen, 
die  mir  von  den  Eingeborenen  gemacht  wurden,  dem  der  algerischen 
Berber  in  der  Provinz  Oran  sehr  nahe  stehen  soll. 

Dieses  ganze,  hier  kurz  skizzirte  Küstengebiet  ist,  mit  alleiniger  Aus- 
nahme einiger  Stämme  in  der  Niedi^'ung  an  der  Kert-Mündung,  welche 
arabisch  sprechen,  nur  von  „rifisch'*  redenden  Berbern  bewohnt.  Mir 
wurde  die  Kabila  Z(»luj\n  (Sseluan)  als  arabisch  sprechend  bezeichnet.  Auf  den 
südlichen  Bergen  des  Rif-Complexes  in  dieser  Gegend  oder  in  der  oberen 
Muluja-Niederung  finden  sich  verschiedene,  einst  sehr  mächtige  Berber- 
fractionen,  die  Ssenhadja,  Miknässa,  Ilauunra,  die  aber  gegenwärtig  alle 
arabisch  sprechen.  Die  Ilauuara  b(»liaupten,  es  auch  der  Kasse  nach  zu 
sohl.  Gleichnamige  Abtheilungen  dieser  durch  die  arabischen  Historio- 
graphen  des  Mittelalters  auch  in  europäischen  (Jeschichtswerken  genugsam 
eingeführten  Stämme  finden  sich  heut  verstreut  im  ganzen  nordwestlichen 
Afrika,  bis  nach  Senegambien  hin.*) 

1)  FouCAULD  schreibt,  S.  387,  89()  if.,  das  Wort  mit  dem  }>;  so  viel  mir  bekannt, 
wird  CS  mit  dem  k  am  Anfang  geschrieben,  ein  Buchstabe,  der  im  Magribinischcn  sehr 
häufig  durch  g  ersetzt  wird. 

2)  A.  a.  0.  S.  225. 

3)  Die  letztere,  weniger  bekannte  Bezeichnung  ist  die  berberische,  die  erstere 
die  arabische  Fonii  dieses  Stammnamens.  Derselbe  bekundet  ilire  Zugehörigkeit  zu  der 
grossen  historischen  Berberiraction  d<'r  Snata  oder  Senäta  (gewöhnlich  Zeneta  oder  Zeneten 
geschrieben).  Heute  zu  untergeordneter  Bedeutung  hera]>gesunken,  ])ildeten  die  Isnat^n 
zur  Zeit  der  arabischen  lnvasi<»n  nebst  den  Gomeren,  Masmüden,  den  Ssenhadjen  (Zenagen 
(»der  Zenegen)  u.  a.  ehie  der  mächtigsten  Vereinigungen.  In  der  Provinz  «»sch-Schauija  existirt 
noch  heute  eine  Kabila  Snata,  die  aber  z.  Z.  arabisch  spricht.  —  Ans  den  Senäta  ist  die 
l)}Tiastie  der  Meriniden  hervorgegangen,  aus  den  Ssenhadja  die  der  sogen.  Almoraviden, 
richtiger  „Merabidln",  die  (an  die  Religion)  (jiebundenen,  eine  religiöse  Secte,  aus  deren 
Namen  auch  das  bekannte  Wort  .»Marabut*-  gebildet  ist. 

4)  Der  Fluss  .»Senegal**  hat  seinen  europäischen  Namen  nach  den  Ssenhadja.  Vergl. 
..Le  Züuaga  des  tribus  senegalaises.  (yontributiim  a  Tetude  de  la  langue  herbere  par  le 
general  Fai<lh»»rbe.    Paris  1877.    S.  1. 


Eintheilung  und  Vcrbrcitnnp:  clor  BerbcrhcTolkerung  in  Marokko.  Hl 

Die  hauptsächlichsten  Stjlmme  des  Rif  und  Gart  sind  die  Beni  Bu- 
Ferali,  Beni  Urja*;el,  Tinssanian,  Beni  Tusin,  Beni  Ulischk,  Beni  Said, 
Oehiian,  Zeluän,  Kibdana,  Iteni  Snassen  (Isnäten),  Beni  Bu-Sef^uJ)  Einige 
unbedeutendere  Stämme,  ganz  im  Osten,  an  der  algerischen  (irenze,  sind 
die  Beni  Matar  (arab.),  Mehaia  (arab.),  S(»kara  (berb.)  etc. 

Das  gesammte  Kif-6ebiet  ist  nahezu  vollkommen  terra  incognita,  nur  die 
halbkn^isformige  Küste  und  die  Flussmündungen  sind  seit  dem  Jahre  18ör>, 
wo  eint»  französische  wissenschaftliche  Comnüssion  unter  VlNCENDON- 
DmoULIN  und  ThaIDE  DE  KeKHALLET  dieselben  untersucht  hat,  genauer 
bekannt  2).  Die  drei  sog.  „Presidlos",  kleine  befestigte  Stftdte,  welcJie 
Spanien  an  dieser  Küste  besitzt  —  Penon  de  Velez^),  Alhucemas^)  und 
Melilla  —  sind  ganz  unbedeutende  Platze  und  dienen  vornehmlich  poli- 
tischen und  gemeinen  Verbrechern  zum  AufentJialte.*)  Der  Verkehr  der 
Spanier  dieser  Presidios  mit  den  Eingeborenen  ist  meist  ein  einseitiger, 
d.  h.  die  erst(»nMi  dürfen  es  nicht  wagen,  sich  auch  nur  einige  Kilometer 
von  der  Stadt  zu  entfernen;  es  ist  dies  auch  der  fast  ganz  aus  Beamten 
und  Sohlaten  bestehenden  Bevölkerung  von  Seiten  der  spanischen  Behönlen 
auf  das  Strengste  verboten,  schon  deshalb,  um  nicht  mit  dem  Sultan  von 
Marokko  dadurch  in  fruchtlose  Complicationen  zu  gerathen.  Die  Zeiten 
datiren  nur  wenige  Jahre  zurück,  dass  die  Rif- Berber  eine  Art  von  Sj)ort 
damit  trieben,  von  ihren  Bergen  herabzusteigen  und  nach  den  spanischen 
Schiblwachen  auf  den  Wällen,  wie  nach  der  Scheibe  zu  schiessen.  Vor 
fünf  oder  sechs  Jahren  wurde  der  Uouvenieur  eines  dieser  Presidios  von 
<len  Eingeborenen  bei  irgend  einer  (Jelegenheit  thätlich  misshandelt,  und 
die  (»inzige  (Jenugthuung,  welche  Sj)anien  für  diesen  ^ernsten  Zwischenfall*^ 
erlangte,  bestand  darin,  dass  es  —  den  betreffenden  Offizier  ablösen  Hess. 
Der  Sultan,  der  bekanntlich  im  Rif  nur  in  partibus  regiert,  ordnete  eine 
Untersuchung  an,  die  Rif- Berber  lachten  darüber,  von  (»iner  Bestrafung  d(T 
Uebelthäter  war  nicht  die  Rede.  Es  liegt  jedoch  auf  der  Hand,  dass  ein 
solcher  Vorfall,  der  sich  jeden  Tag  ereigiu»n  kann,  unter  Umständen  einen 
vorzüglichen  casus  belli  abgiebt.  Das  war  im  Jahre  185U  der  P^all;  damals 
wollte  Spanien  aus  gewissen  (Jründen    d(»n  Krieg   mit  Marokko    und    be- 

1)  In  der  I/>HSBACH'schon  Uobersetzung  des  Leo  Afuicanx'S  fiudon  sich  versrliiedoue 
dieser  Namen  in  verstümmelter  Fonn,  z.  B.  Beni  Sahid  statt  Beni  Sa  id.  Beni  Oneriaghel 
statt  rrjaf^el,  ferner  Seusaoen  für  Sclieschauen,  Beni  Zarwtd  für  Beni  Sernal,  Beni  Teuzin 
für  Tusin  u-  s.  w. 

2)  Description  nautique  de  la  rote  nord  du  Maroc,  Paris  18.')7. 

3)  Der  spanische  Name  «Velez*  ist  aus  der  Bezeichnung  ^Badls"  der  Eingeborenen 
entstanden.  Der  Ort  liejirt  an  der  Stelle  der  antiken  Parietina  in  Antonin's  Itinerar.  Maii 
hört  densellH'n  auch  oft  als  ^Velez  de  la  Gomera"  («üomera")  bezeichnen,  nach  der 
j:lei<hnamigen  mächti^^en  Berberfraction. 

4;  Arabisch  ..el  Mesemma" :  «ad  sex  insulas"  der  Alten.  (Irabero  von  Hemsoe 
(I.e.  S.  25;  nennt  den  Ort  „Hadjar-en-Nekur".  Felsen  des  Nekür,  an  dessen  Mündung 
die  Stadt  auf  einem  steilen  Felsen  liefet.  Der  Name  .,al  Ilucemas"  soll  nach  <lemselbeu 
Autor  im  Arabischen  .Lawendeh  be<leuten.  (f) 

b)   Der  vierte  und  p*«*»««*«*  Presidio,  ('««uta  ^^Sebta),  ^ad  Abilenr  Antonini,  kommt,  als. 
ausserhalb  des  Uif  liepMid,  hier  nicht  in  Ib*t rächt. 


112  M.  QüEDENFELDT : 

nutzte  ähnliche  Vorfalle,  die  sich  bei  Ceuta  ereignet  hatten,  um  denselben 
herbeizuführen.  Wenn  also  die  Spanier  der  Presidios  vollkommen  so  zu 
8a<i;en  in  Quarantaino  leben,  so  müssen  sie  ihrerseits  doch  den  „Rifenos",  — 
so  nennt  der  Spanier  die  Rifleute,  —  erlauben,  ihre  Plätze  zu  besuchen, 
schon  aus  Veri)roviantirungsgründen.  Doch  ist  der  Verkehr  und  Handel 
im  (lanzen  sehr  unbedeutend.  In  Melilla  (berb.  Mlila,  „die  Weisse")  ist 
das  Verhältniss  in  den  letzten  Jahren  ein  besseres  geworden,  seitdem  ein- 
zelne Dampfer  der  Messagerie  maritime  (I^inie  Marseille  —  Oran)  dort  an- 
laufen und  der  Sultan  die  benachbarten  Stilmme  Geläian  (Kelaia)  und 
Kibdäna    unterworfen  hat. 

Eine  Anzahl  von  Rifenos  steht  als  Soldaten  in  spanischen  Diensten, 
welche,  wie  ich  in  Ceuta  sah,  ein  nacli  Art  der  Zuaven  uniformirtes  be- 
sonderes kleines  Corps  bilden  und  „Jloros  del  rey"  genarnit  werden. 

Das  Ansehen  und  die  Macht  des  Sultans  von  Marokko  stehen  also  im  Rif 
auf  sehr  schwachen  Füssen.  Obgleich  nominell  zu  diesem  Reiche  gehörig, 
sind  die  Rutifa  thatsächlich  unabhängig,  sie  stellen  keine  Soldaten  und 
zahl(»n  (»ntweder  gar  keine  Steuern  od(»r  nur  gelegentlich  solche  in  der 
Form  von  freiwilligen  Abgaben  oder  (ieschenken.  Mulai  Hassan  hat  auch 
nur  au  w(»nigen  Punkten  dieses  ganzen  Küstendistrikts  Käids  oder  Gou- 
verneure, welche,  wo  sie  vorhand(Mi  sind,  so  gut  wie  Nichts  zu  sagen  haben. 
Di(»se  Spuren  einer  Verwaltung  Seitens  der  marokkanischen  Regierung  finden 
sich  in  den  östlichen  Theilen  des  (Jebietes,  im  Gart,  bei  den  Beni 
Snass(?n  u.  s.  w.  Meist  sind  es  die  Schechs  früherer  unbotmässiger  Stämme, 
welche  nach  einigen  glücklichen  „Harka^s"*  oder  Zügen  des  Sultans  mit 
bewafiTneter  Macht  zu  ihrer  Unterwerfung  als  Käids  installirt  wurden.  Seit 
dem  R(»gierungsantritte  des  jetzigcMi  Sultans  1873  hat  derselbe  drei 
Expedition(»n  nach  dem  nördlichen  Küstengebiete  in  Scene  gesetzt.  Die 
erste,  im  Jahre  1875  unternommene,  hatte  den  eigentlichen  Rif,  zwischen 
Uäd  Lau  und  Uad  Nekür,  zum  Ziel.  Ein  auf  diese  Expedition  bezügliches 
Soldatenlied,  „el-harka  hT-Rif**^)  betitelt,  wird  noch  gegenwärtig  von  den 
*Askar  viel  gesungen.  Mulai  Hassan  trat  bei  dieser  Gelegenheit  sehr  milde 
und  versöhnlich  auf.  Er  ging  nicht  in  das  unwegsame  liniere  des  Gebietes, 
benahm  sich  überall  vorsichtig  und  erreichte  so,  dass  der  ganze  Zug, 
so  viel  ich  wenigstens  darüber  erfahren  konnte,  unblutig  verlief.  Der 
Eindruck,  den  er  auf  die  Rif- Berber  machte,  soll  ein  sehr  günstiger 
gewissen  sein.  Man  (»rzählte,  dass  an  einzelnen  Orten  die  Verehrung 
und  der  Enthusiasmus  sogar  einen  solchen  Grad  erreicht  habe,  dass  das 
Volk  den  Bernüs  d(»s  Sultans,  den  ihm  dieser  willig  überliess,  in  kleine 
Stücke  zerrissen  und  diesellx'ii  als  (»ine  Art  Talisman  heimgetragen  habe. 
Seit  diesem  „Antrittslx^suche"*,  den  Mulai  Hassan  nur  unternommen  hatte, 
um  seinem  Volke  und  den  (europäischen  Mäc]it(»n  zu  zeigen,  dass  er  auch 
in  diesem  Theile  seines  Gebiet(»s  Herr  sei,    und  der  ohne  jede    practische 

1)   Correct:  el-häraka  iV  er-rif,  die  Harka  nach  dem  Rif. 


Eintheilung  und  Vorbreitling  dor  BerberboTolkening  in  Marokko.  113 

Polgen  bliob,  ist  der  Sultan  nicht  wieder  in  den  eigentlichen  Rif  g(»gangen, 
wohl  aber  1876  nach  der  Nordostgrenze  s(»ines  Reiches.  Hier  unterwarf 
er  die  Ben!  Snassen  und  fieni  Bu-Segu,  sowie  die  Kibdäna.  Mit  IFulfc? 
der  letzteren  bekriegte  er  dann  auf  dem  Rückwege  die  (iijata*),  welche  ihm 
auf  dem  Hinmärsche  eint»  arge»  Schlappe  beigebracht  hatten.  Die  Armee 
wurde  an  einer  Schlucht  am  Ufer  des  Uad  Bu-t5erba  überfallen;  man 
sagt,  die»  (iijata  hatten  Schleusen  g(»baut,  die  sie»  plötzlich  einrissen,  un<l 
durch  die  auf  die  Marschkolonne  her(»inbrech(Miden  Wiisser  <l(»s  Bergstromes 
wurde  dieselbe  erschüttert.  Die  üijata  hatten  in  der  allgem(»inen  Verwirrung 
leichtes  Spiel.  Sie  todteten  i»ine  grosse  Anzahl  der  Truppen  des  Sultans, 
diesem  selbst  wurde  das  Pferd  unter  «lem  Leibe  erschossen,  und  selbst  ein 
Theil  seiner  Frauen  war  nahe  daran,  g(»fangen  zu  werd(Mi.  Die  Beute  der 
<tijata,  die  u.  a.  auch  v<»rschiedene  Geschütze  nahmen,  war  s(»hr  gross, 
<lie  Niederlage  der  Truppen  vollständig.  Ich  will  über  diesen  unbot- 
massigsten  aller  Stämme,  der,  wie  die  Marokkaner  sagen,  „nicht  (üott, 
nicht  Sultan  fürchtet  und  mir  das  Pulver  kennt",  hier  einige  Notizen, 
nach  FOUCAULD-),  geb<»n.  Die  Verfassung  des  Stammes,  der  im  (lanzen 
etwa  3000  Fussganger  und  200  Reiter  aufstellen  kann,  ist  eine  durchaus 
demokratische.  Sie  haben  wed(»r  Schechs,  noch  sonst  Cliels  irgend  welch(»r 
Art,  —  jeiler  für  sich  mit  seiner  Waffe.  Trotzdem  giebt  es  unter  ihnen, 
wie  überall,  einige  Persöidichkeiten,  die»  durch  Klugheit,  Tapferkeit,  Wohl- 
habenheit einen  dominirenden  P^influss  erworben  haben.  (f(»genwärtig  ist 
ein  gewisser  Bei  Chadir,  Bewohn(»r  des  Dorfes  Negert,  die  einflussnMchst«» 
Persönlichkeit.  Ausserdem  geniessen  einige  ndigiöse  Chefs:  Mulai  Edris 
Serben,  Mnlai  Abd-er-Rahman  u.  s.  w.,  und  Schürfa  aus  d(»ren  Descendenz 
Hinfluss  und  Ansehen  bei  ihnen,  besonders  der  erstgenannte  Heilige.  Un- 
zweifelhaft von  berberischer  Abstammung,  sprechen  die  (iijata  geg(»nwärtig 
fast  durchgehends  arabisch.  Si(»  bewohnen  vorwi(»gend  rauhes  Gebirgslaml 
und  th(»ilen  sich  in  i\  Fractionen.  Die  Männer  sowohl  wie  die  Frauen 
dieses  St^immes  sind  im  Durchschnitt  von  hohem  Wuchs:  die  Weiber  sind 
ste^  unverschleiert,  «lie  Manner  gehen  barhäuptig,  eine  dünne  Schnur 
von  Kameelwolle  oder  weisser  Baumwolle  um  Stirn  und  Kopf  gewmnlen. 
Beide  Geschlechter  schnupfen  —  eine  Leidenschaft,  der  in  Marokko  sonst  nur 
ältere  Leute,  Tolba  oder  Schriftgelehrte,  meist  in  den  Städten,  fröhnen. 
Die  Männer  der  (iijata  sind  überdies  starke  Kifraucher. 

Die  Beni  Snassen  wunlen  ganz  unabhängig  bis  187G  von  ihren  erb- 
lichen Schechs  regiert:  d(»s  h»tzten  «lerselben,  des  Iladj  Mimun  Ren  (d- 
Baschir.  der  sehr  angesehen  und  bcdiebt  bei  seinem  Stamme  war,  bemäch- 
tigte sich  der  Sultan  mit  List  und  warf  ihn  ins  (lefängniss.  In  dem 
genannten  Jahre  theilte  der  Sultan  diesen  Stamm  in  vier  Theile,  d(»ren 
jedem    er    einen    Kaid    v(»rsetzte,    welchem    sie    indessen    nur    einen    sehr 

1)  Anch  bei  diesem  Worte,  wie  bei  Fuss.  Mikiiuss,  Beräbir,  Snata  u.  8.  w.,  tritt  in  der 
Tulgftren  Sprache  eine  Wandlunf^  des  langen  A  in  a  oder  u  ein,  also  gespr.  (*jijata(Riäta). 

2)  A.  a.  0.  S.  S3  und  34. 


114  M.  Quedenfeldt: 

bedingten    Gehorsam    entgegenbringen.      Bei    den    Beni   Bu-Segii    wurde 
deren  früherer  Schech,  Hamädu,  vom  Sultan  zum  Käid  ernannt. 

Im  Jahre  1880  schickte  Mulai  Hassan  seinen  Onkel,  Mulai  el-Amin, 
nach  dem  Gart;  derselbe  untenvarf  nach  einer  sehr  langen  Harka  die 
Geläia,  die  sich  seitdem  in  einem  gleich  lockeren  abhängigen  Verhaltniss 
zur  marokkanischen  Regierung  befinden.  Damit  ist  die  Taste  der  tribu- 
tären  Rif- Stämme  erschöpft. 

Ein  gebildeter  und  unterrichteter  Tetäuni  (Bewohner  von  Tetuan), 
mit  welchem  ich  mich  einmal  über  die  Unbotmässigkeit  der  Rif- Berber 
unterhielt,  sprach  sich  dahin  aus,  dass  der  Sultan  und  die  gesammto 
Bevölkerung  des  Landes  im  Grunde  gar  keine  Ursache  hätten,  mit  diesem 
Status  quo  besonders  unzufrieden  zu  sein.  Die  wilden  Ruäfa  in  ihren 
unzugänglichen  Gebirgen,  überhaupt  die  unbotmässigen  kriegerischen 
Stämme  im  ganzen  östlichen  Theile  des  Landes  seien  der  beste  Wall  gegen 
eine  Occupation  Marokkos  durch  die  Franzosen  von  Algerien  aus. 

Die  gleichen  Gründe  haben  bisher  nicht  nur  eine  wissenschaftliclie 
Erforschung,  sondern  selbst  jede  Bereisung  des  Rif-Gebietes  durch  Euro- 
päer unmöglich  gemacht,  so  dass  man  dasselbe  mit  Fug  und  Recht 
als  einen  der  am  wenigsten  bekannten  Punkte  des  gesammten 
afrikanischen    Continents    bezeichnen    kann. 

Als  der  beste  Kenner  des  Rif  konnte  der  mehrfach  erwähnte,  jetzt 
verstorbene  französische  Ministerresident  TiSSOT  gelten.  Doch  beruhten 
auch  TlSSOTs  Kenntnisse  von  diesen  Landestheilen  Marokko's  nur  in 
sehr  geringem  Maasse  auf  eigener  Anschauung,  sondern  allermeist  auf  sehr 
sorgsam  gesichteten  und  zuverlässigen  Informationen  durch  Eingeborene. 
Vor  einigen  Jahren  machte  ein  anderer  Franzose,  der  Vicomte  MAURICE 
DE  CHAVAGNAC^),  den  Versuch,  von  Ruäfa  in  Tanger  ein  grösseres,  mitten 
im  Rif  gelegenes  Stück  Land  käuflich  zu  erworben,  oder  er  erwarb  dasselbe 
sogar  in  aller  Form.  Es  liandelte  sich  damals,  unter  der  Amtsführung 
des  intriguanten  französischen  Ministerresidenten  ORDEGA,  wohl  um  ein 
politisches  Manöver,  darum,  einen  Druck  auf  den  Sultan  auszuüben,  oder 
zum  mindesten  um  eine  Spi^culation  auf  die  Börse  Sr.  Scherifischen  Majestät. 
Man  hatte,  so  wurde  mir  von  glaubwürdiger  Seite  in  Tanger  erzählt,  auf 
Grund  älmlicher  PräcedtMizfälh»  gehofft,  «ler  Sultan  werde,  bei  seiner 
bekannteu  Sclieu  vor  Complicationen  mit  Euro])ä(»rn,  durch  die  Festsetzung 
eines  solchen  im  Rif  sicli  sofort  V(»ranlasst  sehen,  das  betreffende  Grund- 
stü(»k  für  einen  weit  höheren  Kaufpreis  in  seinen  Besitz  zu  bringen. 
Dies  geschah  jedoch  nicht.  Die  Angelegenheit  staiul  vor  Kurzem  noch  so, 
dass  Hr.  V.  CHAVAGNAr  zwar  „Grossgrundbesitzer"  im  J{if  ist,  aber  weder 
zur  See  noch  auf  ileni  Landeswege  sein  Eigenthum  erreichen  kaini.    Gegen 

1)  CuAVAONAC  ist  einer  der  wenigen  Eur()j)Her,  welche  die  Tour  von  Fäss  nach 
üdjda  (über  Tessa)  gemacht  hahen.  Ea  war  ihm  durch  Empfehlungen  des  Scherif  von 
Uasan  möglich.  Ich  triif  in  Tetuan  und  Tanger  wiederholt  mit  (yHAVAONAC  zusammen; 
derselbe  hat  in  letzterer  Stadt  seinen  bleibenden  Aufenthalt. 


Eintheihmg  und  Verbreitung  der  Berherbevolkorung  in  Marokko.  Hö 

eine  Landung  von  dor  S(M>seito  aus  erhebt  der  Sultan  l^rotest,  da  sieh  an 
der  Rif- Küste  keine  Duane,  überhaupt  an  der  ganzen  Nordknste  Marokko"« 
keine  dem  Verkehr  geöffnete»  Landungsstelle  befindet,  und  der  Landweg 
ist  zu  gefährlich. 

Das  Wenige,  was  wir  also  über  die  Ilif-Berber  wissen,  ist  nicht  in 
«leren  (lebiete  selbst  erkundet,  sondern  durch  Beobachtung  an  ausserhalb 
«lesselben  lebend(»n  Ruafa  und  Informationen  bei  denselben  in  Krfahrung 
gel)raeht.  (tanz  bes(>nd(»rs  in  Tanger  liiilt  sich  stets  eine  grosse  Anzahl 
dieser  Leute  auf,  die  theils  d(»r  Folgen  der  Blutrache  wegen,  th(»ils  um 
Arbeit  zu  suchen,  ihre  H<»imath  verlassen  haben.  Ujus  „jus  talionis**  wird 
bei  allen  nnirokkanischen  Berbern  und  Arabern  nach  bekanntem  moham- 
nunlanischem  Brauch  ausgeübt,  bei  dcMi  Rif- Berbern  in  der  strengsten  Form; 
die  Sache  wird  dort  höchst  selten,  man  kann  sagen  nie.  mit  Geld  in  Ord- 
nung gebracht.  Auch  in  Tetuan,  der  dem  Rif  zunächst  gelegenen  marok- 
kanischen Stadt,  findet  man  viele  Leute  von  dort.  Ueberhaupt  sind  dic»- 
selben,  —  und  das  ist  eine  Eigenschaft,  die  sie,  nach  meiner  Beobsichtung, 
mit  d(»n  Schlöh,  nicht  aber  mit  den  Berbern  der  mittlenui  üruppe  theilen,  — 
sehr  wanderlustig.  Sii»  entschliessen  sich  leicht,  auf  längere  oder  kürzere 
Zeit  in  die  Nachbarschaft,  nach  Algerien  oder  Tunis,  auf  Arbeit  zu  gehen. 
Ich  traf  ganze  Trupps  der  Leute  in  Algier  und  Medea,  wo  sie  mi»ist  als 
Enlarbeiter    thätig   waren    und  für  fleissig  und  tüclitig  angesehen  wurden. 

Im  Allgemeinen  präsentiren  sicli  die  Rif-Berber,  wie  jeder  Reisende, 
der  Tang(»r  besucht,  Geh»genheit  hat,  sich  zu  überzeugen,  als  mittelgrosse, 
kräftige,  breitschulterige  Gestalten.  Sehr  häufig  beg(»gnet  man  unter 
ihnen  Individuen  mit  flachsblondem  oder  röthlichem  Haar  und 
blauen  Aug(Mi,  von  <lenen  viele  auch  dun^li  ihren  kurzen  Hals,  das  bn^ite, 
runde  oder  massig  ovale  Gesiclit  mit  hervortretenden  Backenknochen  u.  s.  w. 
vollkommen  an  <len  gewöhnlichen  Typus  unserer  norddeutschen  Landleute 
erinnern. 

U(d)er  diese  oigenthümliche  Ersch(»inung,  welche  sich  auch  in  der 
algerischc^n  Kabylie  find(»t,  ist  vitd  geschrieben  und  gestritten  worden,  — 
ich  citire  nur:  AUCAPITAINE,  BRUCE,  GAKETTE,  IL  DUVEYRIER,  FAIDüERBE, 

Gi:yon,0.  lIouDAs.  Henry  Martin,  Masqueray',  Perier,  I'laifair,  Shaw, 

TiSSOT,  Tul*lNARD,  — jetloch  bisher  ohm»  jedes  b(»stimnit(»  Krgebniss.  Die 
einen  behaupten,  dieses  theilweise  Blondsein  s(»i  ein  Attribut  aller  vorwiegend 
in  höheren  Gebirgen  lebentlen  Völker,  auch  in  südlichen  Breiten,  und  8(»i 
«laher  bei  den  Berbern  gar  nicht  besonders  merkwürdig.  Andere  führen 
es  auf  frenub'  F/uiflüsse  un«l  Vermischungen  in  historischer  Zeit  zurück. 
Noch  and«»n'  halten  dit»  blonden  Berber  für  Ueberbleibsel  jener  Rasse, 
welchr  in  |>rähistorischer  Z(Mt  ilie  vorgefundc»nen  megalithischen  Denk- 
mäler errichtet  habe  und  welch«?  nordischen  Ursprungs  gew(»s(»n  sei.  So 
lange  ki'int'  eingehenden  anthropologischen  und  linguistischen  Unter- 
HUchungiMi  nach  dies(»r  Richtung  angestellt  wenlen  können,  wird  die  Frage,  wie 
so  manrht'  and«Tt».  ung«döst  l)leiben,     -  wenn  sie  überhaupt  noeh  zu  lösen  i.st. 


116  M.  QUEDENFEI^DT : 

Meine  Ansieht  bezüglich  der  Rif- Bewohner  ist  die,  dass  die  in  Rede 
stehende  Erscheinung  auf  eine  Vermischung  mit  nordischen  Elementen  und 
zwar  mit  den  429  n.  Chr.  von  der  pyrenäischen  Halbinsel  ausgewanderten 
Vandalen  zurückzuführen  sei.  Wenn  wir  auch  wissen,  dass  das  Gros  der 
Vandalen  viel  weiter  östlich  auf  afrikanischem  Boden  gelandet  ist,  so  ist 
doch  ein  üebertreten  kleinerer  Partien  in  den  Rif  durchaus  möglieh, 
sogar  wahrsclieinlich,  und  hier,  in  diesen  abgeschlossenen  Gebirgsthälem, 
in  dem  gewiss  schwacli  bevölkerten  Gebiete,  konnten  sie  ihre  Rasse  in 
sich  fortpflanzen  oder  docli  sehr  integrirend  auf  die  schon  vorhandenen 
Elemente  einwirken.  Als  Nordlander  kam  ihnen  bei  ihrer  Acclimatisirung 
das  rauhe  Klima  der  Rif- Gebirge  zu  statten.  Ein  Umstand  scheint  mir 
jedenfalls  für  die  Richtigkeit  dieser  Theorie  zu  s])rechen.  Wir  können, 
da  wir  doch  ursprünglich  bei  allen  Berbern  einen  gemeinsamen  Grund- 
stamm «innehmen  müssen,  die  gegenwartig  unter  ihnen  vorhandenen  grossen 
Verschiedenheiten  in  Typus,  Spraclie,  Sitten  und  Gebräuchen  nur  auf 
fremde  Einflüsse  zurückführen,  denen  sie  mehr  oder  minder  ausgesetzt 
waren.  Warum  findet  sich  nun  unter  den  Schlöh,  Berbern  der  Gruppe  3, 
die  docli  zum  Theil  in  noch  hölieren  Gebirgen,  im  Grossen  Atlas,  leben, 
nicht  eine  Spur  von  blonden  Elementen?  Das  ist  eine  Thatsaehe, 
die  jeder,  der  im  Gebiet  der  Schlöh  gereist  ist,  zugeben  muss.  Ich  selbst 
habe  unter  Tausenden  dieser  Berber  nicht  ein  blondes  Individuum  gesehen, 
während  bei  den  Rif- Berbern  in  Tanger,  Tetuan  u.  s.  w.  das  Verhältniss 
zwischen  Blonden  und  Dunkelhaarigen  etwa  wie  2 : 5  ist.  Die  blonde 
Bevölkerung  der  Kasba  Agurai  im  Gebiete  «der  Beiii  Mtir  (Gruppe  2)  ist, 
wi(>  wir  sehen  werden,  auf  andere  Ursachen  zurückzuführen.  Da  alle  In- 
vasionen, w(»lche  in  Marokko'  stattgefunden  haben,  von  den  Phönicieni 
bis  zu  den  Arabern,  von  Norden  oder  NordostcMi  her  gekonmien  sind,  so 
hatte  der  Rif  stets  den  ersten  Anprall  auszuhaken;  nach  den  Gebirgs- 
gegenden des  Landinnern  gelangten  fremde  Einflüsse  «»ntweder  gar  nicht 
oder  nur  auf  Umwegen  und  dann  in  sehr  abgeschwächtem  Maasse.  In 
ähnliche^  Weise  mag  das  Vorkommen  blonder  Elemente  unter  den  kana- 
rischen Guanches,  den  westlichsten  Repräsentanten  des  grossen  Berber- 
volkes, durch  dorthin  verschhigene  nordische  Elemente  zu  erklären  sein. 
Uebrrhaupt  hab(^n  hier,  auf  den  abgeschlossenen  Inseln,  wohl  alle  fremden 
Vermischungen  intensiver,  nachhaltiger  gewirkt,  wi(»  auf  dem  benachbarten 
Festlande,  wo  sie  sich  mehr  zerstreuten.  Wir  können  also  annehmen, 
dass  lange  vor  dem  Einbruch  der  Araber  in  den  Mairib  schon  wesent- 
liche Verschiedenheiten  zwischen  den  berberischen  Insulaueni  und  ihren 
continentalen  Verwandten  bestanden. 

U(»ber  di(?  blonden  Berber  in  Algerien  wird  in  einem  kurzen  Resume 
bei  E.  ReOLUS*)  Folgendes  mitgetheilt:  Sie  sind  zahlreich  im  Auresgebirge 
und  namentlich  bei  Chenschela  und  im  Djebel  Scheschar;  in  der  gesammten 

1)  A.  a.  0.  S.  880  u.  f. 


Eintheilung  und  Verbreitung  der  Berber bey öl kerung  in  Marokko.  117 

Provinz  Coiistantino  nuichon  sio,  nach  FaidHERBE,  .  etwa  ein  Zehntel  der 
(.losaninitbovölkerung  aus.  Die  Denhadja,  welche  in  einem  zum  FIuks- 
gobiete  de«  Ssafssaf  *)  gehörigen  kleinen  Thah»,  südöstlich  von  Philippe- 
ville,  wohnen,  behaupten,  von  blonden  Vorfahren  abzustammen,  obgleich 
Kreuzungen  mit  ihren  Nachbarn  vielfach  dunkle  Aug(>n  und  llaaro  bei 
ihnen  h(»rvorg(d)racht  hätten.  Sie  nennen  sich  selbst  „Uled  el-l)juhala", 
„Söhne  von  Hei(h»n'^,  un<l  bis  vor  nicht  langer  Zeit  errichteten  sie  noch 
auf  den  Uegräbnissstätten  ihrer  Todten  massive  Blöcke,  bei  welchen 
sie  religiöse  Ceremonien  begingen.  Diese  Thatsache  giebt  der  Hypothese 
verschiedener  (lehdirten  einen  Rückhalt,  wtdche  den  Bau  der  algerischen 
Megalithen  blonden,  vom  Norden  her  über  die  iberische  Halbinsel  durch 
die  Meerenge  von  (fibralt4ir  gekommenen  Völkern  zuschreiben.  Man  hat 
auch  in  diesen  blonden  Afrikanern  Abkönmilinge  römischer  Söldner,  speciell 
der  Gallier  und  (iermaneu,  sehen  wollen,  welche  von  den  Römern  zur 
Yertheidigung  ihrer  Sfl<lgrenze  hier  stationirt  waren.  Nach  anderen  Autoren 
wilren  die  von  Belisar  um  533  in's  Auresgebirge  zurückgeworfenen  Yan- 
dalen  nicht  völlig  verschwunden.  Dank  der  Höhe  der  Gebirge  hätten 
sich  diese  nordischtm  Einwanderer  dem  afrikanischen  Klima  gefügt,  und 
die  Brüder  der  Scandinavier  ligurirten  jetzt  unter  den  algerischen  Berbern. 
Es  wird  weiter  nachgewiesen,  wie  sich  bei  einigen  kabylischen  Triben, 
z.B.  den  Uled  el-Askar,  auch  der  römische  Typus ^')  und  die  Tradition 
aus  d(T  Römerzeit  vollkommen  erhalt(»n  hat.  Bekannt  ist,  dass  vor  der 
Besitznahme  Nordafrika's  durch  di<^  Araber  viele  d(»r  dortigen  Bewohner 
sich  zur  christlichen  od(»r  zur  jüdischen  Religion  bekannten.  Aus  jener 
späteren  römischen  p]i)Oche,  wo  die  Bergbewohner  der  Provinz  Afrika  ihre 
Bischöfe  zum  Coucil  schickten,  glaubt  man,  schreibt»  sich  der  noch  heute 
bestehende  Brauch,  dass  im  Aures  die  Berber  sich  am  1.  Januar  (innar')) 
besuchen,  sich  beglückwünschen  u.  s.  w. 

Sj>eciell  in  Bezug  auf  die  blonden  Berber  des  Sultanats  Marokko  wird 
auf  S.  688  nur  gesagt,  dass,  ebenso  wie  unter  den  Schauija  und  Kabylen 
Algeriens,  sich  auch  unter  den  Imasi^en  Marokko's  Individuen  mit  blonden 
Haaren  und  blauen  Augen  befiinden.  Aber  in  den  mittleren  und  südlichc^n 
Geg(»nden  scheine  der  blonde  Typus  sehr  selten  zu  sein.  ROHLFS  sagt, 
er  habe  auf  sc»inen  zahlreichen  Touren  in  jtMien  Gegenden  nur  ein  Indi- 
viduum bemerkt,  welches  sich  von  den  anderen  durch  helle  Färbung  des 
Haares  unterschieden  habe.  Im  Rif,  d.  h.  in  der  Küstengegend,  wo  öfter 
Einbrüche  oder  Einwanderungen  von  der  pyrenäischen  Halbinsel  her 
stiittgefunden  haben,  bemerkt  man  die  blonden  Berber  in  grösster  Anzahl. 

1)  räd  Ssafssaf  =  Weisspappellluss. 

2)  Worin  die  charakteristischen  Merkmale  dieses  «römischeu  Typus"  bestehen  sollen, 
ist  leider  nicht  anjregehen. 

3;  Anch  in  Marokko,  bei  der  arabischen  und  noch  mehr  bei  der  berberischen  Beviil- 
kenin^;,  sin<l  die  christlichen  Monatsnamen,  wenn  auch  in  sehr  verstümmeIt<T  Form  (z.  H. 
.ruscht-  fiir  Auj^ust,  „8chut<Mnbir"  für  September  u.  s.  w.),  nicht  unbekannt. 


118  M.  Quedenfeldt: 

TiSSOT  war,  als  er  in  der  Nähe  des  Rif  reiste,  erstaunt,  einem  so  starken 
Proccmtsatze  von  Leuten  mit  vollständig  nordischen  Gesichtszügen  unter 
den  Rif-Berbern  zu  begegnen.  Hat  man  in  ihnen,  mit  FAIDHERBE,  die 
mehr  oder  minder  vermischten  Nachkommen  derer  zu  sehen,  welche  die 
megalithischen  Denkmäler  der  Gegend  errichtet  haben? 

Was  den  Charakter  der  Ruäfa  betrifft,  so  suchen  die  Araber  wahre 
Monstra  an  Schlechtigkeit  aus  ihnen  zu  machen,  während  Andere,  z.  B. 
Spanier,  welche  sie  vielfach  in  Dienst  nehmen,  sie  im  Durchschnitt  für 
ganz  treue  und  zuverlässige  Leute  erklären.  Die  Wahrheit  mag  wohl  in 
der  Mitte  liegen.  Jedenfalls  sind  viele  ihrer  Eigenschaften,  die  wnr  von 
unserem  Standpunkte  verdammen,  das  Resultat  von  Yerhältnisseu  und 
An8chauung(»n,  in  denen  das  Volk  seit  undenklicher  Zeit  lebt. 

Lnierhalb  des  Rif- Gebietes  dürfen  wohlhabende  Araber  ebenso  wenig 
reisen,  wie  Christen,  wenn  sie  nicht  (lefahr  laufen  wollen,  ausgeplündert 
oder  ermordet  zu  werden,  und  selbst  ein  einmal  zugesicherter  Schutz 
(anäia)  soll  bei  d«Mi  Rif-Berbern  oftmals  gebrochen  werden.  Der  religiöse 
Fanatismus  spielt  dabei  eine  sehr  geringe  Rolle,  —  deini  die  Ruäfa  sind 
keine  eifrigcMi  Muslemin;  —  sondern  mehr  unbegrenzte  Raublust  imd 
Abn(»igimg  gogen  alles  Fremdi».  Die  Araber  sagen:  Traue  einem  Rifi 
niemals;  bist  du  mit  ihm  auf  dem  Marsche,  so  lasse  ihn,  und  sei  er  dein 
eigen(»r  VerwandtiT,  stets  vorangehen,  um  nicht  unversehens  seiner  Tücke 
zum  Opfer  zu  fallen. 

Die  Behandlung  der  Juden  bei  den  Ruafa  ist  eine  sehr  schlechte; 
es    sind   in  Folge  dessen  auch  sehr  wenige  dort,    die  UKMsten  in  Taferssit. 

Die  Rif- Berber  sind,  vielleicht  in  J'olge  ihrer  oftmals  bösen  eigenen 
Intentionc^n,  auch  g(»gen  Andere  sehr  misstrauisch.  Sie  gi^statten  z.  B. 
ni(^rnals,  dass  Jemand  bei  der  Besichtigung  ihrer  stets  scharf  geladenen 
Feuerwaffen  mit  dem  Finger  in  die  Nähe  des  Abzuges  fasst,  sehen  es 
überhaupt  sehr  ungern,  wenn  ein  Fremd(»r  ihre  Waffen  in  die  Hand  nimmt. 
Der  (Jrund  ist  lediglich  der,  dass  sie  fürcht(Mi,  (»s  könne  der  Betreffende 
den  Moment  ilnvr  Wehrlosigk(»it  benutzen  nn<l  die  Waffe  gegen  sie  selbst 
gebrauchen.  Die  ewigen  Fehden  und  Kämpfe,  nicht  allein  der  verschie- 
denen Kabilen,  sondern  oftmals  auch  der  einzelnen  Familien  untereinander, 
hab(Mi  den  Leuten  diest^s  unb(»siegbare  Misstranen  gegen  Alle  und  Jeden 
eingeimpft.  A^)n  den  Ruafa  in  Tanger  haben,  wie  ich  schon  erwähnte, 
viele  aus  Furcht  vor  der  Blutrache  ihre  HeimatJi  verlassen,  und  sie  leben 
in  der  steten  Furcht,  dort  von  einem  Mitgli(Ml(»  der  feindlichen  Partei  auf- 
gesucht und  getödtet  zu  werden. 

xVls  ich  im  Jahn?  1880  zum  ersten  Male  in  Tanger  war  und  diese 
Verhältnisse  noch  nicht  kannte,  hätte  ich  l)einahe  Gelegenheit  gehabt,  sie 
in  sehr  wenig  angenehmer  Weise  practisch  zu  erproben.  Ich  ging  eines 
Tages  ausserhalb  <ler  Stadt  mit  einem  schw(»izer  Maler,  welcher  mit  mir 
das  gleicln»  Hotel  bewohnte,  sp{izi(Ten.    Wir  beg»»gneten  einem  Rifi,  dessen 


Kinth<«ilun|?  und  Verbreitun^f  der  BerlMTbcvölkoriing  in  Marokko.  1 19 

freni<Uirtige  Ersclieimmg,  Kleiduiij^  und  Bowaffnuiij»;  inicli  imgcMiieiii  inter- 
oHsirteii.  Wir  näliortoii  uns  ihm,  boten  ihm  Cigarrotton  an  und  der  Maler 
sprach  einige»  Worte  in  gebroch(»n(»m  Arabisch  mit  ihm.  Während  dessen 
streckte  idi  unwillkürlich  den  Arm  aus,  wie  um  den  Kolben  einer  der 
grossen  Steinschlo8sj)istol(Mi,  die  er  im  Gürtel  trug,  zu  ergreifen.  Da 
sprang  der  Mann  mit  ein(»ni  so  droli(»nd(»n  Au8<lrucke  zurück  und  legte 
selbst  die  Hand  an  d(»n  Kolben  8(»iner  Waffe,  dass  ich  ganz  erstaunt  war 
und  zuerst  gar  nicht  wusste,  womit  ich  seinen  Unwillen  erregt  hatte.  Der 
Schweizer,  der  schon  ein  halbes  Jahr  in  Tanger  leb'te,  klärte  mich  dann 
darüber  auf. 

Die  Kuafa  z(»icliiien  sich  durdi  besondere  Tracht  und  Bew^affnung 
aus,  welche  von  der  d(»r  bt^iden  Jinderen  trrui>]>en  verschieden  ist,  dagegen 
<ler  Tracht  der  Djc^bela  sehr  nahe  st(»ht.  Aus  diesem  (irunde  ver- 
wechseln Fremde,  welche  nur  wenige  Tage  oder  Wochen  in  Tanger  bleiben 
und  keinen  scharfen  Blick  für  dergleichen  Unter8chi(»dc»  haben,  diese  beiden 
Kat(*gorien  stets.  D(»r  Djibeli  trägt  b(»ispi(»lsweise  mit  Vorliebe  das 
rothtuchene,  oft  mit  einer  (ioldborde  besetzte  FutttTal  seiner  langen  Stein- 
schlossflinte turbanartig  um  den  Koj)f  gewunden,  während  der  achtem  Rif- 
Berb(»r  stets  barhäuptig  geht  und  nur  bei  ungünstiger  W^itterung  die 
Kapuze  seiner  Djelläba^)  über  den  Kopf  schlägt.  Dieses  Kleidungsstück, 
ein  weiter,  sackartiger  Ueberziedier  mit  weiten,  kurzidn  Aermeln  und  nie 
fehlend(jr  Kapuze»,  ist  tyj>ise'h  für  elas  nemlatlantische  Marokko.  Es  variirt 
im  Se'hnitt  nie»,  wohl  aber  in  ele»r  Art  und  ele»r  Färbung  <le»s  Stoffes,  je»  nach 
eli»r  Localität  und  eleu  Mitte»ln  se»in<»s  Be»sitze»rs.  Der  fe»ine  Stäelte»r  z.  B. 
trägt  eine  Djelläba  von  the»ure'm,  aus  Kure)pa  importirte'ui,  dunke»lblaueni 
Tuche,  währe»nel  de»r  Rifi  und  eler  Djibeli  meist  einfarbig  braune  oder  graue, 
schwarz  o<le»r  braun  ge»streifte  Dje»llaben.  se»hr  stark  un<l  daue^rhaft  aus 
Wolle»  ge»webt,  tragen.  Be'ide»  lie»])e»n  e's,  mit  bunten  Stickereien  in  Tueh, 
oft  aue'h  in  Se»iele»,  ihre»  Dje»lläben  zu  verzieren. 

Der  Rifi  trägt  ste»ts  <»ine»n  kh'ine'U  gefloehtene»n  Zopf  an  der  rechten 
Se»ite  des  Hinte»rkopfe»s,  währenel  de»r  Djibeli  elies  nur  in  jünge»re»n  tJahren 
thut  unel  späte»r,  ele»r  allgemeinen  muse»hnanise'he»n  Sitte»  folgend,  sie'h  eleu 
Kopf  ganz  rasirt. 

Aue'h  be»i  de»m  se)ge»nannte'n  Pulverspit»l.  lab  e»l-baruel,  habe»n  elie  Rif- 
Berber  ande»re  (ie'wohidi«»iteMi,  als  elie»  arabise-h  reele»nde»n  Dje'be*»la.  In  Tanger 
kann  man  dieseMi  Brnuch,  ele»r  be»i  lIoe*hze»ite»n,  Be»schneielunge'n,  re»ligie»se»n 
Fe»8ten    geübt    wird,    fast    täglich    be»obachten.     Me»i8t    kommen   die  Leute» 

1)  In  manchen  Gt»jrt*nd<*n  hört  man  aurh  elie  Bezoichnunj?  «Djollabia"  für  <lioscs 
Kleidim^sstfirk.  —  Horcit.s  I.Ee)  Afkicanus  Ca.  a.  O.  S.  318)  thut  dessolhon  in  soincr 
li«»schn'il»unj;  «1*t  Lan<lschaft  -Krrif'*  mit  den  Worten  Krwahnunjr:  -Die  Kinwuhner  trajren 
alle  Wollt^nsacktnch,  w^dclies  von  der  Art  der  Bettdecken,  eli«»  man  in  Italien  sifht,  ist 
nnel  schwarz**  und  weisse  Streifen  hat.  Sic  haben  Kapuzen  daran.  di<*  sie  üIht  «leu  Kopf 
xiehin,  so  das^  man  sie  heim  ersten  Anldick  eher  für  Thiere.  wie  für  Men>rhen  halte»n  muss." 


1 20  M.  QUEDENFELDT  : 

bei  solchen  Gelogeiilieiten  aus  ilireii  Bergdörforn  nach  der  Stadt,  die  Mehr- 
zahl natürlicli  aus  dem  umliegenden  Distrikte  von  Andjera,  aber  auch  von 
weiter  her.  Man  versammelt  sich  an  einer  bestimmten  Stelle,  gewöhnlich 
auf  dem  grossen  Ssok  (Marktplatze)  vor  dem  oberen  Stadtthore.  Jeder 
Mann  hat  sein  langes  Gewehr  bei  sich,  welches  mit  einer  so  starken  Pulver- 
ladung ge8])eist  wird,  dass  man  bei  dem  jedesmaligen  Abfeuern  glaubt, 
einen  BöUerschuss  zu  hören,  und  in  Begleitung  einiger  Musikanten  wird 
in  die  Studt  gezogen,  in  einer  Formation,  für  die  wir  den  sehr  bezeich- 
nenden vulgären  Ausdruck  „Ormseniarsch"  haben.  Die  Musik  bildet  den 
Schluss;  sie  besteht  unweigerlich  —  in  allen  solchen  Bräuchen  sind  die 
Marokkaner  in  hohem  Grade  conservativ  —  aus  zwei  Instrumenten:  einer 
„geita"  genannten  Ciarinette,  welcher  mit  aufgeblasenen  Backen  die  lau- 
testen, quiekendsten  und  näselndsten  Töne  entlockt  werden,  und  einer  grossen, 
schmucklosen  Tronmiel  oder  eigentlich  Pauke,  „tebel**  (tbiil),  deren  obere 
Seite  mit  der  rechten  Hand  mittelst  eines  hölzernen  Paukenschlägels  bear- 
beitet wird,  während  die  linke  Hand,  mit  einem  dünnen  Stäbchen  bewaffnet, 
die  Unterseite  schlägt.  In  bestimmten  Reprisen  wird  nun  Halt  gemacht,  ein 
Kreis  formirt  und  es  werden  möglichst  gleichzeitig  die  Gewehre,  nachdem  sie 
vorher  V(»r8chiedeutlich  balancirt  worden  sind,  nach  dem  Boden  zu  ab- 
gefeuert. So  geschieht  es  bei  den  Djebela;  die  Buäfa  hingegen  stellen  sich 
nicht  im  Kreise,  sondern  in  zwei  Reihen,  etwa  wie  wir  beim  Contrc- 
tanz,  einander  gegenüber  auf,  „chassiren"  dann  einige  Mal  durch- 
einander, wobei  sie  ein  eigenthümlich  gellendes,  trillerndes  Geschrei  aus- 
stossen,  ähnlich  den  bekannten  Lauten  der  mohamm(>danischen  Frauen  bei 
Freud(Mi-  oder  Trauerbezeugungen,  und  feuern  ihre  Gewehre  ab.  Bei 
diesem  Durcheinanderchassiren  halten  sie  ihre  (Jewehre  in  einer  ähnlichen 
Position,  wie  unsere  Soldaten  beim  Bajonetfechten. 

Die  Bewaffnung  der  Rif-Berber  besteht,  ausser  der  bekannten  langen 
Steinschlossflinte  von  arabischer  Form,  mit  breitem  Kolben,  wie  sie  viel- 
fach in  Tetuan  gef(»rtigt  werden  (Fig.  1),  noch  aus  sogenannten  Reiter- 
pistolen, gleichfalls  mit  Feuersteinschlössern.  Ausser  diesen  beiden,  nicht 
im  Rif  allein  gebräuchlichen  Schusswaffen  haben  die  Ruäfa  noch  ein 
langes  DolchuK^aser  mit  gera<ler,  sehr  dünner  und  spitzer  Klinge  und 
ein(»m  eigenthümlich  g(»formt(^n  Griffe»  in  Gebrauch.  Diese  Waft'e,  welche 
eine  Lange  von  2 — 2.J  Fuss  hat,  ist  dem  Rif  ausschliesslich  eigen  und  sie 
wird  nuch  von  den  Arabern  „ssebüla  rif  ia",  „Rif- Dolch **,  genannt  (Fig.  '2). 

Ein  sehr  sond(Tbar(»s,  dudelaackartig(»s  Musikinstrument,  „sammer** 
(sammara,  Flöte),  zwei  Hörner  durch  eine  Tliierhaut  verbunden,  ist  gleich- 
falls dem  Rif  eigenthümlich  (Fig.  3). 

Die  Rif-Berb(T  sind  in  ihrer  Heimath  nicht  ohne  eine  gt^wisse  rohe 
Industrie,  wcdche  zwar  d(»r  bei  den  Schlöli  bestechenden,  hoch  entwickelten, 
nicht  entfernt  nah(»  kommt,  andererseits  aber  die  der  „Breber"  übertrifft. 
Sie  beschränkt  sich  vornehmlich  auf  die  Fertiginig  von  groben  Wollstoffen 


Eintheflang  und  Verbreitiuig  der  Berberbevölkenmg  in  Marokko. 


121 


zu    ihrer    Bekloidunj^   und    des    einfachBten  Ackerbau-  und  Hausgeräthes. 

Im  (lart    fertigt   man    vortreffliche  Mühlsteine.     Die  berühmten  Teppiche, 

«leren  Herstellung  man  gewöhnlich  den  Beni  Snassen  zuschreibt,  kommen 

nicht  von  diesi^n,  sondern  von  den  Beni  Bu-Segu.    Die  in  Tanger  lebenden 

Kit-Leute  gelten  als  geschickte  Maurer.   Die  Rif-Berber  sind  keine  Nomaden, 

sondern    sie    sind    sesshaft    und    leben  demgemäss,    mit  Ausnahme  einiger 

weniger  Kabilen    im  ilussersten  Osten  des  Gebietes,    auch  nicht  in  Zelten, 

sondern  in  zu  kh^inen  Dörfern  vereinten  Stein- 

und  Holzhäusern.     Fischfang  wird  von  ihnen 

an     der    Küste    viel    getrieben,     desgleichen 

Bienenzucht    in  den  niederen  Gebirgen.     Als 

Straiulräuber    waren    die    Ruäfa    früher    sehr 

berüchtigt    und  sie  w^ürden  auch  heute  noch 

kein    Bedenken    tragen,    ein    Schiff   und    die 

Mannschaft  desselben  auszuplündern,   welches 

«las  Unglück  haben  sollte,  an  ihrer  Küste  zu 

s<'heitern.    Aggressive  Piraten  in  dem  Maasse, 

wie    etwa  die  von  Rabat  und  Sselä,    sind  sie 


nie  gewesen. 


Thatsache  ist,  dass  die  Rif-Berber  vielfach, 
—  entgegen  der  gerade  in  Marokko  sonst  so 
sehr  streng  beobachteten  mohammedanischen 
Satzung,  —  das  Fleisch  vom  wilden  Schwein 
«»äsen.  Nach  LEO  AFRICANUS^)  sollen  sie  (im 
16.  Jahrhundert)  auch  dem  Weingenusse  in 
stark(»m  Maasse  gefröhnt  haben.  Dass  aber, 
wie»  einzelne  Reisende 
behaupten,  verschiedene 
Tribus  der  Ruäfa  die  Be- 
8chnei<lung  nicht  übten, 
ist  mir  im  Lande  selbst 
von  allen  Seiten  bestritten 
worden,  sogar  von  Ara- 
bern, die  sonst  jede  Ge- 
legenheit benutzen,  um 
denselben   üebles  nachzusagen. 


Fig.  2. 


1)  A.a.O.  S.  i^.  «Die  Bewohner  (des  Rif)  sind  auch  tapfere  Leute;  allein  dem 
Tninkf  iinjr'^mpin  pr^reben  und  schlocht  gekleidet.  Man  findet  ausser  Ziegen  und  Eseln 
wr*ni^'»* 'l'lii**rc:  dnrh  .Affen  sind  in  grosser  Menge  vorhanden.  Städte  giebt  es  nur  wenige; 
die  ('astrlb*  und  DörtVr  bestehen  aus  elenden  Häusern  von  einem  Stockwerke,  gleich  den 
Stulb*n  in  Kuropa.  Die  Dächer  sind  mit  Stroh  und  schlechten  Baumrinden  gedeckt  u.  s.  w." 
Auch  weitorhiu  spricht  Leo  bei  der  Beschreibung  verschiedener  ^Berge"  der  ^Landschaft 
Errif*  —  er  versteht  unter  „Berg"  immer  das  von  einem  Stamme  bewohnt«  Gebiet  — 
stets  von  dem  Weinbau,  der  damals  im  Rlf  getrieben  wurde. 

Z«it*clirift  für  Bthnologi«.    Jahrg.  1888.  9 


1 22  M.  QUEDENPELDT : 

Nach  Mittheilungen,  die  TiSSOT  und  DUVEYKIER  gemacht  wurden, 
deren  Richtigkeit  aber  sehr  zu  bezweifeln  ist,  sollen  sich  in  den 
abgeschlossenen  Thälern  des  Rif  noch  einzelne  Koran -Exemplare,  in  alten 
berberischen  Lettern  ^ )  geschrieben,  vorfinden.  Mir  selbst  wurde  von  glaub- 
würdigen Schlöh  erzählt,  dass  im  Ssüss  einzelne  Exemplare  des  Koran  in 
Schilha  (Sprache  der  Schlöh)  übersetzt,  aber  mit  arabischen  Buchstaben 
geschrieben,  vorhanden  seien.    Es  wäre  das  gleichfalls  eine  grosse  Seltenheit. 

Der  Hauptgebirgsstock  im  Süden  des  Gebietes  führt  von  dem  histo- 
rischen Berberstamme  Ssenhadja  seinen  Namen  und  gliedert  sich  in  zwei, 
Ssenhadja-SsoAir  und  Ssenhadja -Rdradu  genannte  Ketten. 

Die  sonst  charakteristische  berberische  Stammbezeichnung  „Ait"  -) 
scheint  bei  den  Ruäfa  eigenthümlicher  Weise  gar  nicht  oder  nur  sehr  spo- 
radisch vorzukommen,  vielmehr  überall  durch  die  arabischen  Worte  von 
gleicher  Bedeutung,  „Beni"  oder  „Uled",  ersetzt  zu  werden. 

GREY  Jackson«)  schätzt  die  Bevölkerung  des  Rif,  ganz  willkürlich, 
auf  200  000  Köpfe. 

U.  Mittlere  Gruppe.    Brßber. 

Die  Stämme,  welche  diese  Gruppe  bilden,  bewohnen  das  Centrum  von 
Marokko,  d.  h.,  allgemein  gesagt,  das  Gebiet,  welches  sich  südlich  der  Städte 
Miknäss  (Miknässa)  und  Fäss  bis  an  die  östliche  Hälfte  des  grossen  Atlas 
und  über  diesen  hinaus  bis  zur  Oase  Tafilelt  und  zum  oberen  Draaflusse 
erstreckt,  und  so,  im  Südosten  und  Süden,  in  das  Gebiet  der  stark  mit 
nigritischen  Elementen  durchsetzten  berberischen  oder  arabischen  Bevölke- 
rung übergeht.  Im  Nordwesten  gehen  einige  Breber-Kabilen,  die  Geruän 
und  Semür-Schilh*),  weit  über  Miknäss  hinaus;  sie  occupiren  das  Gebiet 
fast  auf  die  halbe  Entfernung  zwischen  dieser  Stadt  und  den  Küstenplätzen 
Rabat  und  Sselä. 

Im  Norden  wird  das  Gebiet,  und  zwar  in  der  Reihenfolge  von  Westen 
nach  Osten,  durch  die  arabisch  redenden  Kabilen  der  LHed  Aissa  (  Issa), 
Schraga  und  üled  Djemma,  Uled  el-TIadj,  Hiaina  und  Gijäta  begrenzt.  Im 
Osten  dürfte  etwa  eine  Linie,  welche  man  sich  von  Tafilelt  nach  Norden  über 
Kssäbi-esch-Schürfa  nach  Tessa  gezogen  denkt,  die  Grenze  beider  Sprach- 
gebiete bilden,  indem  östlich  von  dieser  Linie  „el-arbia",  westlich  der- 
selben „el-berberia"  gesprochen  wird.  Die  üled  el-Hadj,  Uled  Chaua, 
Hauuära  u.  s.  w.  sind  die  benachbarten,  arabisch  sprechenden  Tribus.     Im 

1)  Die  einzigen  berberischen  Schriftzeichen,  die  man  gegenwärtig  kennt,  sind  die  bei 
den  Tuareg  gebräuchlichen.  Vergl.  die  Grammatiken  dieser  Sprache  von  Staniiopb- 
Freebcan,  Hanoteau  u.  8.  w. 

2)  Ait  =  Söhne,  Nachkommen.    Der  Sing.  =  U. 

3)  A.  a.  0.  S.  26. 

4)  Correct  müsste  esheissen:  Semür-Schlöh,  wenn  wir  von  der  Mehrheit  sprechen 
(Schlöh  -  Plnr.  von  Schilh);  doch  sagen  die  Araber  im  Lande  selbst  Semür-Schilh,  und 
ich  habe  daher  diese  Bezeichnung  beibehalten. 


EintheiluDg  nDd  Verbmtang  der  Berberbevölkening  in  Marokko.  123 

Südon  stosson  dio  Breb<T  mit  den  Schlöh  zusammon,  und  zwar  in 
d<»r  Richtunp;  von  Osten  nach  Westen  mit  den  „Harätin"  von  Tafilelt  und 
Perkla,  dann  mit  den  ^Draua"  von  Mesfi;ita  (Imsgitten).  Im  Südwesten, 
zwischen  Atlas  und  Anti- Atlas  und  in  diesen  Gebirgen,  bilden  die  Ait 
'Amr,  die  Ait  Tigdi-Ãœschschen,  die  Ait  Sineb  im  Distrikt  Imnii  die  Grenze. 

Im  Westen,  in  der  Richtung  von  Süden  nach  Norden,  wird  das  Breber- 
(lebiet  zunächst  nördlich  vom  Atlas  von  den  Distrikten  Denmät  und  Entifa 
begrenzt,  Distrikte  mit  Schlöh -Bevölkerung,  welche  der  Regierung 
(Machsin)  unten^'orfen  sind').  In  dem  an  Kntifa  und  den  hohen  Atlas 
grenzendtMi  Sü(lw(»sfvvinkel  des  Gebietes  wohn<m  mehrere  Stämme,  z.  B.  die 
Ait  Madjin,  di(»  Ait  b  üulli  u.  s.  w..  welche  einen  vom  ^el-berberia"  et^'as 
abweichen<len  Dial<»kt,  einen  Uebergang  zum  ^esch-schilha**,  sprechen. 

Von  hier  ab  bihlen  wieder  arabisch  redende  Stamme  die  Grenze,  zu- 
nächst die  den  westlichen  Theil  des  Distrikts  von  Tadla  (Tedla)  bewoh- 
nend<»n:  der  östliche  Theil  des  Tedla  wird  von  einigen  „el-berberia"  spre- 
chenden Stämmen  occupirt.  Die  ersteren  heissen:  Beni  Mussa,  Beni 'Amir, 
Beni  Meskin  (diese  gehören  zum  Beled  el- Machsin  und  wohnen  am  wei- 
t<»sten  westlich),  Urdira,  Beni  Semür,  Beni  Chiran,  Ssmahla  (oder  Ssmala). 
Von  Tetlla  nördlich  gr(»nzt  ein  kleiner  Theil  des  Nordostens  der  Provinz  esch- 
Schauija)  an  das  Breber-Gebiet,  hieran  schliesst  sich  das  Gebiet  der  Kabila 
Sair,  und  endlich  im  äussersten  Nordwesten  begrenzt  das  Land,  welches  die 


1)  Man  mnss  in  dpm  Territorium,  welches  wir  als  Sultanat  Marokko  bezeichnen,  das 
sogenannte  „Beled  el- Machsin**  und  das  „Beled  ess-Ssiba"  unterscheiden.  Das  erstere  ist 
von  Steuern  zahlenden,  der  Regierung  völlig  unterworfenen  Stämmen  bewohnt;  das  «Beled- 
ess-Ssiha"  bewohnen  unabhängige  oder  nur  nominell  unterworfene  Stämme. 

2)  Diese  grosse,  vorzugsweise  ebene  und  sehr  fruchtbare  Provinz  ist  von  (meist  noma- 
disirenden^  Araberstämmen  bewohnt.  Es  sind  mir  16  derselben  bekannt,  welche  wiederum 
in  zahlreiche  Unterabtheilungen  zerfallen.  Die  Zusammensetzung  ist  folgende:  üled  Bu- 
Siri.  Ulrd  Ssaid,  Mssamssa,  Uled  Ssidi  Ben  Daud,  Uled  Mhammed  (lled  Sireg,  Uled  Chaib, 
el-rh»'lot.  Uled  *Amäma),  Chesassra  (Uled  Bu-Bekr.  IHed  el- Assri,  Brassiin,  U16d  Menissf), 
el  Aulad,  Uled  Bu-*Arif,  Beni  Iman,  Msäb  (Hamdaua,  Beni  Sketen,  el  Alf,  Beni  Brahim, 
Menia.  Djemu'a,  Uled  Ferss,  Uled  Ssendjedj),  Uled  Harris,  Medakra,  Uled  Sian,  Mediüna, 
Sialda  (Sia!da-rg-öaba  und  Sia!da-el-Lota).  Snata.  Der  Distrikt  von  Schauija  war  früher 
unter  dem  Namen  «Temssna"  oder  ^Temessna"  bekannt.  Auf  der  vor  etwa  30  Jahren 
erschienenen  englischen  Karte  von  James  Wyld  und  auf  der  von  £.  Kekou  findet  sich 
diese  Bezeichnung  noch.  Leo  Apricanus  (übersetzt  von  ]x)R.sbacii)  giebt  uns  eine  höchst 
interi'ssant«'  Schilderung  der  Schicksale  dieser  Provinz  und  ihrer  Bewohner.  Sie  wurde 
von  Jussif  Ben  Taschfin  verwüstet  und  die  Bewohner  fast  sämmtlich  getödt^t;  unter  dem 
Sultan  Jakub  el-Manssur  (f  llVf*.»)  wurde,  etwa  100  Jahre  später,  die  heutige  Provinz  esch- 
Schauija  durch  aus  Tunesien  dorthin  verpflanzte  Araberstämme  aufs  Neue  bevölkert. 
Spater  sind,  nach  Leo.  wieder  Berber,  Zeneter  und  Hauuära  eingewandert,  von  denen 
ein  Uiberbleibsel  die  noch  in  Schauija  wohnende  Kabila  «Snata*  (vergL  8.110  Note  8) 
ist.  Ihu'h  ist  nur  der  Name  ein  altberberischer :  die  Sprache  ist,  wie  die  aller  gegen- 
wärtig in  esch - S<hauija  lebender  Stämme,  arabisch.  Diese  Wiedereinwanderung  ber- 
berischtT  Kb'mcnt»'.  die  nur  in  ganz  geringem  Maasse  stattgefunden  haben  kann 
(denn  Leo  spricht  auch  nach  dieser  Periode  immer  nur  von  den  „Arabern  in  Temessna")^ 
»teht  also  zu  der  von  mir  auf  S.  105  gemachten  Mittheilung  über  die  Abstammung  der 
Nomadenbevölkerung  der  westmarokkanischen  £benen  in  keinem  Widersprach. 


124  M.  Quedemfeldt: 

Beni  Hassin  bewohnen,  das  Gebiet  der  Breber.  —  Das  Centrum  von  Marokko 
ist,  mit  alleiniger  Ausnahme  seines  südöstlichen  Theiles,  durchgehends 
Gebirgsland,  meist  sehr  hoch  und  rauh.  Es  umfasst  einen  der  höchsten 
Bergcomplexe  der  Atlaskette,  den  Djebel  Aiaschi,  und  alle  grossen  Ströme 
des  Sultanats  haben  in  ihm  ihren  Ursprung. 

Dieses  grosse,  an  Unzugänglichkeit  dem  Rif  kaum  nachstehende  Gebiet 
ist  gleichwohl  von  einigen  Reisenden  durchkreuzt  und  auch,  so  gut  dies 
bei  einer  derartig  schwierigen  und  gefahrvollen  Reise  angeht,  erforscht 
worden.  Abgesehen  von  RENfi  CAILLEß,  dessen  Beschreibungen  von  diesem 
Theile  seiner  Reise  sehr  lückenhaft  und  dürftig  erscheinen^),  ist  hierbei 
in  erster  Linie  unser  berühmter  Landsmann  GERHARD  ROHLPS,  der  Alt- 
meister der  deutschen  Marokko-Erforschung,  zu  nennen.  Seine  im  Jahre  1864 
ausgeführte  Durchquerung  des  Breber-Gebietes  (von  NNW.  nach  SSO.)  wird, 
verbunden  mit  den  weiteren  Erfolgen  dieser  Reise,  für  alle  Zeiten  eine 
der  grossartigsten  Leistungen  auf  dem  Gebiete  der  Explorationsreisen 
bleiben  2).  Es  bedarf  kaimi  der  Erwähnung,  dass  dergleichen  Touren  nur  in 
der  Verkleidung  als  Muslem  oder  als  einheimischer  Jude  ausführbar  sind. 
Während  alle  bisherigen  Reisenden  die  erstere  Form  gewählt  hatten,  ist 
in  neuester  Zeit  der  in  dieser  Arbeit  bereits  mehrfach  erwähnte  Vicomte 
Charles  de  FOÃœCAÃœLD  im  Beied  ess-Ssiba  als  marokkanischer  Jude 
verkleidet  gereist  und  zwar  mit  überraschendem  Erfolge.  Die  Leistungen 
dieses  französischen  Officiers  können  von  jedem  Kenner  marokkanischer 
Verhältnisse  gar  nicht  hoch  genug  anerkannt  und  bewundert  werden. 
FOUCAÃœLD  hat,  was  wissenschaftliche  Resultate  anbelangt,  alle 
seine  Vorgänger  bei  weitem  übertroffen.  Er  hat  im  Laufe  von 
11  Monaten  nicht  nur  fast  3000  km  in  nahezu  gänzlich  unbekannten 
Landestheilen  zurückgelegt,  bei  jedem  Schritte  von  Gefahren  umgeben, 
sondern  er  hat  dabei  astronomische  und  meteorologische  Beobachtungen, 
Höhenbestimmungen,  Pläne  und  Croquis  der  durchwanderten  Gegenden 
gemacht  —  und  Alles  in  einer  so  enormen  Anzahl  (Höhenbestimmungen 
z.  B.  einige  Tausend),  mit  einer  solchen  Correctheit  und  Vorzüglichkeit  in 
der  Ausführung,  dass  es  kaum  fassbar  erscheint,  wie  Herr  DE  FOUCAULD 
unter  den  obwaltenden  Verhältnissen  dies  hat  möglich  machen  können. 
Selbstverständlich  sind  hier,  wie  überall,  einzelne  Irrthümer  nicht  aus- 
geschlossen, weiche  sich  bei  FOUCAÃœLC,  diesem  geographischen  Reisenden 
par  excellence,    wo    sie    sich    finden,    meist  auf  ethnologische  Verhältnisse 


1)  Journal  d'un  voyage  k  Temboctou  et  ä  Jenii6  etc.,  Paris  1830,  Bd.  III.  —  Cailliä 
passirte  im  Somiper  1828  auf  der  Rückkehr  von  seinen  mehrjährigen  Reisen  im  westlichen 
Ssudan  Marokko  in  einer  so  traurigen  Verfassung,  krank,  ermattet,  von  allen  Mitteln  ent- 
blösst,  dass  hierin  eine  sehr  triftige  Erklärung  für  die  Lücken  und  Mängel  in  seiner 
Beschreibung  liegt. 

2)  Reise  durch  Marokko,  Uebersteigung  des  grossen  Atlas,  Exploration  der  Oasen 
Ton  Tafilet,  Tnat  und  Tidikelt  und  Reise  durch  die  grosse  Wüste  über  Rhadames  nach 
Tripolis  von  Gbrbabd  Rom:<F8,  Bremen  18G8. 


Eintheilang  and  Verbreihuig  der  Berberbeyölkening  in  Marokko.  125 

beziohen.  Bezüglich  der  Details,  auf  welche  ich  hier  nicht  näher  eingehen 
kann,  sei  auf  das  Studium  des  prilchtig  ausgestatteten  Werkes  selbst  ver- 
wiesen, dessen  Titel  ich  auf  Seite  105  angegeben  habe.  H.  DUVEYRIEE, 
der  berühmte  Kenner  der  Tuareg,  konnte  in  der  Generalversammlung  der 
Pariser  (Tr(»ogra])hi8chen  Gesellschaft  vom  24.  April  1885  mit  Recht  sagen, 
dass  unserer  geographischen  Kenntniss  von  Marokko  durch  die  Forschungen 
FoUOAULD's  eine  vollständig  neue  Aera  eröflPnet  sei. 

DE  FOIK^AULD  machte  seine  Reise.  —  und  das  hat  wohl  wesentlich 
mit  zu  deren  glücklicher  Durchführung  beigetragen,  —  in  der  Gesellschaft 
des  Rabbiners  MARDOCHAI  ABI  SSERtlR  (Ssejjir)  aus  Akka,  bekannt  in 
wissenschaftlichen  Kreisen  durch  seine,  im  Auftrage  der  Pariser  Geogra- 
phischen Gesellschaft  unternommenen  Reisen  im  westlichen  Saharagebiete. 
Der  franzosische  Reisende  war  in  der  Verkleidung  als  eingeborener  Jude 
in  mancher  Beziehung  viel  sicherer  und  weniger  der  Gefahr  des  Erkannt- 
werdens ausgesetzt,  als  er  es  in  der  als  Muslem  gewesen  wäre.  Und  selbst 
im  Falle  einer  Entdeckung  würde  der  Zorn  der  Muslemin  nicht  so  gross 
gewesen  sein,  als  wenn  er  in  der  Maske  als  ihresgleichen  ihre  heiligen 
Orte  betreten  hätte,  obgleich  im  Grossen  und  Ganzen  der  Hass  der 
Mohammedaner  in  Marokko  stets  mehr  dem  Fremden  als  dem  Christen 
gilt.  Femer  hatte  DE  FOUCAULD  in  der  Abgeschlossenheit  der  Judenviertel 
viel  mehr  Gelegenheit,  unbeobachtet  zu  arbeiten,  mit  seinen  Instrumenten 
zu  operiren,  als  es  ihm  in  der  steten  Gesellschaft  von  Mohammedanern 
möglich  gewesen  wäre. 

Alle  diese  Vortheile  hatte  der  Reisende  vorher  wohl  erwogen,  und 
der  Erfolg  hat  gezeigt,  w(>lchen  guten  Griff  er  in  der  Wahl  seiner  Ver- 
kleidung gethan.  Andererseits  gehört  jedenfalls  ein  nicht  geringer  Gh-ad 
von  S<^lbstverleugnung  und  Selbstbeherrschung  dazu,  bei  den  zahlreichen 
Verhöhnungen  und  Beschimpfungen,  denen  die  Juden  in  diesen  Ländern 
täglit'h  ausgesetzt  sind,  seiner  Rolle  treu  zu  bleiben,  —  eine  harte  Probe, 
welcher    sich    der  junge  Officier  gleichfalls  vollauf  gewachsen  gezeigt  hat. 

Das  zu  Anfang  dieses  Jahres  erfolgte  Erscheinen  des  FoUGAULD'schen 
Werkes  * )  ist  mir  bei  der  vorliegenden  Arbeit  von  grossem  Nutzen  gewesen. 
I<*h  war  dadurch  in  den  Stand  gesetzt  vieles  bisher  nirgends  Publicirte 
und  auch  mir  selbst  Neue  in  die  hier  versuchte  Monographie  der  marok- 
kanisclion  Berber  mit  aufzunehmen.  Ferner  konnte  ich  manche  meiner 
schriftlich(»n  Notizen,  welche  ich  im  Lande  selbst  von  Eingeborenen  gesam- 
melt hatte,  nach  den  FOUCAULD 'sehen ,  an  Ort  und  Stelle  gemachten 
Beobachtungen  berichtigen  oder  ergänzen.  Hieraus  erklären  sich  auch 
manch**  kleine  Abweichungen  in  der  Angabe  des  Textes  von  denen  der 
Karte;  diese  letztere  war  bereits  fertig  gestellt,  als  mir  das  Werk  FüUCAÜLD's 

1)    In  dem  hier  mehrfach  citirten  RsCLüS^schen  Werke  (1886)  waren  bereits  ans  dem 
Manu  Script  Ton  FouCAULD  verschiedene,  besonders  interessante  Mittheilungen  publicirt. 


126  M.  QüEDEKFEtjyr: 

knrz  nach  seinem  Erscheinen  zu  Händen  kam.  Es  sind  daher  stets  die  Mit- 
theilungen des  Textes  maassgebend.  Bei  dieser  Gelegenheit  möchte  ich 
betonen,  dass  die  beigegebene  Karte  nur  eine  ganz  allgemeine  Anschau- 
ung von  der  Verbreitung  der  berberischen  Bevölkerung  in  Marokko  und 
von  den  Gebietsthoilen,  welche  jede  der  einzelnen  Gruppen  bewohnt,  geben 
soll.  Eine  absolute  Genauigkeit  in  den  ethnologischen  Details,  —  beispiels- 
weise ganz  zutreffende  Angaben  über  die  Lage  und  Grenzen  der  Terri- 
torien einzelner  Stamme,  —  kann  aus  mehrfachen  Gründen  nicht  gegeben 
und  nicht  erwartet  werden.  Abgesehen  von  dem  Hauptgrunde:  unserer 
zur  Zeit  noch  nicht  erschöpfenden  Kenntniss  derselben,  besonders  deshalb 
nicht,  weil  bei  der  hier  in  Rede  stehenden  Bevölkerung  vielfach  Gebiets- 
verschiebungen vorkommen.  Fast  unausgesetzt  giebt  es  Fehden  benach- 
barter Stämme;  viele  derselben  sind  Nomaden  und  suchen  ihre  Nachbarn 
aus  ergiebigen  Weidegründen  zu  verdrängen.  So  hatten,  nach  ROHLFS*), 
die  Beni  Mtir  früher  das  Terrain  inuo,  welches  jetzt  die  Beni  Mgill 
bewohnen.  Die  Ait  Atta  haben  sich  in  ähnlicher  Weise  nach  Süden  bis 
Ertib  und  Tafilelt  hin,  ja  darüber  hinaus,  ausgebreitet  und  führen  blutige 
Kriege  mit  den  zurückgedrängten  Stämmen.  In  den  wasserarmen  Gegenden 
sind  meist  Streitigkeiten  um  dieses  belebende  Element  die  Ursache  end- 
loser Kämpfe.  — 

Andererseits  hat  mir  das  Erscheinen  des  FoUCAULD'schen  Werkes  im 
gegenwärtigen  Momente  die  Priorität  mancher  Mittheilungen  genommen, 
die  Resultate  zuverlässiger  Informationen  und  Beobachtungen,  die  sich  von 
meinen  verschiedenen  Reisen  her  in  meinen  Aufzeichnungen  finden  und 
welche  ich,  als  bisher  noch  nirgends  veröffentlicht,  in  der  vorliegenden 
Arbeit  zu  verwerthen  gedachte.  In  verschiedenen  Fällen,  wo  meine  eigenen 
Informationen  mit  denen  DE  FOUCAÃœLD's  in  Widerspruch  stehen,  habe  ich 
die  ersteren  beibehalten,  wenn  ich  der  Ueberzeugung  war,  dass  jeder  Irr- 
thum  ausgeschlossen  erschien,  selbst  da,  wo  es  sich  um  Gegenden  handelt, 
die  FOUCAÜLD  selbst  besucht  hat.  Es  bezieht  sich  dies  selbstverständlich 
nur  auf  Mittheilungen  ethnologischen  Inhalts.  Einige  Bedenken  habe 
ich  bezüglich  der  Zahlenangaben  FOUC'AULD's  über  die  Bevölkerung  der 
Dörfer  (Kssor's)  verschiedener  von  ihm  bereister  Distrikte,  über  die  jüdische 
Bevölkerung  mancher  Ortschaften  u.  s.  w.  Wenn  man  weiss,  wie  unend- 
lich schwierig  es  ist,  in  einem  Lande  wie  Marokko  einigermaassen  zu- 
verlässige Zahlenangaben  zu  erhalten,  —  und  dies  im  Boled  el-Machsin,  — 
so  kann  man  sich  gewisser  Zweifel  an  der  Richtigkeit  der  von  FOUCAULD 
mit  anscheinend  so  grosser  Genauigkeit  gegebenen  Zahlen  aus  den  der 
Regierung  nicht  unterworfenen  Landestheilen  schwer  erwehren.  Eine 
Statistik,  gleich  viel  nach  welcher  Richtung,  ist  in  Marokko  absolut  unbekannt. 

Ausser  CAILLlfi,  ROHLFS  und  FOUCAULD  hat  sich  in  den  Jahren 
1880—1882    ein  Deutscher,   Namens  JACOB  SCHAÜDT,    in   dem    uns    hier 

1)  A.  a.  0.  8.  31. 


EinthciloDg  nnd  Verbreitung  der  Berberbevolkt'ning  in  Marokko.  127 

interessiriMuIen  Brober-Gobiete  aufgehalten.  SCHAUDT,  wenn  ich  nicht 
irre,  Badenner,  ein  früherer  Telegraphenbeamter,  war  aus  Furcht  vor  der 
Strafe  filr  eine  von  ihm  an  einem  Unterofficier  begangene  thatliehe  Belei- 
digung aus  deutschem  Militärdienste  desertirt.  Er  war  nach  Marokko 
gekommen,  hatte  scheinbar  den  Islam  angenommen,  und  nach  verschie- 
denen Irrfahrten  in  anderen  Theilen  des  Sultanats  hat  er  wahrend  der 
genannten  Zeit  vorwiegend  die  östlichen  Partien  des  Breber- Gebietes 
durchwandert,  seinen  Lebensunterhalt  «lurch  djis  Anfertigten  und  Verkaufen 
von  zinnernen  Fingerringen  und  Armspangen  sich  erwerbend.  Um  später 
leichter  reisen  zu  können,  war  SCHAUDT  für  einen  Monat  ins  Kloster  der 
Derkaua  in  (Jaus  in  Mettiara  otler  Medajira,  einc^m  Distrikte  am  Uäd  Sis, 
gegang(Mi.  Hi<»r  lebt  der  eiuHussreiche  Schech  <ler  Derkaua,  Ssidi  Moham- 
med el-'Arbi,  (dn  hochbetagter  Greis,  der  unter  die  fünf  mächtigsten  reli- 
giösen Häupter  des  Landes  zu  zählen  ist*).  Durch  den  Aufenthalt  in  der 
Sauia  der  Derkaua  (»rwarb  SCHAUDT  das  Recht,  den  grünen  Turban  zu 
tragen.  dc»r  in  Marokko  nicht  (»in  Attribut  der  Schürfa  oder  Nachkommen 
des  Propheten,  sondern  ausschliesslich  der  Derkaua  ist. 

In  Kssabi-esch- Schürfa  hatte  SCHAUDT,  ein  nicht  ungebildeter  Mensch 
uml  aUcm  Anscheine  nach  ein  scharfer  Beobachter,  das  Unghick,  bei  einem 
Ueberfalh»  des  Ortes  durch  die  Ait  Scherroschen  seine  geringe  Habe  nebst 
tien  Notizen,  welche  er  sich  im  V<»rlaufe  seiner  Kreuz-  und  Querzüge  über 
Land  und  Leute  gemacht  hatte,  zu  V€»rlieren.  Er  hat  aber  dennoch,  nach 
Tanger  zurückgekehrt,  aus  dem  Gedächtnisse  eine  nicht  uninteressante 
kurze  Schilderung  seiner  Erlebnisse  niedergeschrieben,  welche,  durch  Ver- 
mittelung  eines  «leutschen  Kaufmanns,  Herrn  EDUARD  HÄS8NEK.  und 
unseres  «lamaligen  Ministerr(»sid(»nten  in  Tanger.  Herrn  Th.  WebER,  in 
der  Zeitschrift  der  (Jesellschaft  für  Erdkunde  zu  Berlin  veröffentlicht  worden 
ist-).     Durch    Geldspenden    des    genannten  Herrn  HÄSSNER    und    des    zu 

1)  Dio  vier  anderen  sind:  1.  Der  Scrherif  von  Uasan  oder  Dar-demana,  aus  der  Des- 
zendenz von  Mulai  Kdriss  (die  Sc-hurfa  von  Uasan  sind  alle  Schürfa  Drissiin).  Das  ge^en- 
wärtijre  Haupt  der  Familie  ist  der  bekannte  Mulai  *Abd-ess-Ssalani.  2.  Der  Scherif  von 
Tanie;,'rut  'l'ud  Draa),  Descendenz  von  Ssidi  Mohammed  Ben  Nasser.  Der  jifegenwärtige 
erste  liepräsentant  der  Familie  heisst  Ssidi  Mohannned-u-Bu-Bekr.  3.  Der  Scherif  von 
Bu-»d-Djad  'sprich  Bejad),  Tadla,  aus  der  Familie  der  Scherkaua  .Descendenz  vom 
Khalifen  'Omar  Ben  el  (liattab).  Das  jü:egenwarti«,'e  Haupt  der  Familie  ist  der  hoch- 
bi'tairfe  S>idi  B«n  Daud  Ben  Ssidi  el-'Arld.  4.  Der  Scherif  von  Ta^semalt.  Nachkomme 
des  Merabid  Ssidi  Hammed- u-Miissa.  Getrenwärtiffes  Haupt  der  Familie  ist  einer  der 
Sölme  des  IS-^O  v»T>torbenen  Ssidi  Hussein  Ben  Hasch<'m,  Hadj  Taher.  —  Der  erwähnte 
Ssidi  Mohammed  el-'Arld  Derkaui  ist  Scherif  aus  der  Famili«*  der  'Alauin  oder  *Alauia 
Descendenz  vi>n  Mulai  'Ali  aus  .Janbo  in  Arabien,  ju:e>torben  in  Tafilelt),  der  u.  a.  auch 
die  jetzt  in  Marokko  reperende  Dynastie  anjrehört. 

2  Band  IK  1>.^3.  4  —  (i.  Heft.  —  Trotz  der  vieb»n  Män^'el  der  Arbeit,  unter  denen 
am  auirenfälli^rsten  eine  die  einheimischen  Bezeichnun«:en  bis  zur  Unkenntlichkeit  ent- 
stellende Sclireibweise  ist,  hatte  die  damali{;e  Redaction  der  Zeits<:hrift  dennoch  in  An- 
betracht des  l'mstandes,  dass  jeder  Beitrag  zur  Kenntuiss  dieser  noch  so  wenig  durch- 
forschten <iellit.•t^theile  Von  Nutzen  sei,  die  Arbeit  aufgenommen. 


118  M.  QUEDBNFELDT: 

TiSSOT  war,  als  er  in  der  Nähe  des  Rif  reiste,  erstaunt,  einem  so  starken 
Procentsatze  von  Leuten  mit  vollständig  nordischen  Gesichtszügen  unter 
den  Rif-Berbern  zu  begegnen.  Hat  man  in  ihnen,  mit  PaIDHERBE,  die 
mehr  oder  minder  vermischten  Nachkommen  derer  zu  sehen,  welche  die 
megalithischen  Denkmäler  der  Gegend  errichtet  haben? 

Was  den  Charakter  der  Ruäfa  betrifft,  so  suchen  die  Araber  wahre 
Monstra  an  Schlechtigkeit  aus  ihnen  zu  machen,  während  Andere,  z.  B. 
Spanier,  welche  sie  vielfach  in  Dienst  nehmen,  sie  im  Durchschnitt  für 
ganz  treue  und  zuverlässige  TiCute  erklären.  Die  Wahrheit  mag  wohl  in 
der  Mitte  liegen.  Jedenfalls  sind  viele  ihrer  Eigenschaften,  die  wir  von 
unst^rem  Standpunkte  verdammen,  das  Resultat  von  Verhältnissen  und 
Anschauungen,  in  denen  das  Volk  seit  undenklicher  Zeit  lebt. 

Innerhalb  des  Rif- Gebietes  dürfen  wohlhabende  Araber  ebenso  wenig 
reisen,  wie  Christen,  wenn  sie  nicht  (lefahr  laufen  wollen,  ausgeplündert 
oder  ermordet  zu  werden,  und  selbst  ein  einmal  zugesicherter  Schutz 
(anaia)  soll  bei  den  Rif-Berbern  oftmals  gebrochen  werden.  Der  religiöse 
Fanatismus  8])ielt  dabei  eine  sehr  geringe  Rolle,  —  denn  die  Ruäfa  sind 
keine  eifrigen  Muslemin;  —  sondern  mehr  unbegrenzte  Raublust  und 
Abneigimg  gegen  alles  Fremde.  Die  Araber  sagen:  Traue  einem  Riß 
niemals;  bist  du  mit  ihm  auf  dem  Marsche,  so  lasse  ihn,  und  sei  er  dein 
eig(»ner  Verwandter,  stetö  vorangehen,  um  nicht  unversehens  seiner  Tücke 
'  zum  Opfer  zu  fallen. 

Die  Behan<llung  der  Juden  bei  den  Ruäfa  ist  eine  sehr  schlechte; 
es    sin<l   in  Folge  dessen  auch  sehr  wenige  <lort,    <lie  meisten  in  Taferssit. 

Die  Rif- Berber  sind,  vielleicht  in  Folge  ihrer  oftmals  bösen  eigenen 
Intention(»n,  auch  gegen  Andere  sehr  misstrauisch.  Sie  gestatten  z.  B. 
ni(*ma1s,  dass  Jemand  bei  der  Besichtigung  ihrer  stets  scharf  geladenen 
Feuerwaften  mit  dem  Finger  in  die  Nähe  des  Abzuges  fasst,  sehen  es 
überhaupt  sehr  ungern,  wenn  ein  Fremder  ihre  Waffen  in  die  Hand  nimmt. 
Der  Grund  ist  lediglich  der,  dass  sie  fürchten,  es  könne  der  Betreftende 
den  Moment  ihrer  Wehrlosigkeit  benutzen  und  die»  Waffe  gegen  sie  selbst 
gebrauchen.  Die  ewigen  Fehden  und  Kämpfe,  nicht  allein  der  verschie- 
denen Kabilen,  sondeni  oftmals  auch  der  einzelnen  Familien  untereinander, 
hab(4i  den  Lc»ut(Mi  dieses  unbesiegbare  Misstrauen  gt^gen  Alle  und  JcmIcu 
eing(Mmpft.  Von  <len  Ruäfa  in  Tanger  haben,  wie  ich  schon  erwiihnte, 
viele  aus  Furcht  vor  d(?r  Blutrache  ihre  Heimatli  verlassen,  und  sie  leben 
in  der  steten  Furcht,  dort  von  einem  Mitglicule  der  feindlichen  Partei  auf- 
gesucht und  getödtet  zu  werden. 

Als  ich  im  Jahn?  1880  zum  ersten  Male  in  Tanger  w^ar  und  diese 
Verhältnisse  noch  nicht  kannte,  hätte  ich  beinahe  Gelegenheit  gehabt,  sie 
in  sehr  wenig  angen(»hmer  Weise»  practisch  zu  (^proben.  Ich  ging  eines 
Tages  ausserhalb  fl(»r  Stadt  mit  einem  schweizer  Maler,  welcher  mit  mir 
das  gleiche  Hotel  bewohnt«»,  si)azieren.    Wir  begegneten  eiuem  Rifi.  dessen 


Kinthoiluri);  und  Verliroitun^r  der  Borborbovölkorung  in  Marokko.  1 19 

frt»nniartio;e  Krscheimin«;^,  KleiJiinji;  und  Bewaftnun*;  midi  ung(»inoin  inter- 
eHsirteii.  Wir  nJiherttMi  uns  ihm,  botiMi  ihm  Cigiirn^tten  an  und  der  Maler 
sprach  einij^(^  Worte  in  gebrochenem  Arabisch  mit  ihm.  Während  dessen 
streckte  icli  unwilikilrlich  den  Arm  aus,  wie  um  den  Kolben  einer  der 
grossen  Steinsclilosspistolen,  die  er  im  Gürtel  trug,  zu  ergreifen.  Da 
8|)rang  der  Mann  mit  einem  so  «lroh(»nden  Ausdrucke  zurück  und  legte 
selbst  <lie  Hand  an  den  KoHxmi  8ein<»r  Waffe,  dass  ich  ganz  erstaunt  war 
und  zu(»r8t  gar  nicht  wusste,  womit  ich  seinen  Unwillen  erregt  hatte.  Der 
Schweizer,  <ler  schon  ein  halbes  Jahr  in  Tanger  lebte,  klärte  mich  dann 
(larüber  auf. 

Die  Huafa  z<Mchn(Mi  sich  durch  l)t»8onden»  Tracht  und  Bewaffnung 
aus,  welche  von  der  tler  bei<len  anderen  Cfruj)i)en  verschieden  ist,  dagegen 
der  Tracht  der  Djebela  stdir  naht»  stecht.  Aus  diesem  Grun<le  v(»r- 
wechseln  Fremde,  welche  nur  wenige  Tage  oder  Wochen  in  Tanger  bleiben 
un<l  keint»n  scharfen  Blick  für  «lergleichen  Unterschiede  hab<Mi,  diese  beiden 
Kategorien  stets.  D(»r  Djibeli  trägt  b<»ispitdsweise  mit  Vorliebe  das 
rothtuchene,  oft  mit  ein<T  (foldl)orde  besetzte  Futteral  seincT  langen  Stein- 
Schlossflinte  turbanartig  um  den  Kopf  gewunden,  während  der  ächte  Kif- 
Berber  stets  barhäuptig  geht  und  nur  bei  ungünstigtjr  Witt^»nnig  di(» 
Kapuze  seiner  Djelläba*)  über  den  Ko])f  schlägt.  Dieses  Kleidungsstück, 
ein  weiter,  sackartiger  Ueberzieher  mit  weiten,  kurzein  Aermeln  und  nie 
fehlender  Kapuze,  ist  typisch  für  das  nordatlantische  Marokko.  Es  variirt 
im  Schnitt  ni(»,  wohl  aber  in  der  Art  und  der  Färbung  des  Stoftes,  j<»  nach 
der  Localität  und  i\on  Mitteln  s(»in(»8  Besitzers.  Der  feine  Städter  z.  B. 
trägt  eine  Djellal)a  von  theurem,  aus  Kuro])a  importirtem,  dunkelblauem 
Tuche,  währen<l  der  Kifi  und  der  Djibeli  meist  (»infarbig  braune  oder  graue, 
schwarz  od(»r  braun  g(»streift(»  Djelläben.  stdir  stark  und  «lauerhaft  aus 
Wolle  gewebt,  trag(»n.  Beid(»  lieben  es,  mit  bunt<'n  Stickerei(Mi  in  Tuch, 
oft  auch  in  S(»ide,  ihre  Djelläben  zu  verzi<T(Mi. 

Der  Kifi  trägt  stets  einen  kleinen  gt»flocht(Mien  Zopf  an  d(T  rechten 
Seite  des  Hinterkopfes,  während  dvr  Djil>eli  dies  nur  in  jüngeren  .bihren 
thut  und  s]>ät(»r,  d(T  allgemeinen  muselmanischen  Sitte  folgend,  sich  <len 
Kopf  ganz  rasirt. 

Auch  l)ei  dem  sogenannten  Pulvers])iel,  lab  el-bärnd,  haben  tue  Rif- 
Berber  andere  (lewohnlieiten,  als  «lie  arabisch  redenden  DJelx'da.  Jn  Tanger 
kann  man  diest»n  Brauch,  der  bei  ll()chzeit<»n.  Beschneidungen,  religiösen 
Festen    gt»ül)t    wird,    fast    täglich    beobachten.     Meist    kommen   die  Leute 

1)  In  man<hen  Go^'ond«'n  liö'rt  man  aurli  du*  Bozf^ichnunjr  •Djollabia"  für  dieses 
Kh'idunjrsstück.  —  Hor('it.>  Leo  African!*8  fa.  a.  O.  S.  318)  thut  desselliiMi  in  seiner 
Hfsrhff'ilmnjr  der  Lan<Urhaft  «Kirif**  mit  den  Worten  Erwähnunj^;  «Dit*  Kinwolnier  tragen 
alle  Wollrnsarktiicli,  welches  von  der  Art  der  H<'ttderk«*n,  di»»  man  in  Italien  .si«*ht,  ist 
nn<l  srliwar/.«*  und  weissi*  Streifen  hat.  Sic  haben  Kapuzi'U  daran,  die  sie  über  den  Kopf 
zielh'M.  si>  da-«:-*  man  sie  houn  ersten  Anblirk  «duT  für  Tliifr»*.  wie  für  M^'U^dii'U  lialten  muss.'* 


1 20  M.  QUEDENFELDT : 

bei  solchen  Gelegenheiten  aus  ihren  Bergdörfern  nach  der  Stadt,  die  Mehr- 
zahl natürlich  aus  dem  umliegenden  Distrikte  von  Andjera,  aber  auch  von 
weiter  her.  Man  versammelt  sich  an  einer  bestimmten  Stelle,  gewöhnlich 
auf  dem  gi'ossen  Ssok  (Marktplatze)  vor  dem  oberen  Stadtthore.  Jeder 
Maini  hat  sein  langes  Gewehr  bei  sich,  welches  mit  einer  so  starken  Pulver- 
ladung gespeist  wird,  dass  man  bei  dem  jedesmaligen  Abfeuern  glaubt, 
einen  Böllerschuss  zu  hören,  und  in  Begleitung  einiger  Musikanten  wird 
in  die  Stadt  gezogen,  in  einer  Formation,  für  die  wir  den  sehr  bezeich- 
nenden vulgären  Ausdruck  „Gänsemarsch"  haben.  Die  Musik  bildet  den 
Schlnss;  sie  besteht  unweigerlich  —  in  allen  solchen  Bräuchen  sind  die 
Marokkaner  in  hohem  Grade  conservativ  —  aus  zwei  Instrumenten:  einer 
„geita"  genannten  Clarinette,  welcher  mit  aufgeblasenen  Backen  die  lau- 
testen, quiekendsten  und  näselndsten  Töne  entlockt  werden,  und  einer  grossen, 
schmucklosen  Trommel  oder  eigentlich  Pauke,  „tebel"  (tbäl),  deren  obere 
Seite  mit  der  rechten  Hand  mittelst  eines  hölzernen  Paukenschlägels  bear- 
beitet wird,  während  die  linke  Hand,  mit  einem  dünnen  Stäbchen  bewaffnet, 
die  Unterseite  schlägt.  In  bestimmten  Reprisen  wird  nun  Halt  gemacht,  ein 
Kreis  formirt  und  es  werden  möglichst  gleichzeitig  die  Gewehre,  nachdem  sie 
vorher  verschiedentlich  balancirt  worden  sind,  nach  dem  Boden  zu  ab- 
gefeuert. So  geschieht  es  bei  den  Djebela;  die  Buäfa  hingegen  stellen  sich 
nicht  im  Kreise,  sondern  in  zwei  Reihen,  etwa  wie  wir  beim  Contro- 
tanz,  einander  gegenüber  auf,  „chassiron"  dann  einige  Mal  durch- 
einander, wobei  sie  ein  eigenthümlich  gellendes,  trillerndes  Geschrei  aus- 
stossen,  ähnlich  den  bekannten  Lauten  der  mohammedanischen  Frauen  bei 
Freudt^n-  oder  Trauerbezeugungen,  und  feuern  ihre  Gewehre  ab.  Bei 
diesem  Durcheinanderchassiren  halten  sie  ihre  Gewehre  in  einer  ähnlichen 
Position,  wie  unsere  Soldaten  beim  Bajonetfechten. 

Die  BewaflTnung  der  Rif- Berber  besteht,  ausser  der  bekannten  langen 
Steinschlossflinte  von  arabischer  Form,  mit  breitem  Kolben,  wie  sie  viel- 
fach in  Tetuan  gefertigt  wenlen  (Fig.  1),  noch  aus  sogenannten  Reiter- 
pistolen, gleichfalls  mit  Feuersteinschlösseni.  Ausser  diesen  beiden,  nicht 
im  Rif  allein  gebräuchlichen  Schusswaflfen  haben  die  Ruäfa  noch  ein 
langes  Dolchmesser  mit  g(»rad(»r,  sehr  «lünner  und  spitzer  Klinge  un<l 
einem  eigcuithümlich  geformten  Griff'e  in  Gebrauch.  Diese  Wafl^e,  welche 
eine  Länge  von  2 — 2|Fus8  hat,  ist  <l(»m  Rif  ausschliesslich  eigen  und  sie 
wird  auch  von  den  Arabern  „ssebiila  rif ia",  „Rif- Dolch '^,  genannt  (Fig. 'j). 

p]in  sehr  sonderban^s,  dudelsackartiges  Musikinstrument,  „samnier*' 
(sammära,  Flöte),  zwei  llörner  durch  eine  Thierhaut  verbunden,  ist  gleich- 
falls dem  Rif  eigenthümlich  (Fig.  3). 

Die  Rif-Berber  sind  in  ihrer  Heimath  nicht  ohne  eine  gewisse  rohe 
Industrie,  welche  zwar  der  bei  den  Schlöh  best(dienden,  hoch  entwickelten, 
nicht  entfernt  nalu»  kommt,  andererseits  aber  die  der  „Breber"  übertriflTt. 
Sie  beschränkt  sich  vornehmlich  auf  die  F<»rtigung  von  groben  WoUstofl^en 


Eintheilung  und  Verbreitang  der  Berberbevölkenmg  in  Marokko. 


121 


zu    ihrer   Bt^kloidun^   und    des    einfachsten  Ackerbau-  und  Hausgeräthes. 

Im   (Jart    fertigt    man    vortreffliche  Mühlsteine.     Die  berühmten  Teppiche, 

«leren  Her8t(41ung  man  gewöhnlich  den  Beni  Snassen  zuschreibt,  kommen 

nicht  von  diesen,  sondern  von  den  Beni  Bu-Segü.    Die  in  Tanger  lebenden 

Rif-Leute  gelten  als  geschickte  Maun»r.   Die  Rif-Berber  sind  keine  Nomaden, 

8on<h»ru    sie    sin^l    sesshaft    und    leben  demgemilss,    mit  Ausnahme  einiger 

weniger  Kabilen    im  aussersten  Osten  des  Gebietes,    auch  nicht  in  Zelten, 

8on(h»rn  in  zu  kleinen  Dörfern  vereinten  Stein- 

und  Holzhäusern.     Fischfang  wird  von  ihnen 

an     der    Küste    viel    getrieben,     desgleichen 

ßi(Uienzucht    in  den  niederen  Gebirgen.     Als 

Strandräub<»r    waren    die    Ruäfa    früher    sehr 

berüchtigt,    und  sie  würden  auch  heute  noch 

kein    ße<lenken    tragen,    ein    SchiflF   und    die 

Mannschaft  desselben  auszuplündern,   welches 

das  Unglück  haben  sollte,  an  ihrer  Küste  zu 

scheitern.    Aggressive  Piraten  in  dem  Maasse, 

wie    etwa  die  von  Rabat  und  Sselä,    sind  sie 


nie  gewesen. 


Thatsache  ist,  dass  die  Rif-Berber  vielfach, 
—  entgegen  der  gerade  in  Marokko  sonst  so 
sehr  streng  beobachteten  mohammedanischen 
Satzung,  —  das  Fleisch  vom  wilden  Schwein 
essen.  Nach  LEO  AFRICANUS^)  sollen  sie  (im 
U).  Jahrhund(^rt)  auch  dem  Weingenusse  in 
stark(»m  Maasse  gefröhnt  haben.  Dass  aber, 
wie  einzelne  Reisende 
behaupten,  verschiedene 
Tribus  der  Ruäfa  die  Be- 
schneidung nicht  übten, 
ist  mir  im  Lande  selbst 
von  allen  Seiten  bestritten 
word(»n,  sogar  von  Ara- 
bern, die  sonst  jede  Ge- 
legenheit benutzen,  um 
denselben   Uebles  nachzusagen. 


Fig.  2. 


1}  A.a.O.  S.  3()8.  ,])ie  Bewohner  (des  Rif)  sind  auch  tapfere  Lente;  allein  dem 
TniTikr*  iinfr^iiK'in  «Theben  und  schlecht  gekleidet.  Man  findet  ausser  Ziegen  und  Eseln 
woni^'«' Thi^TC :  dorli  Affen  sind  in  grosser  Menge  vorhanden.  Städte  giebt  es  nur  wenige; 
diH  ('a>t«ll«'  und  l)örf«T  b«'stehen  aus  elenden  Häusern  von  einen)  Stockwerke,  gleich  den 
Stallen  in  Kur(>i>a.  Die  Diwher  sind  mit  Stroh  und  schlechten  Baumrinden  gedeckt  u.  s.  w.** 
Auch  weiterhin  spricht  Leo  bei  der  Beschreibung  verschiedener  3<?r&^"  der  ^Landschaft 
Errif"  —  er  verst«»ht  unter  ^Berg"  immer  das  von  einem  Stamme  bewohnte  Gebiet  — 
stets  von  dem  Weinbau,  der  damals  im  Rif  getrieben  wurde. 

Z«iUcbrift  für  Bthnologie.    Jahrg.  188S.  9 


1 22  ^-  QURDENPEIiDT : 

Nach  Mittheilungen,  die  TiSSOT  und  DUVEYKIER  gemacht  wurden, 
deren  Richtigkeit  aber  sehr  zu  bezweifeln  ist,  sollen  sich  in  den 
abgeschlossenen  Thälern  des  Rif  noch  einzelne  Koran -Exemplare,  in  alten 
berberischen  Lettern  ^ )  geschrieben,  vorfinden.  Mir  selbst  wurde  von  glaub- 
würdigen Schlöh  erzählt,  dass  im  Ssüss  einzelne  Exemplare  des  Koran  in 
Schilha  (Sprache  der  Schlöh)  übersetzt,  aber  mit  arabischen  Buchstaben 
geschrieben,  vorhanden  seien.    Es  wäre  das  gleichfalls  eine  grosse  Seltenheit. 

Der  Hauptgebirgsstock  im  Süden  des  Gebietes  führt  von  dem  histo- 
rischen Berberstamme  Ssenhadja  seinen  Namen  und  gliedert  sich  in  zwei, 
Ssenhadja-Ssejiir  und  Ssenhadja- Rdradu  genannte  Ketten. 

Die  sonst  charakteristische  berberische  Stammbezeichnuug  „Ait"  -) 
scheint  bei  den  Ruäfa  eigenthümlicher  Weise  gar  nicht  oder  nur  sehr  spo- 
radisch vorzukommen,  vielmehr  überall  durch  die  arabischen  Worte  von 
gleicher  Bedeutung,  „Beni"  oder  „Uled",  ersetzt  zu  werden. 

GREY  Jackson*)  schätzt  die  Bevölkerung  des  Rif,  ganz  willkürlich, 
auf  200  000  Köpfe. 

U.  Mittlere  Gruppe.    Br^ber. 

Die  Stämme,  welche  diese  Gruppe  bilden,  bewohnen  das  Centrum  von 
Marokko,  d.  h.,  allgemein  gesagt,  das  Gebiet,  welches  sich  südlich  der  Städte 
Miknäss  (Miknässa)  und  Fäss  bis  an  die  östliche  Hälfte  des  grossen  Atlas 
und  über  diesen  hinaus  bis  zur  Oase  Tafilelt  und  zum  oberen  üraaflusse 
erstreckt,  und  so,  im  Südosten  und  Süden,  in  das  Gebiet  der  stark  mit 
nigritischen  Elementen  durchsetzten  berberischen  oder  arabischen  Bevölke- 
rung übergeht.  Im  Nordwesten  gehen  einige  Brebor-Kabilen,  die  Geruän 
und  Semür-Schilh*),  weit  über  Miknäss  hinaus;  sie  oecupiren  das  Gebiet 
fast  auf  die  halbe  Entfernung  zwischen  dieser  Stadt  und  den  Küstonplätzen 
Rabat  und  Sselä. 

Im  Norden  wird  das  Gebiet,  und  zwar  in  der  Reihenfolge  von  Westen 
nach  Osten,  durch  die  arabisch  redenden  Kabilen  der  Uled  Aissa  (Issa), 
Schraga  und  üled  Djemma,  Uled  ol-Hadj,  Hiaina  und  Gijäta  begrenzt.  Im 
Osten  dürfte  etwa  eine  Linie,  welche  man  sich  von  Tafilelt  nach  Norden  über 
Kssäbi-esch-Schürfa  nach  Tessa  gezogen  denkt,  die  Grenze  beider  Sprach- 
gebiete bilden,  indem  östlich  von  dieser  Linie  „el-arbia",  westlich  der- 
selben „el-berberia"  gesprochen  wird.  Die  Uled  el-Hadj,  Uled  Ghana, 
Hauuära  u.  s.  w.  sind  die  benachbarten,  arabisch  sprechenden  Tribus.     Im 

1)  Die  einzigen  berberischen  Schriftzeichen,  die  man  gegenwärtig  kennt  sind  die  bei 
den  Tuareg  gebräuchlichen.  Vergl.  die  Grammatiken  dieser  Sprache  von  Stanhope- 
Freeman,  Hanoteau  u.  8.  w. 

2)  Alt  =  Söhne,  Nachkommen.    Der  Sing.  =  U. 

3)  A.  a.  0.  S.  26. 

4)  Correct  müsste  esheissen:  Semür-Schlöh,  wenn  wir  von  der  Mehrheit  sprechen 
(Schlöh  -  PluT.  von  Schilh);  doch  sagen  die  Araber  im  Lande  selbst  Semür-Schilh,  und 
ich  habe  daher  diese  Bezeichnung  beibehalten. 


EintheiluDg  nnd  VerbreitQDg  der  BerberbeTolkerung  in  Marokko.  123 

Süden  stossen  die  Breber  mit  den  Rchlöh  zusammen,  und  zwar  in 
der  Richtung  von  Osten  nach  Westen  mit  den  „Haratin"  von  Tafilelt  und 
F'erkla,  dann  mit  <l(»n  „Draua"  von  Mesj^ita  (Imsj^itten).  Im  Südwesten, 
zwischen  Athis  und  Anti- Atlas  und  in  diesen  CJebirgen,  bilden  die  Ait 
'Amr,  <lie  Ait  Tigdi-Uschschen,  die  Ait  Sineb  im  Distrikt  Imini  die  Grenze. 

Im  Westen,  in  der  Kichtung  von  Süden  nach  Norden,  wird  das  Breber- 
(lebiet  zunächst  ni^rdlich  vom  Atlas  von  den  Distrikten  Denmät  und  Entifa 
begrenzt.  Distrikte  mit  Schlöh- Bevölkerung,  welche  der  Regierung 
(Machsin)  unterworfen  sind').  In  dem  an  Kntifa  und  <len  hohen  Atlas 
grenzenden  Südwesfwinkel  des  Gebietes  wohnen  mehrere  Stämme,  z.  B.  die 
Ait  Madjin,  die  Ait  b  UuUi  u.  s.  w..  welche  einen  vom  „el-berberia"  etwas 
abw(»ichenden  l)ial(»kt,  einen  Uebergang  zum  ^esch-schilha**,  sprechen. 

Von  hier  ab  bilden  wieder  arabisch  redende  Stamme  die  Grenze,  zu- 
nächst ilie  den  westlichen  Tlieil  des  Distrikts  von  Tadla  (Tedia)  bewoh- 
nend<»n;  der  östliche  Th<dl  des  Tedla  wird  von  einigen  „el-berberia"  spre- 
chend<»n  Strimm(»n  occupirt.  Die  ersteren  heissen :  Beni  Müssa,  Beni  'Amir, 
Beni  M<»skin  (diese  g(»hören  zum  Beled  el-Machsin  und  wohnen  am  wei- 
t<»sten  wt»stlich),  Urdira.  Beni  Semür,  Beni  Chiran,  Ssmahla  (oder  Ssmala). 
Von  T<»dla  nördlich  grenzt  ein  kleiner  Theil  des  Nordostens  der  Provinz  esch- 
Schauija)  an  das  Breber-G(»biet,  hieran  schliesst  sich  das  Gebiet  der  Kabila 
Sair,  und  endlich  im  äussersten  Nordwesten  begrenzt  das  Land,  welches  die 

1)  Man  muss  in  df^m  Territorium,  welches  wir  als  Sultanat  Marokko  bezeichnen,  das 
sojjenannte  «Boled  el-Machsin**  und  das  -Beled  ess-Ssiba**  unterscheiden.  Das  erstere  ist 
von  Stt'uem  zahlenden,  der  Repfierung  völlig  unterworfenen  Stämmen  bewohnt;  das  ^Beled- 
ess-Ssiba"  bewohn<*n  unabhän^^e  oder  nur  nominell  unterworfene  Stämme. 

2)  Diese  grosse,  vorzugsweise  ebene  und  sehr  fruchtbare  Provinz  ist  von  (meist  noma- 
disirenden)  Araberstämmeu  bewohnt.  Es  sind  mir  IB  derselben  bekannt,  welche  wiederum 
in  zahlreiche  Unterabtheilungen  zerfallen.  Die  Zusammensetzung  ist  folgende:  Uled  Bu- 
Siri,  nr-d  Ss'aid,  Mssamssa.  Uled  Ss'idi  Ben  Daud,  lled  Mhammed  (llt'd  Sireg,  Uled  Chaib, 
el-rbelnt.  Uled  *Amäma),  ('hesassra  (Uled  Bu-Bekr.  Uled  el- Assri,  Brassiin.  Uled  Menissf), 
el  .'Vulad,  Uled  Bu-'Arif.  Beni  Iman,  Msäb  (Hamdaua,  Beni  Sketen,  el  Alf.  Beni  Brahim, 
Menia,  Djemu'a.  Uled  Ferss,  Uled  Ssendjedj),  Uled  Harris,  Medakra,  Uled  Sian,  Mediüna, 
Siania  (SiaTda-rg-(jaba  und  Siaida-el-Lota),  Snäta.  Der  Distrikt  von  Schanija  war  früher 
unter  dem  Namen  «Temssna**  oder  ^Temessna"  liekannt.  Auf  der  vor  etwa  30  Jahren 
erscbi«>nen*'n  englischen  Karte  von  James  AVyld  und  auf  der  von  £.  Kkkou  findet  sich 
di«*se  M»^zeicbnung  noch.  Leo  Apricanus  (übersetzt  von  Ix)RSI}ACh)  giebt  uns  eine  höchst 
iuteri'ssanto  Schilderung  der  Schicksale  dieser  Provinz  und  ihrer  Bewohner.  Sie  wurde 
von  Jussif  Ben  Taschfin  verwüstet  und  die  Bewohner  fast  sämmtlich  getödtet;  unter  dem 
Sultan  Jakub  ol-Manssur  (f  lllJ'.O  wurde,  etwa  100  Jahre  später,  die  heutige  Provinz  esch- 
Srhauija  dnnh  aus  Tunesien  dorthin  verj)flanzte  Araberstämme  aufs  Neue  bevölkert. 
Spator  sind,  nach  Leo.  wieder  Berber.  Zeneter  und  Hauuära  eingewandert,  vrm  denen 
Hn  U»bcrbleib>el  die  noch  in  Schanija  wohnende  Kabila  «Snäta"  (vergL  S.  110  Note  8) 
ist.  Doch  ist  nur  der  Name  ein  altberberischer :  die  Sprache  ist,  wie  die  aller  gegen- 
wärtig' in  »'sch- Schanija  lebender  Stämme,  arabisch.  Diese  Wiedereinwanderung  ber- 
berix'hcr  Eb-nunto.  die  nur  in  ganz  geringem  Maasse  stattgefunden  haben  kann 
(denn  \.KO  sj»richt  auch  nach  dieser  Periode  immer  nur  von  den  „Arabern  in  Temessna*')^ 
»teht  also  zu  der  von  mir  auf  S.  105  gemachten  Mittheilung  über  die  Abstammung  der 
Nomadenl)evölkerung  der  westmarokkanischen  Ebenen  in  keinem  Widerspruch. 

9* 


124  M.  Quedemfeldt: 

Beni  Hassin  bewohnen,  das  Gebiet  der  Breber.  —  Das  Centrum  von  Marokko 
ist,  mit  alleiniger  Ausnahme  seines  südöstlichen  Theiles,  durchgehends 
Gebirgsland,  meist  sehr  hoch  und  rauh.  Es  umfasst  einen  der  höchsten 
Bergcomplexe  der  Atlaskette,  den  Djebel  Aiaschi,  und  alle  grossen  Ströme 
des  Sultanats  haben  in  ihm  ihren  Ursprung. 

Dieses  grosse,  an  Unzugänglichkeit  dem  Rif  kaum  nachstehende  Gebiet 
ist  gleichwohl  von  einigen  Keisenden  durchkreuzt  und  auch,  so  gut  dies 
bei  einer  derartig  schwierigen  und  gefahrvollen  Reise  angeht,  erforscht 
worden.  Abgesehen  von  Ren6  CAILLEß,  dessen  Beschreibungen  von  diesem 
Theile  seiner  Reise  sehr  lückenhaft  und  dürftig  erscheinen^),  ist  hierbei 
in  erster  Linie  unser  berühmter  Landsmann  GERHARD  ROHLPS,  der  Alt- 
meister der  deutschen  Marokko-Erforschung,  zu  nennen.  Seine  im  Jahre  1864 
ausgeführte  Durchquerung  des  Breber-Gebietes  (von  NNW.  nach  SSO.)  wir<l, 
verbunden  mit  den  weiteren  Erfolgen  dieser  Reise,  für  alle  Zeiten  eine 
der  grossartigsten  Leistungen  auf  dem  Gebiete  der  Explorationsreisen 
bleiben  2).  Es  bedarf  kaum  der  Erwähnung,  dass  dergleichen  Touren  nur  in 
der  Verkleidung  als  Muslem  oder  als  einheimischer  Jude  ausführbar  sind. 
Während  alle  bisherigen  Reisenden  die  erstere  Form  gewählt  hatten,  ist 
in  neuester  Zeit  der  in  dieser  Arbeit  bereits  mehrfach  erwähnte  Vicomte 
Charles  de  FOUCAÃœLD  im  Beled  ess-Ssiba  als  marokkanischer  Jude 
verkleidet  gereist  und  zwar  mit  überraschendem  Erfolge.  Die  Leistungen 
dieses  französischen  Officiers  können  von  jedem  Kenner  marokkanischer 
Verhältnisse  gar  nicht  hoch  genug  anerkannt  und  bewundert  werden. 
FOUCAULD  hat,  was  wissenschaftliche  Resultate  anbelangt,  alle 
seine  Vorgänger  bei  weitem  übertroffen.  Er  hat  im  Laufe  von 
11  Monaten  nicht  nur  fast  3000  km  in  nahezu  gänzlich  unbekannten 
Landestheilen  zurückgelegt,  bei  jedem  Schritte  von  Gefahren  umgeben, 
sondern  er  hat  dabei  astronomische  und  meteorologische  Beobachtmigen, 
Höhenbestimmungen,  Pläne  und  Croquis  der  durchwanderten  Geg(»nden 
gemacht  —  und  Alles  in  einer  so  enormen  Anzahl  (Höhenbestimmungon 
z.  B.  einige  Tausend),  mit  einer  solchen  Correctheit  und  Vorzüglichkeit  in 
der  Ausführung,  dass  es  kaum  fassbar  erscheint,  wie  Herr  DE  FoUCAULD 
unter  den  obwaltenden  Verhältnissen  dies  hat  möglich  machen  können. 
Selbstverständlich  sind  hier,  wie  überall,  einzelne  Irrthümer  nicht  aus- 
geschlossen, w^oiche  sich  bei FOUCAULI?,  diesem  geographischen  Reisenden 
par  excellence,    wo    sie    sich    finden,    meist  auf  ethnologische  Verhältnisse 


1)  Journal  d'un  Toyage  ä  Tcmboctou  et  k  Jenn^  etc.,  Paris  1830,  Bd.  III.  —  CxiLLife 
passirte  im  Somiper  1828  auf  der  Rückkehr  von  seinen  mehrjährigen  Reisen  im  westlichen 
Ssudän  Marokko  in  einer  so  traurigen  Verfassung,  krank,  ermattet,  von  allen  Mitteln  ent- 
blösst,  dass  hierin  eine  sehr  triftige  Erklärung  für  die  Lücken  und  Mängel  in  seiner 
Beschreibung  liegt. 

2)  Reise  durch  Marokko,  Uebersteignng  des  grossen  Atlas,  Exploration  der  Oasen 
Ton  Tafilet,  Tnat  und  Tidikelt  und  Reise  durch  die  grosse  Wüste  über  Rhadames  nach 
Tripolis  von  Gerhabd  Rom:<F8,  Bremen  18G8. 


Ointheilnng  nnd  Verbreitung  der  Berberbevölkerung  in  Marokko.  125 

beziehen.  Bezüglich  der  Details,  auf  welche  ich  hier  nicht  näher  eingehen 
kann,  sei  auf  das  Studium  des  prächtig  ausgestatteten  Werkes  selbst  ver- 
wiesen, dessen  Titel  ich  auf  Seite  105  angegeben  habe.  H.  DUVEYRIEE, 
der  berühmte  Kenner  der  Tuareg,  konnte  in  der  Generalversammlung  der 
Pariser  Geographischen  Gesellschaft  vom  24.  April  1885  mit  Recht  sagen, 
dass  unserer  geographischen  Kenntniss  von  Marokko  durch  die  Forschungen 
FOUCAULD's  eine  vollständig  neue  Aera  eröffnet  sei. 

DE  FOUCAÜLD  machte  seine  Reise,  —  und  das  hat  wohl  wesentlich 
mit  zu  deren  glücklicher  Durchführung  beigetragen,  —  in  der  Gesellschaft 
<les  Rabbiners  MaRDOCHAI  ABI  SseRÃœR  (Ssepir)  aus  Akka,  bekannt  in 
wissenschaftlichen  Kreisen  durch  seine,  im  Auftrage  der  Pariser  Geogra- 
phischen Gesellschaft  unternommenen  Reisen  im  westlichen  Saharagebiete. 
Der  französische  Reisende  war  in  der  Verkleidung  als  eingeborener  Jude 
in  mancher  Beziehung  viel  sicherer  und  weniger  der  Gefahr  des  Erkannt- 
werdens ausgesetzt,  als  er  es  in  der  als  Muslem  gewesen  wäre,  und  selbst 
im  Falle  einer  Entdeckung  würde  der  Zorn  der  Muslemin  nicht  so  gross 
gewesen  sein,  als  wenn  er  in  der  Maske  als  ihresgleichen  ihre  heiligen 
Orte  betreten  hätte,  obgleich  im  Grossen  und  Ganzen  der  Hass  der 
Mohammedaner  in  Marokko  stets  mehr  dem  Fremden  als  dem  Christen 
gilt.  Ferner  hatte  DE  FouCAüLD  in  der  Abgeschlossenheit  der  Judenviertel 
viel  mehr  Gelegenheit,  unbeobachtet  zu  arbeiten,  mit  seinen  Instrumenten 
zu  operireu,  als  es  ihm  in  der  steten  Gesellschaft  von  Mohammedanern 
möglich  gewesen  wäre. 

Alle  diese  Vortheile  hatte  der  Reisende  vorher  wohl  erwogen,  und 
der  Erfolg  hat  gezeigt,  welchen  guten  Griff  er  in  der  Wahl  seiner  Ver- 
kleidung gethan.  Andererseits  gehört  jedenfalls  ein  nicht  geringer  Gh-ad 
von  Selbstverleugnung  und  Selbstbeherrschung  dazu,  bei  den  zahlreichen 
Verhöhnungen  und  Beschimpfungen,  denen  die  Juden  in  diesen  Ländern 
täglich  ausgesetzt  sind,  seiner  Rolle  treu  zu  bleiben,  —  eine  harte  Probe, 
welcher    sich    der  junge  Officier  gleichfalls  vollauf  gewachsen  gezeigt  hat. 

Das  zu  Anfang  dieses  Jahres  erfolgte  Erscheinen  des  FOUCAULD''schen 
Werkes  *)  ist  mir  bei  der  vorliegenden  Arbeit  von  grossem  Nutzen  gewesen. 
Ich  war  dadurch  in  den  Stand  gesetzt  vieles  bisher  nirgends  Publicirte 
und  auch  mir  selbst  Neue  in  die  hier  versuchte  Monographie  der  marok- 
kaui8('h(»n  Berber  mit  aufzunehmen.  Ferner  konnte  ich  manche  meiner 
schriftlichen  Notizen,  welche  ich  im  Lande  selbst  von  Eingeborenen  gesam- 
melt liatte,  nach  den  FOÃœCAULD 'sehen,  an  Ort  und  Stelle  gemachten 
Beobachtungen  berichtigen  oder  ergänzen.  Hieraus  erklären  sich  auch 
manche*  kleine  Abweichungen  in  der  Angabe  des  Textes  von  denen  der 
Karte:  diese  letztere  war  bereits  fertig  gestellt,  als  mir  das  Werk  FüüCAULD's 

1)    In  dem  hier  mehrfach  citirten  RsCLUS^schen  Werke  (1886)  waren  bereits  aas  dem 
Manuscript  von  Foucauld  yerschiedene,  besonders  interessante  Mittheilungen  publicirt. 


126  M.  Quedekfeldt: 

kürz  nach  seinem  Erscheinen  zu  Händen  kam.  Es  sind  daher  stets  die  Mit- 
theilungen des  Textes  maassgebend.  Bei  dieser  Gelegenheit  möchte  ich 
betonen,  dass  die  beigegebene  Karte  nur  eine  ganz  allgemeine  Anschau- 
ung von  der  Verbreitung  der  berberischen  Bevölkerung  in  Marokko  und 
von  den  Gebietstheilen,  welche  jede  der  einzelnen  Gruppen  bewohnt,  geben 
soll.  Eine  absolute  Genauigkeit  in  den  ethnologischen  Details,  —  beispiels- 
weise ganz  zutreffende  Angaben  über  die  Lage  und  Grenzen  der  Terri- 
torien einzelner  Stämme,  —  kann  aus  mehrfachen  Gründen  nicht  gegeben 
und  nicht  erwartet  werden.  Abgesehen  von  dem  Hauptgrunde:  unserer 
zur  Zeit  noch  nicht  erschöpfenden  Kenntniss  derselben,  besonders  deshalb 
nicht,  weil  bei  der  hier  in  Rede  stehenden  Bevölkenmg  vielfach  Gebiets- 
verschiebungen vorkommen.  Fast  unausgesetzt  giebt  es  Fehden  benach- 
barter Stämme;  viele  derselben  sind  Nomaden  und  suchen  ihre  Nachbarn 
aus  ergiebigen  Weidegründen  zu  verdrängen.  So  hatten,  nach  ROHLFS^), 
die  Beni  Mtir  früher  das  Terrain  inne,  welches  jetzt  die  Beni  Mgill 
bewohnen.  Die  Ait  Atta  haben  sich  in  ähnlicher  Weise  nach  Süden  bis 
Ertib  und  Tafilelt  hin,  ja  darüber  hinaus,  ausgebreitet  und  führen  blutige 
Kriege  mit  den  zurückgedrängten  Stämmen.  In  den  wasserarmen  Gegenden 
sind  meist  Streitigkeiten  um  dieses  belebende  Element  die  Ursache  end- 
loser Kämpfe.  — 

Andererseits  hat  mir  das  Erscheinen  des  FOÃœCAULD'schen  Werkes  im 
gegenwärtigen  Momente  die  Priorität  mancher  Mittheilungen  genommen, 
die  Resultate  zuverlässiger  Informationen  und  Beobachtungen,  die  sich  von 
meinen  verschiedenen  Reisen  her  in  meinen  Aufzeichnungen  finden  und 
welche  ich,  als  bisher  noch  nirgends  veröffentlicht,  in  der  vorliegenden 
Arbeit  zu  verwerthen  gedachte.  In  verschiedenen  Fällen,  wo  meine  eigenen 
Informationen  mit  denen  DE  FoUCAÃœLD's  in  Widerspruch  stehen,  habe  ich 
die  ersteren  beibehalten,  wenn  ich  der  Ueberzeugung  war,  dass  jeder  Irr- 
thum  ausgeschlossen  erschien,  selbst  da,  wo  es  sich  um  Gegenden  handelt, 
die  FOUCAÜLD  selbst  besucht  hat.  Es  bezieht  sich  dies  selbstverständlich 
nur  auf  Mittheilungen  ethnologischen  Inhalts.  Einige  Bedenken  habe 
ich  bezüglich  der  Zahlenangaben  FOÜCAULD's  über  die  Bevölkerung  der 
Dörfer  (Kssor's)  verschiedener  von  ihm  bereister  Distrikte,  über  die  jüdische 
Bevölkerung  mancher  Ortschaften  u.  s.  w.  Wenn  man  weiss,  wie  unend- 
lich schwierig  es  ist,  in  einem  Lande  wie  Marokko  einigermaassen  zu- 
verlässige Zahlenangaben  zu  erhalten,  —  und  dies  im  Beled  el-Machsin,  — 
so  kann  man  sich  gewisser  Zweifel  an  der  Richtigkeit  der  von  FOUCAULD 
mit  anscheinend  so  grosser  Genauigkeit  gegebenen  Zahlen  aus  den  der 
Regierung  nicht  unterworfenen  Landestheilen  schwer  erwehren.  Eine 
Statistik,  gleich  viel  nach  welcher  Richtung,  ist  in  Marokko  absolut  unbekainit. 

Ausser  CaiLLIE,  ROHLFS  und  FOUCAULD  hat  sich  in  den  Jahren 
1880  —  1882    ein  Deutscher,   Namens  JACOB  SCHAUDT,    in    dem    uns    hier 

1)  A.  a.  0.  S.  31. 


Eintheilung  and  Verbreitung  der  Berbcrbevölkerung  in  Marokko.  127 

interessircnden  Brober- Gebiete  aufgehalten.  SCHAUDT,  wenn  ich  nicht 
irre,  Bad(»n8(?r,  ein  früherer  Tel<»gra])henbeamter,  war  aus  Furcht  vor  der 
Strafe  für  eine  von  ihm  an  eintmi  Unterofficier  begangene  thätliche  Belei- 
digung aus  deutschem  Militärdienste  desertirt.  Er  war  nach  Marokko 
gekommen,  hatte  scheinbar  den  Islam  angenommen,  und  nach  verschie- 
denen Irrfahrten  in  anderen  Theilen  des  Sultanats  hat  er  während  der 
genannten  Zeit  vorwiegend  die  östlichen  Partien  des  Breber- Gebietes 
durchwandert,  seinen  Lebensunterhalt  durch  das  Anfertigen  und  Verkaufen 
von  zinnernen  Fingerringen  und  Armspangen  sich  erwerbend.  Um  später 
leicht(»r  reisten  zu  können,  war  SCHATDT  für  einen  Monat  ins  Klostor  der 
Derkaua  in  (iaus  in  MetOrara  oder  Meda^xra,  einem  Distrikte  am  Uad  Sis, 
gegangen.  Hier  lebt  der  einflussreiche  Schech  der  Derkaua,  Ssidi  Moham- 
med el- Arbi,  ein  hochb(»tagter  Greis,  der  unter  die  fünf  mächtigsten  reli- 
giösen Häupter  des  Landes  zu  zählen  ist^).  Durch  den  Aufenthalt  in  der 
Sauia  der  Derkaua  (»rwarb  SCJHAUDT  das  Recht,  den  grünen  Turban  zu 
tragen,  i\rv  in  Marokko  nicht  ein  Attribut  der  Schürfa  oder  Nachkommen 
des  Propheten,  sondern  ausschliesslich  der  Derkaua  ist. 

In  Kssäbi-esch-Schürfa  hatte  SCHAUDT,  ein  nicht  ungebildeter  Mensch 
und  aUom  Anscheine  nach  ein  scharfer  Beobachter,  das  Unglück,  bei  einem 
Ueberfalh?  des  Ort(»s  durch  die  Ait  Scherroschen  seine  g(»ringe  Habe  nebst 
den  Notizen,  welche  er  sich  im  V(»rlaufe  seiner  Kreuz-  und  Querzüge  über 
Land  und  Leute  gemacht  hatte,  zu  verlieren.  Er  hat  aber  dennoch,  nach 
Tanger  zurückgekehrt,  aus  dem  Gedächtnisse  eine  nicht  uninteressante 
kurze  Schilderung  seiner  Erh?bniss(?  niedergeschrieben,  welche,  durch  Ver- 
mittelung  eines  deutschen  Kaufmanns,  Herrn  EdUAKD  HÄSSNEK,  und 
unseres  damaligen  Ministerresidenten  in  Tanger,  Herrn  Th.  WebeR,  in 
der  Zeitschrift  der  Gesellschaft  für  Erdkunde  zu  Berlin  veröif entlicht  worden 
ist-).     Durch    Geldspenden    des    genannten  Hf^rn  HÄSSNER    und    des    zu 

1)  Dio  vier  anderen  sind:  1.  Der  Scherif  von  Uasän  <»der  l)ar-demäna,  aus  der  Des- 
cpndenz  von  Mulai  K<lriss  (die  Schurfa  von  Uasan  sind  alle  Schürfa  Drissiin).  Das  gej^en- 
wärti^^e  Haupt  der  Familie  ist  der  >»ekannte  Mulai  'Abd-ess-Ssalani.  2.  Der  Scherif  von 
Tanu*j:nit  Uad  Draa),  Descendenz  von  Ssidi  Mohaniined  Ben  Nasser.  Der  ^gegenwärtige 
erste  Repräsentant  der  Familie  heisst  Ssidi  Mohammed -u-Bu-Bekr.  3.  Der  Scherif  von 
Bu-el-J)jad  (sprich  Bejad),  Tadla,  aus  der  Familie  der  Scherkaua  ij)escendenz  vom 
Klialifeii  'Omar  Ben  el  ('hattab).  Das  gegenwärtige  Haupt  der  Familie  ist  der  hoch- 
lietagte  S>idi  Ben  l)aud  B<*n  Ssidi  el-'Ar!)i.  4.  Der  Scherif  von  Ta^serualt,  Nachkomme 
des  Merald«!  Ssidi  Hammed- u-Müssa.  Gegenwärtiges  Haupt  der  Familie  ist  einer  der 
Söhne  ih':>  18^^<>  verstorbenen  Ssidi  Hussein  Ben  Haschern,  Hadj  Taher.  —  Der  erwähnte 
Ssi«li  Mohammed  el-'Arhi  Derkaui  ist  Scherif  aus  der  Familie  der  'Aläuin  oder  *AlauTa 
Descendenz  von  Mulai  'Ali  aus  Janho  in  Arabien,  gestorben  in  Tafilelt),  der  u.  a.  auch 
die  jetzt  in  Marokko  regierende  Dynastie  angehört. 

2  Band  IK  l.'-Ki.  4  — (>.  Heft  —  Trotz  der  vielen  Mängel  der  Arbeit,  unter  denen 
am  au;;enfälligsten  eine  die  einheimischen  Bezeichnungen  bis  zur  Unkenntlichkeit  ent- 
stellende Schreibweise  ist,  hatte  die  damalige  Redaction  der  Zeitschrift  dennoch  in  An- 
betracht des  Umstandes,  dass  jeder  Beitrag  zur  Kenntniss  dieser  noch  so  wenig  durch- 
forschten Gebict^theile  von  Nutzen  sei,  die  Arbeit  aufgenommen. 


128  M.  QUEDJENF^LDT: 

jener  Zeit  in  Tanger  anwe8enden  Herrn  F.  KRUPP  in  Essen  unterstützt, 
brach  SCHAUDT  im  Frühjahr  1883  zu  einer  neuen  Reise  auf,  vornehmlich 
mit  der  Absicht,  in  den  noch  unerforschten  Gebirgen  des  Landes  Gestein- 
und  Erzproben  zu  sammeln.  Auf  dieser  Reise  ist  er  verschollen;  man  hat 
seither  nie  wieder  etwas  von  ihm  gehört. 

Schliesslich  verdanke  ich  meinem  verehrten  Freunde  Frhm.  MAX  VON 
Oppenheim  aus  Cöln,  Mitglied  unserer  Gesellschaft,  einige  interessante 
Mittheilungen  über  die  Positionen  einzelner  Stämme.  So  hat  u.  a.  dieser 
Reisende  auf  einer  „Djebel  Behalil"  („Bu-Hellül"  oder  „-Hellöl")  genannten 
Bergkette  zwischen  Fäss  und  Ssefrü  einen  von  den  Ait  Scherroschen 
erbauten  Tschar  (Häuserdorf)  gleichen  Namens,  wie  der  Berg,  angetroffen  — 
ein  Zeichen,  dass  dieser  jetzt  weiter  östlich  wohnende  Stamm  früher  bis 
hierher  seine  Wohnsitze  erstreckte  0-  — 

Ich  schliesse  hieran  eine  Aufzählung  der  Breber- Stämme  und  deren 
hauptsächlichsten  Fractionen,  so  weit  mir  die  letzteren  bekannt  geworden 
sind.  In  einem  der  folgenden  Hefte  dieser  Zeitschrift  denke  ich  Mit- 
theilungen über  Typus,  Sitten,  Bräuche  u.  s.  w.  der  Breber  zu  machen,  die 
Schlöh  (Gruppe  3)  eingehend  zu  besprechen  uud  im  Anschlüsse  hieran  das 
geringe,  mir  zur  Verfügung  stehende  vergleichende  linguistische  Material 
zu  geben. 

A.   Stämme  im  westlichen  Theile  des  Gebietes,    in  der  ungefähren 

Reihenfolge  von  Norden  nach  Süden. 

1.  Nördlich  vom  Atlasgebirge. 

Geruän.  Eine  Fraction  dieser  Kabila,  die  Ait  Imur,  wurde  von  einem 
der  früheren  Sultane  zwangsweise  in  der  Nähe  von  Marrakesch  (Stadt 
Marokko)  angesiedelt.    Vergl.  die  Karte. 

Semür-Schilh.  Eine  Fraction  derselben  bilden  die  Ait  ilakim.  Wie 
die  Geruän  nominell  der  Regierung  unterworfen. 

Saian.  Zerfallen  in  vier  Fractionen:  Beni  Hessussen,  Ait  el  Harka, 
Hebbaren,  Ait  ess-Ssidi  *Ali-u-Brahim.  Die  Saian  bilden  eine  der  mäch- 
tigsten  Vereinigungen,  sie  sollen  18  000  Krieger  (Berittene)  stellen  können. 

Akebab,  eine  kleine,  wenig  bekannte  Kabila. 

Ketaia  und  Ait  Rbli.  Zwei  Breber- Stämme  im  östlichen  Tadla,  die 
viel  mit  arabischen  Elementen  gemischt  sind.  Es  ist  bei  den  Stämmen 
von    Tadla,    welche    alle    stark    von    arabischen    Einflüssen    iuficirt    sind, 

1)  Herr  von  Oppenheim  hat  18bG,  nach  voraufgegangenen  Touren  in  Algerien  und 
Tunis,  eine  mehrmonatliche  Reise  im  nördlichen  Marokko  auf  theilweise  wenig  von  Euro- 
päern betretenen  Pfaden  gemacht,  u.  a.  den  kleinen  Ort  Ssefrü,  eine  Tagereise  südlich 
von  F&88,  besucht,  die  Route  von  Miknäss  nach  Rabat  auf  dem  gleichen  Wege,  wie  seiner 
Zeit  Dr.  0.  Lenz,  zurückgelegt  und  die  Reise  von  Rabat  nach  Tetuau  auf  einem  ziemlich 
directen  Wege,  d.  h.  ohne  Tanger  zu  berühren,  gemacht.  In  gleicher  Weise  hat  Herr 
VON  Oppenheim  auch  die  direkte  Route  von  Uasan  nach  Fäss  gemacht.  Icli  traf  mit 
ihm  in  Rabat  zusammen. 


Eintheilong  und  Yerbreitang  der  Berberbeyölkening  in  Marokko.  129 

noch  8C'hwierig(»r,  als  anderswo,  die  Rassen  genau  auseinander  zu  halten. 
Ich  hahe  die  beiden  genannten  Kabilen  aus  sprachlichen  Gründen  zu 
den  Brebern  gestellt,  allenfalls  würden  dahin  noch  die  Beni  Somur 
gehören,  von  denen  einzelne  Fractionen  ^el-berberia*'  sprechen,  während 
andere,  gleich  d(»n  nuM'sten  Stämmen,  die  das  Tadlagebi(»t  bewohnen,  ara- 
bisch sprechen.  Die  Ketaia  zerfallen  in  folgende  Fractionen:  Ssemgei, 
Ait*Ala,  Ait  Hrahim,  Ait  Kerkait;  die  Ait  llbä  in  üled  Said,  Uled  Jussif, 
Suair,  Beni  Millal. 

Ischkern.     Diese  Ka]>ila  kann  c^twa  8()00  Reiter  ins  Feld  stellen. 

Ait  Sseri.  Z(»rfallen  in  acht  Han])tfractionen :  Ait  Uirra,  Ait  Mham- 
med,  Ait 'Abd  el-Uali,  Friata,  Ait  el-IIabibi,  Ait  Maha,  Ait  *Abd  en-Nür, 
Ait 'Said.  Der  Stiunm  besitzt  wenig  Pferde,  doch  stellt  er  zahlreiche 
Krieger  zu  Fuss. 

Ait  Atta  Umalu.  Der  kleine  .Stamm  kann  etwa  800  Krieger  zu  Fuss 
und  150  Reiter  stellen.  Der  berberische  Name  „Umalu",  eine  Genitivform, 
bedeut(»t:  Die  Ait  Atta,  welche  im  Schatten  wohnen,  d.  h.  auf  der  Nord- 
seite des  (Atlas-) Gebirges. 

Ait  Bu-Sid.  Gleichfalls  ein  kleinerer  St^imm,  der  ungefähr  1000 
Krieger  zu  Fuss  und  3(K)  Reiter  aufbringen  kann. 

Ait '  Aiad.  Kleiner  Stamm  mit  etwa  KXK)  Kriegern,  worunter  100  Reiter. 

Ait'Atab.  Können  etwa  1500  Bewaifnete  aufbringen,  unter  ihnen 
300  Reiter. 

Ait  Messat.  Eine  grosse  Tribus,  die  gegen  4500  Krieger  aufstollen 
kann,  worunter  500  Reiter.  Sie  theilt  sich  in  fünf  Fractionen:  Ait  Ishak, 
Ait  Mohammed,  Ait  Ugudid,  Ait  Abd -Allah,  Ibara^en. 

Ait  Madjin  (Masen  bei  FoUCAULD). 

Ait  b  Uulli.  Diese  Schreibweise  des  Wortes  ^)  dürfte  der  auf  der  Karte 
angegebenen  arabisirten  vorzuziehen  sein'-*). 

2.    Südlich  vom  Atlasgebirge. 

Imeiran.  Ein  grosser,  unabhängiger  Stamm,  welcher  gegen  3500 
Bewaffnete  stellen  kann. 

Askiirn    (Ilaskura.  Skura).     Eine  starke  Tribus  mit  über  200  Kssor  s. 

Ait  Ssedrat.  I)ieselb(»n  theilen  sich  in  zwei  Hauptfractionen :  Ait  Suli 
und  Ait  Mehelli,  d(»ren  jede  etwa  2000  Krieger  ins  Feld  stellen  kann. 
Die  Ait  Ssedn'it  hd)en,  ausser  in  ihrem  eigenen  Distrikte,  auch  verstreut 
am  oberen  Draa  und  am  Uad  Dadcs. 


1,  Borliorischc  Geuitivforin,  ^rebildot  durch  Voraiisetzung  der  Präposition  h  vor  das 
abhänjpgi?  Suhstantivuin.     Vergl.  Hanoteau,  (Iraniinaire  Kabyle.  S.  38. 

"J.  Id  <l»^in  bfiiachbartfii  Distrikte  von  Kntifa  wohnen  drei  kleine,  der  Regierung 
Dominell  untvrworfeue  Kabilen:  Ait  Abbas,  Inktu,  Ait  Bu-Harasen,  welche  aber,  nach 
meinen  Informationen,  schilha  sprechen. 


1 30  M.  QuEDEKFEi  jyr :  Eintheilnng  und  Verbreitung  der  Berberbeyölkerung  in  Marokko. 

B.   Stämme  im  Centrum  des  Gebietes. 

Beni  Mtir. 

Beni  Mgill  (Mgild).  Zwei  mächtige  Stämme,  von  welchen  nach 
ROHLPS  —  wohl  zu  niedrig  angegeben  —  jeder  etwa  2000  Bewaffiiete  ins 
Feld  stellen  kann. 

Ait  lussi.  Diese  starke  Kabila  zerfällt  in  drei  Hauptfractionen: 
RejJraba,  Ait  Helli,  Ait  Messäud-u- Ali.  Der  Name  „lussi"  ist  corrumpirt 
aus  „lussifi";  der  Gründer  des  Stammes  hiess  lussif  Ben  Daud. 

C.   Stämme  im  östlichen  Theile  des  Gebietes. 

Ait  Scherroschen  (Tschogruschen,  Sto^uschen  u.  s.  w.),  auch  Imer- 
muschen  (Mermuscha)  oder  Uled  Mulai  'Ali  Ben  *Amer  genannt.  Zerfallen 
in  zwei  Gruppen,  die  durch  das  Mlu'ia-Thal  getreimt  werden.  Die  nörd- 
liche Gruppe  bewohnt  die  Südabhänge  des  mittleren  Atlas,  die  andere 
den  Nordabhäng  des  grossen  Atlas  und  die  Dahra,  ein  ausgedehntes,  nur  mit 
Haifa  (Esparto-G ras)  bestandenes,  wasserarmes  Hochplateau,  welches  sich  bis 
nach  der  algerischen  Provinz  Oran  hinüberzieht.  Die  nördliche  Fraction  ist 
sesshaft  und  kann  gegen  2000  Krieger  stellen;  die  südlichen  Ait  Scherro- 
schen sind  vorwiegend  Nomaden  und  verfügen  über  weit  mehr  als  3000 
Bewaffnete.  Diese  letztere  Gruppe  theilt  sich  in  neun  Fraetionen:  Ait 
Said,  Ait  Bu-Ussäun,  Ait  Said-u-el- Hassin,  Ait  Heddu-u-Bel-Hassiu, 
Ait  Bu- Mirjam,  Ait  'Ali  Bu- Mirjam,  Ait  Bu-Uadfil,  Ait  Hussein,  Ait 
I  lammu  -  Bei  -  Hassin. 

Ait  Atta  und  Ait  lafelman.  Diese  beiden  mächtigen  Kabilen  werden 
unter  der  Bezeichnung  „Breber"  („Beräbir")  zusammengefasst,  worüber 
uns  FOUCAULD  S.  362  u.  a.  interessante  Aufschhisse  giebt.  Der  Name 
ist,  wie  ich  bereits  erwähnte,  auf  die  ganze  Gruppe  mit  gleichem 
Dialekt  übergegangen.  Diese  „Breber"  im  engeren  Sinne  bilden  die 
mächtigste  Vereinigung  in  ganz  Marokko;  sie  mögen  an  30  000  Krieger 
aufstellen  können.  Die  Ait  Atta  theilen  sich  in  zwei  Hauptfractionen, 
die  Ait  Semrui  und  Ait  Haschu,  deren  jede  wieder  in  zahlreiche  kleine 
Gruppen  zerfällt.  Die  Ait  lafelman  bilden  gleichfalls  eine  Anzahl  von 
Hauptfractionen  mit  vielen  Unterabtheilungen.  Ausser  den  von  FoUCAULD 
aufgeführten:  Ait  Isdigg,  Ait  Hadidu,  Ait  lahia,  Ait  Mejirad,  Ait  *  Ali -u- 
Brahim,  Ait  *Issa-Bu-Hamar,  Ait  Kratichssen,  Ait  Aiasch,  sind  mir  noch 
die  Ait  Sechömän  angegeben  worden.  Die  Ait  Uafella  sind  eine  Unter- 
fraction  der  Ait  Isdigg.  Die  grosse  Mehrzahl  dieser  Stämme  bewohnt  das 
weite  Gebiet  zwischen  dem  Atlas  und  Tafilelt  u.  s.  w.,  etwa  mit  dem  oberen 
Draa  als  Westgrenze.  Wandernd,  auf  Raubzügen  oder  auch  als  Escorte 
von  Karawanen  streifen  sie  bis  in  die  westlichen  Sudanländer,  Timbuctu, 
Ualäta  u.  s.  w.  Nördlich  vom  Atlas  und  in  diesem  Gebirge  sind  sie  spär- 
licher vertreten. 


Besprechungen.  131 


Besprechungen, 


Intornationalos  Archiv  für  Ethnographie,  herausgegeben  von  Dr.  KrisT. 
BaHNSON  in  Copenhagen,  Prof.  GUIDO  CORA  in  Turin,  Dr.  O.  J.  DOZY 
in  Noordwijk  bei  Leiden,  Prof.  Dr.  K.  PeTRI  in  St  Petersburg, 
J.  I).  K.  SCHMKLTZ  in  Leiden  und  Dr.  L.  SeRRURIER  in  Leiden. 
Redartion:  J.  D.  E.  SCHMELTZ,  Conservator  am  ethnographischen 
Reichsmuseum  in  Leiden.  Verlag  von  P.  W.  M.  Trap,  Leiden;  Emest 
Leroux,  Paris:  Trübner  &  Co.,  London:  C.  F.  Winter'sche  Verlags- 
handlung, Leipzig.     1888.     4to. 

Nur  wt'iiij^e  Wissensrhafteii  sind  in  einem  solchen  Maasse  auf  die  gemeinsame  Arbeit 
aller  gebildeten  Nationen  anji^ewiesen,  als  die  Ethnographie.  Ist  es  doch  nicht  Vielen 
vergönnt  die  Schätze  fremder  Sammlungen  durch  eigenen  Augenschein  und  zeitraubendes 
Studium  genauer  kennen  zu  lernen,  ganz  abgesehen  davon,  dass  manches  Stück,  welches 
weitgehende  ethnographische  Ausblicke  j^estattet,  überhaupt  aus  dem  Besitze  fremder 
Völker  nicht  loszulösen  ist.  Wollen  wir  also  unsere  ethnographischen  Kenntnisse  zu  mög- 
lichster Abrundung  bringen,  so  bedürfen  wir  getreuer  Schilderungen  in  Wort  und  Bild, 
denn  in  keinem  Museum  der  Welt  finden  sich  die  Erzeugnisse  irgend  eines  Volkes  in  einer 
solchen  Vollständigkeit  vertreten,  dass  nicht  das  eine  oder  das  andere  Stück  aus  anderen 
Sammlungen  als  nothwendiges  und  erklärendes  Bindeglied  dazwischen  zu  treten  hätte. 
Was  aber  bisher  auf  diesem  Gebiete  veröffentlicht  worden  ist,  das  unterlag  naturgemäss 
einer  unendlichen  Zersplitterung;  es  fand  sich  in  einer  endlosen  Zahl  von  Zeitschriften 
und  Monographieen  zerstreut,  von  denen  dem  einzelnen  Forscher  viele  nur  mit  grosser 
Muhe,  andere  überhaupt  gamicht  zugänglich  wurden.  Mit  grosser  Freude  und  mit  voll- 
berechtigten Hoffnungen  müsjjen  wir  daher  die  Gründung  eines  internationalen  Archivs 
für  Ethnographie  begrüssen,  in  welchem  jeder  wissenschaftliche  Arbeiter  je  nach  seinem 
Belieben  in  deutscher,  holländischer,  französischer  oder  englischer  Sprache  die  Ergebnisse 
seiner  Forschungen  niederlegen  kann. 

Für  die  (iediegenheit  und  Lebensfähigkeit  des  neuen  Unternehmens  bürgen  einerseits 
die  Herausgeber  und  namentlich  der  durch  den  classischen  Catalog  des  Museums  Godeffroy 
bekannt^»  Redacteur,  andererseits  die  ausserordentlich  grosse  Anzahl  derjenigen,  welche 
der  neuen  Zeitschrift  ihre  Mitarbeiterschaft  zugesagt  halien  und  von  denen  ein  nicht 
geringer  Theil  durch  seine  Lebensstellung  so  recht  mitten  in  der  Fülle  des  wissenschaft- 
lichen Materials  steht  Dass  es  gerade  Leiden  ist,  von  wo  das  internationale  Archiv  für 
Ethnographie  seinen  Ausgang  nimmt,  das  hat  auch  seine  volle,  man  möchte  sagen,  seine 
geschichtliche  Berechtigimg.  War  es  doch  J^eiden,  von  wo  in  den  40er  Jahren  durch  die 
AiifstelluTig  der  japaniseben  Sammlung  v.  Siebold's  der  Anstoss  gegeben  wurde  zu  that- 
kräftiger  ethn<»graphis(her  Forschung:  begann  man  doch  jetzt  erst  allmählich  die  Einsicht 
zu  gewinnen,  dass  nicht  philosophische  Speculationen,  sondern  nur  ein  ernstes,  syste- 
matisches Sammeln  und  ein  genaues,  man  kann  wohl  sagen,  naturwissenschaftliches  Studium 
d«'r  einzelnen  (iegenstände  unsere  Kenntniss  der  Ethnographie  zu  fordern  vermag.  Diese 
-analytische  Ethnographie-  ist  es  gerade,  welche  die  in  zweimonatlichen  Quartheften 
erscheinende  n«*ue  Zeitschrift  zu  pflegen  !)eal>sichtigt.  Das  erste  Heft  führt  uns  auf  seinen 
3'J  Seiten  mit  2M  Figuren  im  Texte  und  i\  sehr  schön  ausgeführten,  reichen  Farbentafeln 
eintn  Versuch  einer  Systematik  der  Neu -Guinea -Pfeile  von  Hm.  Serrurier  und  Mit- 
theilungen üi»er  d4*n  Mandau,  die  eigenthümliche  Hiebwaffe  der  Dajaken  von  Koctci,  seine 
Verfertigung,  seine  Ausschmückung  und  seine  Rangesabzeicben  von  Hrn.  Tromp,  dem 
früheren  Resident en  von  Koetei,  vor.    Dann  folgen  kleinere  Abschnitte  unter  den  Titeln: 


132  Besprechimgen. 

Kleine  Notizen  und  Correspondenz,  Sprechsaal,  Museen  und  Sammlungen,  Bibliographische 
Uebersicht,  Büchertisch,  Reisen  u.  s.  w.  Für  die  nächsten  Hefte  sind  Abhandlungen  in 
Aussicht  genommen  von  Büttikofer  (Leiden):  lieber  die  eingeborenen  Stämme  der  Neger- 
republik Liberia;  Langkavel  (Hamburg).  Pferde  und  Naturvölker;  Martin:  R^sumd  des 
acquisitions  du  musee  d^Ethnographie  a  Stockholm  pendant  les  annöes  1881 — 87;  Bahnson: 
Das  Königl.  ethnographische  Museum  in  Kopenhagen;  Schmeltz:  Nachträge  zu:  Die 
ethnographisch -anthropologische  Abtheilung  des  Museum  Godeffroy;  Schmeltz:  Südsee- 
Reliquien;  Woldt  'Berlin):  die  Cultusgegenstände  der  Golden  und  Giljaken;  von  Luschan: 
die  Sanmilungen  von  Cook  und  Forster  im  Berliner  Museum  für  Völkerkunde;  von 
Luschan:  Das  türkische  Schattenspiel;  Ten  Kate:  Ethnographische  Gegenstände  aus 
Surinam;  Harmsen:  lieber  einige  Battah- Kalender;  Helfrich,  Winter  und  Schiff: 
het  Hassan- Hussein  of  Taboetfeest  te  Benkoelen;  Parkinson:  Beiträge  zur  Ethnologie 
der  Gilbert- Insulaner;  Schoor  (Leeuwarden) :  M6moires  sur  Porigine  des  terpes  Frisones 
(Habitations  lacustres).  Es  werden  diese  Angaben  genügen,  um  die  Reichhaltigkeit  des 
gebotenen  Stoffes  zu  ermessen.  Wir  wünschen  dem  neuen  Unternehmen  eine  recht  rege 
Theilnahme  und  ein  recht  glückliches  W^eitergedeihen.  Max  Bartels. 


Oscar  Baumann.  Eine  afrikanischo  Tropen -Insel:  Fernando  P6o  und 
die  Bube.  Mit  16  Illustrationen  und  einer  Originalkarte.  Wien  1888. 
VI.  145.     (M.  5.) 

„Das  dritte  Zeitalter  der  Entdeckungen  naht  sich  seinem  Ende'',  so  äusserte  sich  der 
Vorsitzende  der  Gesellschaft  für  Erdkunde  in  deren  ersten  diesjährigen  Sitzung.  Dieser 
Satz  ist  gewiss  richtig,  wenn  man  unter  ^Entdeckungen"  das  zufällige  oder  beabsichtigte 
Auffinden  von  Festlanden  und  Inseln,  von  bisher  unbekannten  Hochgebirgen  Strömen, 
Seen  u.  s.  w.  versteht.  Mit  demselben  Recht  darf  aber  wohl  auch  behauptet  werden,  dass 
gerade  heute  das  Zeitalter  der  intensiveren,  der  auf  begrenzte  grössere  oder  kleinere 
Länder  und  Inseln  sich  beschränkenden  Entdeckungsreisen  gekommen  ist.  Die  Periode 
der  Weltumsegelungen,  Durchquerungen  u.  s.  w.  liegt  hinter  uns,  wir  nähern  uns  dem  Zeit- 
alter der  Einzeiheschreibungen. 

Dass  es  noch  Vieles  in  der  Welt  zu  entdecken  giebt,  und  zwar  durchaus  nicht  etwa 
im  centralen  Australien  oder  Afrika  allein,  sondern  auch  in  Ländern,  bezw.  Inseln,  die 
von  Europa  aus  in  wenigen  Tagen  auf  Dampfern  zu  erreichen  sind,  dafür  liefei-t  die  vor- 
liegende, bei  gediegenstem  Inhalte  flott  geschriebene  und  sehr  gefällig  ausgestattete  Arbeit 
des  österreichischen  Forschers  Dr.  Oscar  Bau  mann  den  besten  Beweis. 

Fernando  Po  ist  seit  416  Jahren  von  Europäern  entdeckt  und  steht  seit  ungefähr  der- 
selben Zeit  unter  europäischer  Herrschaft  und  Verwaltung.  Dennoch  leben  heut*,  nur  wenige 
Meilen  von  der  Küste  entfernt^  Tausende  von  Eingeborenen,  die  nicht  nur  nichts  von  dem 
Vorhandensein  eines  Königs  von  Spanien  wissen,  sondern  die  nie  in  ihrem  Leben  jemals 
einen  Weissen  gesehen  haben.  Wie  der  Verfasser  sagt,  hat  er  auf  dieser  kleinen  Insel 
des  dampferdurchfurchten  Guineameeres  des  Neuen  und  Interessanten  in  anthropologischer, 
ethnographischer,  geographischer,  kurz  in  jeder  Beziehung  viel  mehr  gefunden,  wie  jemals 
im  ceutralafrikanischen  Kongogeliiete. 

Wir  können  uns  beglückwünschen,  dass  Dr.  Bau  mann  sich  an  den  Stanleyfällen  von 
Prof.  Lenz  trennte  und,  statt  denselben  auf  der  in  mancher  Beziehung  vielleicht  dank- 
bareren, jedenfalls  aber  ruhmreicheren  Afrikadurchkreuzung  zu  begleiten,  sich  von  der 
Westküste  nach  Sta.  Isabel,  dem  Hafen-  und  Hauptorte  von  Fernando  Po,  einschifl'te,  um 
von  dort  während  einer  beinahe  zwei  Monate  langen  Fussreise,  bei  beschränkten  Mitteln 
recht  bescheiden  ausgerüstet,  die  bisher  beinahe  vollkommen  unbekannte  Insel  zu  erforschen. 
Ein  nie  versiegender  Humor  und  ein  ausserordentliches  Talent,  mit  Eingeborenen  zu  ver- 
kehren, haben  ihm  über  alle  Gefahren  und  Beschwerden  hinweggeholfen. 

In  den  ersten  drei  Kapiteln  schildert  uns  Bau  mann  seine  Route,  auf  welcher  er  die 
Insel  von  Norden  nach  Süden  und  von  Westen  nach  Osten  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung 
durchkreuxte,  st^ts  bestrebt,  durch  Besteigung  von  Berggipfeln  sich  möglichst  zu  orientiren. 


Besprechungen.  133 

Das  geographische  Ergebniss  der  Reise,  die  dem  Buche  beigegebene  Karte,  ist  jedentalla 
die  bente,  die  heute  von  Fernando  Po  vorhanden  ist. 

Vom  vierten  Abschnitte  an  wird  die  Stellung  der  Insel  in  der  Vulkankette  des  Gninea- 
nieeres,  die  Fauna.  Flora  derselben,  sowie  ihr  so  übel  berüchtigtes  Klima  besprochen. 
Ueber  letzteres  bemerkt  der  Verfasser:  ..Im  Allgemeinen  l&sst  sich  sagen,  dass  Fernando 
P(5o,  wenn  auch  nicht  viel  besser,  so  doch  unbedingt  nicht  schlechter  für  die  Gesundheit 
des  Europäers  ist^  als  andere  Plätze  an  der  Westküste  Afrika^.  Ich  selbst  war  auf  dem 
viel  gepriesenen  oberen  Kongo  durch  Dysenterie  dem  Tode  nahe  und  habe  mir  bei  ruhiger 
Lebensweise  in  Kamerum  ein  schweres  hämaturisches  Fieber  geholt..  Während  meiner 
Wanderungen  in  Femando  Poo  dagegen,  W(»  ich  täglich  durchnässt  wurde,  oft  im  Freien 
campiren  nmsste  und  auf  eingeborene  Nahrung  beschränkt  war.  erfreute  ich  mich,  kleine 
rnwohlsein  abgerechnet,  der  besten  Gesundheit " 

Das  fünfte  und  sechste  Capitel  beschäftigen  sich  ausschliesslich  mit  den  eigenartigen 
Eingeborenen  der  Insel,  den  Bube.  Verfasser  bet4>nt  deren  Gegensatz  zu  den  Dualla  von 
Kamerun  und  hält  es  für  fast  zweifellos,  dass  die  ersten  Entdecker  schon  Vertreter  der- 
selben Rasse  auf  der  Insel  vorfanden.  Er  schätzt  deren  Zahl  heute  auf  20—25  000;  der 
Sprache  nach  gehören  sie  zu  den  Bantuvölkem,  ein  Negertjpus  ist  bei  ihnen  kaum  hervor- 
tretend. Das  Anfertigen  von  Zeugen  oder  Matten  ist  ihnen  unbekannt,  ebenso  wie  die 
Cultur  des  Maniok.  Sie  verstehen  es,  sich  durch  Signale  auf  einer  Pfeife  auf  weite  Ent- 
fernungen zu  verständigen. 

Ueber  die  religiösen  Anschauungen  der  von  ihm  besuchten  Stämme  enthält  sich  der 
Verfasser,  im  Gegensatz  zu  manchen  anderen  ^ Afrikareisenden *",  ausdrücklich  jeglichen 
Urtheils. 

In  den  beiden  Schlussabschnitten  werden  die  Geschichte  der  Insel,  die  gesellschaft- 
lichen Verhältnisse  ihrer  heutigen,  «civilisirten"  Bewohner  u.  s.  w.  behandelt.  Auch  diese 
Kapitel  werden  dem  jugendlichen  Verfasser,  -  vielleicht  abgesehen  von  einigen  Betbrüdern, 
Prohibitionisten ,  Anti-Slavery- Schwärmern  und  ähnlichen  Herren,  —  nur  Freunde 
gewinnen.  — 

Zum  Schlüsse  möchte  sich  Referent  noch  eine  kurze  Bemerkung  über  die  Schreib- 
weise ..Fernando  Pöo"  erlauben.  Dr.  Baumann  hat  dieselbe  gewählt,  weil  sie  die  heute 
officielle  spanische  ist  Demnach  müssten  die  Spanier  das  W^ort  .Pö-o*^  aussprechen. 
Das  thun  sie  aber  nicht,  sondern  sie  nennen  die  Insel  wie  Jedermann  ^Fernando  Pö",  und 
darum  dürfte  die  Schreibart  «Poo**  unrichtig  sein,  trotzdem  sie  officiell  ist.  Der  Ent- 
decker hiess,  so  viel  Referenten  bekannt  ist,  Femam  do  Po  (..Ferdinand  Staub*'  oder  ^von** 
Staub).  Dass  hieraus  sehr  bald  „Fernando  Po*"  wurde,  ist  leicht  erklärlich.  Ramusio 
(1ÖG3  I.  p.  13)  schreibt  allerdings  ^Fernando  da  Poo",  indess  dürfte  ^da"  auf  jeden  Fall 
unrichtig  sein.  Die  englischen  Karten  verzeichnen  durchgehend  „Pö'S  vielleicht  um  zu 
verhüten,  dass  der  Engländer  das  Wort  „Poo"  wie  „Pub"  ausspräche.  Jedenfalls  liegt  die 
Sache  heute  so,  dass  entweder  die  Herren  der  Insel  einen  Fehler  machen,  indem  sie 
,P<So"  schreiben,  oder  aber  die  Söhne  der  Insel  sprechen  deren  Namen  falsch  aus. 

Auch  der  von  Dr.  Baumann  gewählte  Name  „S'/o  Thome'*  erscheint  nicht  unanfecht- 
bar. Der  Venezianer  Ramusio  J.  p.  113  E.  F.)  schreibt  zwar  ebenfalls  ,,San  Thome". 
Welcher  Nation  soll  aber  dieser  „heilige  Thome"  angehören?  feiner  europäisch -romanischen 
wohl  schwerlich,  denn  „Thomas",  wie  die  Engländer  wiederum  ganz  richtig  Schreibern 
heisst  auf  spanisch:  „Tomas'*,  portugiesisch:  „Thomas",  italienisch:  „Tommaso"  u.  s.  w. 
Die  portugiesischen  Behörden  schreiben  und  drucken  allerdings  auch  „S.  (d.  h.  S'/o)  Thome", 
indess  wird  dadurch  noch  nicht  bewiesen,  dass  diese  Schreibart  richtig  ist.  „Anno  bon" 
(S.  71  und  111)  ist  jedenfalls  nicht  richtig;  das  Wort  muss  .^nno  bom"  geschrieben 
werden.  W.  J. 

Joachim  Graf  Pfeil.     Vorschläge    zur    praktischen    Kolonisation    in   Ost- 
Afrika.     Berlin,  Rosenbaum  &  Hart.     1888.     8.     79  S. 
Die   kleine    Schrift   stellt    sich   als   das   colonialjjolitische   Testament   des  Verfa.sser8, 
wenigstens   in  Bezug   auf  Ostafrika,   dar.    Angesichts   des   neuen  Landes,   in  welchem  er 
von  jetzt  an  seine  colonisatorischen  Fähigkeiten  entfalten  boU,  aus  der  Torres- Strasse,  hat 


134  BesprechongeD. 

er  die  Vorrede  geschrieben.  In  3  längeren  Kapiteln  bespricht  er  den  deutschen 
Besitz  in  OstÄfrika,  die  verschiedenen  möglichen  Formen  der  Kolonisation,  die  Leistungs- 
fähigkeit des  afrikanischen  Bodens  und  die  Verwerthung  der  Neger  zur  Arbeit  in  recht 
nüchterner,  objektiver  Weise.  Ein  Zweifler  könnte  daraus  ungezwungen  den  Schluss 
ziehen,  dass  die  Kolonisation  von  Ostafrika  ein  unmögliches  Problem  sei.  Indess  im 
letzten  Kapitel  bringt  der  Verfasser  «Vorschläge  zur  praktischen  Kolonisation  Ostafrikas." 
Ob  er  diesen  Titel  al>8ichtlich  gewählt  hat  statt  der  zu  erwartenden  «praktischen  Vorschläge 
zur  Kolonisation  Ostafrikas",  wird  je  nach  dem  Standpunkte  der  Leser  verschieden  beant- 
wortet werden.  Verfasser  ist  der  Ansicht,  dass  der  Neger  ohne  Zwang  nicht  zum  Arbeiter 
zu  erziehen  ist;  da  er  sich  aber  überzeugt  hat,  dass  eine  stiiatliche  Verwaltung  für  Ost- 
afrika nichts  taugen  und  die  Unterhaltung  einer  eigenen  Militärmacht  unausführbar  sein 
würde,  dass  namentlich  durch  Schutzzölle  ein  genügendes  finanzielles  Aequivalent  für  die 
erforderlichen  Ausgaben  zur  Unterhaltung  einer  «Exekutivmacht**  nicht  zu  erzielen  wäre, 
die  förmliche  Sklaverei  aber  auszuschliessen  ist,  so  gelangt  er  zu  einem  sehr  complicirten 
Systeme  von  Vorschlägen,  von  denen  in  der  That  schwer  anzunehmen  ist,  dass  sie  sich 
als  praktisch  bewähren  würden.  An  die  Spitze  stellt  er  die  Forderung,  dass  die  Arbeits- 
kraft des  Negers  gegen  entsprechenden  Lohn  in  Anspruch  genommen  werde.  Zu  diesem 
Zwecke  soll  dem  Neger  ein  bestimmter  Aufenthaltsort  (Location)  vorgeschrieben  werden, 
in  dem  er  seinem  eigenen  Feldbau  nach  Gewohnheit  obliegen  kann,  aber  zugleich  unter 
Controle  (Oberaufsicht)  gestellt  wird.  Für  den  Fall  «sonst  nicht  mit  Erfolg  zu  bekämpfen- 
der dauernder  Widersetzlichkeit**  will  Verfasser  sich  der  Hülfe  von  Stämmen,  welche  wegen 
ihrer  Kriegstüchtigkeit  in  Ansehen  stehen,  versichern.  Endlich  sollen  für  die  Locationen 
Handelsconcessionen  ertheilt  werden  unter  der  Bedingung,  dass  nur  Handelsartikel  deut- 
schen Ursprunges  eingeführt  werden,  und  es  soll  den  in  Arbeit  befindlichen  Schwarzen 
eine  Abgabe  auferlegt  werden.  Wie  leicht  ersichtlich,  culminirt  dieses  System  in  der 
Constituirung  kriegstüchtiger  Stämme  als  ^Exekutivmacht".  Verfasser  theilt  in  dem  Vor- 
wort mit,  dass  er  auf  diese  Idee  durch  seine  Berührung  mit  den  Mahenge  gekommen  ist, 
welche  ihn  «fortwährend  aufforderten,  ihnen  zu  helfen,  andere  Stämme  zu  bestrafen,  wofür 
sie  sich  erboten,  ihm  nach  Unterwerfung  derselben  eine  Anzahl  Sclaven  zu  geben,  um  in 
ihrem  Lande  einen  permanenten  Wohnsitz  einzurichten.**  Von  diesem  Plane  bis  zu  der 
hoffnungsvollen  Schwärmerei  des  Verfassers,  .ein  kriegsfreies  Gebiet  zu  schaffen,  in 
welchem  wir  solche  Dörfer,  welche  sich  unseren  Maassnahmen  unterwerfen,  ansiedeln", 
ist  freilich  kein  weiter  Schritt,  aber  wodurch  sich  die  Bewohner  dieser  Dörfer  von  Sclaven 
unterscheiden  würden,  möchte  schwer  zu  sagen  sein.  Denn  der  „kriegsfreie*  Zustand 
würde  wohl  nicht  anders  herzustellen  sein,  als  durch  bluti'ge  Kriegs-  und  Raubzuge,  und 
die  «Unterwerfung  unter  unsere  Maassnahmen**  würde  sicherlich  nichts  weniger  als  ein 
Akt  der  Freiwilligkeit  sein.  Ob  ein  derartiger  Vorchlag  jemals  zur  Grundlage  eines  prak- 
tischen Versuchs,  die  ostafrikanische  Frage  zu  lösen,  gemacht  werden  wird,  steht  sehr 
dahin.  Jedenfalls  dürfte  die  Lektüie  des  Buches,  das  von  einem  lange  in  Ostafrika  thätig 
gewesenen  und  der  Colonisationsidee  in  höchstem  Maasse  zugeneigten  Manne  geschrieben 
ist,  manchen  Enthusiasten  abkühlen.  Rud.  Virchow. 

Emil  Schmidt.  Die  ältesten  Spuren  des  M(»n8cheii  in  Nordamerika.  Samm- 
lung gemeinverständlicher  wissenschaftlicher  Vorträge  von  R.  VJRCHOW 
Fr.  V.  HOLTZENDORFF.  Hamburg,  J.F.Richter,  1887.  Neue  Folge, 
zweite  Serie,  Heft  14/15. 

Rasmus  B.  Anderson.  Die  erste  Entdeckung  von  Amerikii,  übersetzt  von 
M.  Mann.     Ebendaselbst  1888.     Dritte  Serie,  Heft  49/50. 

Vorstehend  genannte  beide  Vorträge  beziehen  sich  auf  die  vorkolumbische  Zeit  des 
neuen  Kontinents,  denn  die  von  Hm.  Anderson  erörterte  erste  Entdeckung  betrifft  die 
Seefahrten  der  Skandinavier,  welche  nach  der  Auffassung  des  Verfassers  Columbus  bekannt 
waren  und  die  Grundlage  seiner  Plftne  bildeten.  Die  einzelnen  Vorgänge  werden  aus- 
führlich geschildert  und  die  Orte  der  damahgen  Landungen  möglich  pr&cisirt. 


Besprechungen.  1 35 

V(m  besonderem  Werthe  ist  die  sorgfältige  Arbeit  des  Hm.  E.Schmidt,  der  mit 
philologischer  Genauigkeit  Alles  gesammelt  hat,  was  bis  jetzt'  an  Zeugnissen  für  die 
Hest'haffenheit  des  prähistorischen  (nicht  des  präcolunibischen)  Menschen  in  Nordamerika 
vorhanden  ist.  Die  unsicheren  und  zweifelhaften  Funde  werden  zurückgewiesen;  trotzdem 
bleibt  ein  reiches  Material,  welches  die  Existenz  des  Menschen  in  der  Quartärzeit  (Diluvium) 
bewiist.  .Aber  der  Verfasser  geht  weiter.  Er  vertheidigt  au<'h  die  Richtigkeit  der  An- 
«rabon  über  die  Existenz  des  tertiären  Menschen,  namentlich  unter  den  vulkanischen  Tuften 
(Kaliforniens.  Sicherlich  sind  seine  Mittheilungen  in  hohem  (rrade  beachtenswerth.  Das 
Hinzige,  was  man  gegen  ihre  Beweiskraft  anführen  kann,  ist  der  Umstand,  dass  alle  diese, 
wie  es  scheint,  dem  Pliocen  angehörigen  Funde  zufällig  gemacht  worden  sind  und  meist 
in  die  Hände  unachtsamer  oder  mangelhaft  vorbereiteter  Männer  fielen.  Es  ist  gewiss 
sehr  zu  bedauern,  dass  an  den  genügend  bekannten  Fundstellen  keine  planmässig  geleiteten 
Nachforschungen  veranstaltet  worden  sind,  aber  auch  so  wird  man  zugestehen  müssen 
dass  unter  allen,  der  Tertiärzeit  zugeschriebenen  Funden  von  menschlichen  Resten  oder 
Erzeugnissen  menschlicher  Arbeit  die  califomischen  den  ersten  Rang  einnehmen. 

RuD.  VmCHOW. 


Jakob  HeieRLI.     Pfahlhautou.    Neunter  Bericht.    Mittheilungen  der  Anti- 
quarischen Gesellschaft  in  Zürich.   Leipzig  1888.  4.  66  S.  mit  21  Tafeln. 

Der  vorliegende  Bericht  schliesst  sich  den  berühmten  8  Heften  an,  in  welchen 
F.  Keller  die  älteren  Pfahlbanfunde  in  mustergültiger  und  für  alle  Zeit  bedeutungsvoller 
Weise  geschildert  hat.  Der  Verfasser  hat  sich  in  ausgiebigster  Ausdehnung  der  Mit- 
wirkung der  erfahrensten  und  zuverlässigsten  Forscher  versichert,  wie  des  Hm.  Leiner 
für  die  Stationen  des  Bodensees,  des  Hm.  v.  Fellen berg  für  die  Gebiete  der  Jurawasser- 
Korrektion  und  den  Bieler  See,  des  Hrn.  V.  Gross  für  den  letzteren  und  einige  Nachbar- 
stationen, des  Hm.  Forel  für  den  Genfer  See,  u.  A.  m.  Es  ist  damit  eine  authentische 
üebersicht  dieser  wichtigen  Funde  hergestellt  worden,  die  um  so  mehr  als  dankenswerth 
bezeichnet  werden  muss,  als  wenigstens  ein  grosser  Theil  der  Stationen  als  erschöpft  oder 
doch  für  lange  Zeit  nicht  mehr  zugänglich  bezeichnet  werden  muss.  Der  Gedanke,  dass 
dieser  Bericht  überhaupt  der  letzte  sein  werde,  ist  trotzdem  vielleicht  nicht  ganz  zutreffend, 
denn  auch  die  letzten  Jahre  haben  wieder  manche  neue  Fundstelle  kennen  gelehrt,  so 
namentlich  am  Bodensee,  bei  Zürich  und  am  Murtener  See,  —  eine  Erfahrung,  die  um 
so  tröstlicher  erscheint,  als  jede  spätere  Untersuchung  mit  neuen  Gesichtsjmnkten  an  die 
Forschung  herantritt  und  positive  Erweiterungen  des  Wissens  an  bisher  unbeachtetem 
Material  ergiebt.  Es  mag  zur  Erläuterang  dieses  Satzes  nur  an  die  zahlreichen  Kupfer- 
funde erinnert  werden,  von  denen  der  vorliegende  Bericht  vortreffliche  Beispiele  in  grosser 
Zahl  }>eibringt.  Dadurch  gewinnt  die  chronologische  Klassifikation  der  einzelnen  Stationen 
nach  und  nach  eine  früher  ungeahnte  Sicherheit^  und  es  wird  immer  mehr  ermöglicht, 
die  Parallelen  un<l  die  inneren  Beziehungen  der  schweizerischen  und  süddeutschen  Pfahl- 
bauten mit  gewissen  Landansiedelungen  und  Gräberstätten,  sowie  mit  den  Pfahlbauten  der 
Nachbarländer  aufzusuchen. 

Ein  empfindlicher  Mangel  in  dem  Berichte  ist  die  rein  archäologische  Methode  der 
Darstellung,  welche  von  den  schönen  Vorbildern,  welche  Keller  geliefert  hat,  erheblich 
abweicht.  Von  der  doch  so  zahlreichen  Fauna  der  Pfahlbauten  ist  nur  gelegentlich,  von 
den  menschlichen  Ueberresten  eigentlich  gar  nicht  die  Rede,  und  doch  ist  davon  nicht 
nur  ein  recht  erheldirhes  Material  gesammelt  worden,  sondem  es  hat  auch  die  Bearbeitung 
desselben  wichtige  Gesichtspunkte  für  die  damaligen  Völkerbewegungen  ergeben.  Aber 
es  wird  wolil  norli  lange  dauern,  ehe  die  Bedeutung  der  zoologischen  und  anthrop<do- 
gischen  Fnndstücke  in  das  Bewusstsein  selbst  der  eigentlichen  Forscher  übergeht. 

Trotz  dieses  Mangels  wird  das  Erscheinen  des  so  reich  ausgestatteten  Berichtes  aller- 
seits mit  Freude  und  Anerkennung  begrü.^st  werden.  Möge  es  den  schweizer  Forschem 
beschieden  sein,  recht  bald  einen  neuen  Bericht  dem  jetzigen  folgen  lassen  zu  können. 

KUD.  ViRCHOW. 


136  Besprechungen. 

Baron  WiLH.  V.  LANDAU.     Travels  in  Asia,  Australia  and  America.     P.  I. 
New  York,  London  1888.     16.     80  S. 

Verfasser  giebt  in  der  kleinen  Schrift  eine  gedrängte  üebersicht  seiner  8jährigen 
Reisen  „in  verschiedenen  Theilen  unseres  Planeten",  welche  sich  meist  nicht  über  die 
kürzesten  Aufzeichnungen  eines  Notizlmches  erheben,  welche  aber  zahlreiche,  für  den 
Touristen  recht  nützliche  Angaben  über  Oertlichkeiten  und  namentlich  über  Personen  ent- 
halten. Der  einzige  Abschnitt,  widcher  etwas  mehr  ins  Einzelne  geht,  behandelt  die  auf 
Veranlassung  von  Berliner  Gelehrten  unternommene  Reise  in  die  nördlichen  Provinzen 
von  Luzon  (p.  53 — 80),  die  freilich  keine  entscheidenden  Ergebnisse  geliefert  hat,  da  dem 
Verfasser,  wie  er  angiebt.  die  Ethnologie  bis  dahin  eine  terra  incognita  war.  Er  machte 
die  Reise  in  Gesellschaft  des  Hm.  A  u  und  mit  besonderen  Empfehlungen  des  Commandeurs 
der  Guardia  civil,  Hm.  Scheidnagel,  dessen  Schriften  über  die  Philippinen  und  speciell 
über  Benguet  er  lobend  hervorhebt.  Im  Laufe  von  4  Monaten  dehnte  er  seine  Reise  über 
den  ganzen  Nordosten  von  Luzon,  namentlich  über  die  Provinzen  Nueva  Ecija,  Nueva 
Viscaya,  Isabel,  Saltan  und  Cagajan  aus.  Die  verschiedenen  Stämme,  welche  diese  Pro- 
vinzen bewohnen,  schildert  er  abweichend  von  den  Angaben  des  Hm.  Blumentritt,  dem 
gegenüber  er  auch  wesentliche  Abweichungen  in  den  Wohnsitzen  der  einzelnen  Stämme 
bezeichnet.  Negritos  sind  hier  ü!)erall  zerstreut,  jedoch,  wie  es  scheint,  in  geringer 
Anzahl.  Er  erwähnt  speciell  einen  Stamm  derselben,  genannt  Balugas  oder  Dumagas, 
südlich  und  westlich  von  Buler  an  der  Ostküste,  Provinz  Principe;  eine  andere  Negrito- 
Gegend  ist  bei  Maines  und  Apagaos  im  Südwesten  der  Provinz  Cagajan,  wo  er  speciell 
angiebt,  dass  sie  sich  mit  Igorroten  nicht  verheirathen.  Zu  beiden  Seifen  des  Carabalho 
Sur  (auf  der  Grenze  der  Provinzen  N.  Ecija  und  N.  Viscaya)  sitzen  Ibilaos  oder  Ilongotes 
bis  zur  Ostküste,  wo  sie  (in  Cassiguran)  Ipogaos  genannt  werden.  Die  Ibilaos  sind  ein 
wilder,  nur  hier  und  da  mehr  harmloser  Stamm,  der  Ackerbau  treibt  und  in  Monogamie 
lebt  und  dessen  Glieder  häufig  schöne,  klassische  Gestalt  und  imponirende  Körperkraft 
besitzen.  Sie  begraben  ihre  Todten  in  der  Nähe  ihrer  Häuser,  an  dem  Ufer  eines  Flusses. 
Ihre  Sitze  reichen  bis  in  die  Nähe  von  Bombang.  Hier,  in  San  Nifio,  machte  der  Verfasser 
Ausgrabungen  und  sammelte  einige  Schädel  und  Knochen,  welche  an  den  Referenten 
geschickt  wurden.  Letzterer  hat  darüber  in  der  Sitzung  der  Berliner  anthropologischen 
Gesellschaft  vom  21.  Juli  1883  (Verhandl  S.  395;  berichtet,  glaubte  sie  aber  damals  als 
Schädel  von  Igorroten  ansprechen  zu  müssen.  Dies  wäre  also  nunmehr  zu  corrigiren,  wobei 
jedoch  zu  bemerken  ist,  dass  auch  nach  dem  Verfasser  die  Sitze  der  Igorroten  gleichfalls 
bis  in  diese  Gegend  reichen.  ^Die  Ibilaos  tragen  ihr  langes  Haar  in  einem  Zopf  (switch) 
um  den  Kopf,  wie  die  Chinesen:  ihre  Gesichtstypen  variiren  von  dem  ächten  breiten 
Gesicht  des  Chinesen  mit  vortretenden  Wangenbeinen  bis  zu  der  ovalen  Form  der  kau- 
kasischen Rasse**  (p.  69).  Bombang  ist  nach  der  Ansicht  des  Verfassers  der  Mittelpunkt 
des  grossen  Erdbebens  gewesen,  das  1881  einen  grossen  Theil  der  Provinz  N.  Viscaya 
erschütterte.  Schon  südlich  von  dieser  Stadt  beginnen  die  Ansiedelungen  der  eigentlichen 
Igorrotes,  welche  von  der  grossen  Cordillere  im  Westen  und  vom  Rio  Agno  eingewandert 
sein  sollen;  sie  seien  den  Igorroten  des  Benguet  durch  die  Breite  der  GesicJiter  und  die 
Flachheit  der  Nasen  sehr  ähnlich.  Eine  andere  Gruppe  der  Igorrotes,  die  Gaddanes, 
welche  im  letzten  Jahrhundert  von  Saltan  her  einwanderten,  sitzt  in  der  Ebene  bis  zu  den 
Bergen  von  Quiangan  und  Silipan;  eine  dritte,  etwa  30  00()  Köpfe  stark,  wohnt  in  Quiangan, 
Silipan  und  Mayoyaos.  Ihre  nördlichen  Nachbam,  die  Perugianes,  ein  anderer  Igor- 
roten-Stamm,  lebt  mit  ihnen  in  steter  Fehde.  Auch  die  Namen  Ifugaos  (im  Gaddan- 
Dialekt)  und  Calinga  bedeuten  wilde,  nicht  getaufte  Igorrotes.  Entgegen  Blumentritt 
behauptet  der  Verfasser,  dass  das  ganze  linke  Ufer  des  Rio  Cagayan  von  Igorroten 
bewohnt  werde,  die  in  20  oder  22  Unterstämme  zerlegt  würden.  Von  ihnen  stammen  die 
Schädel,  welche  Hr.  H.  Meyer  von  seiner  Reise  zurückgebracht  hat  (a.  a.  0.  S.  391). 

RUD.  ViRCHOW. 


III. 


Der  Ursprung  der  Stadt  Zürich, 


von 


JAKOB  HFiIERLI 

in  Zürich. 
(Hierzu  Tafel  II— V.) 


Julius  Cäsar  spricht  von  Dörfom  und  Städten,  wolche  die  Helvetier 
verbrannt  hätten  bei  ihrem  Auszug  nach  Gallien.  Sollte  nicht  auch  Zürich 
darunter  gewesen  sein?  Es  lassen  sich  ja  zahlreiche  Beweise  für  eine 
vorrömische  Bevölkenmg  am  unteren  Ende  des  Zürichsees  erbringen. 
Dr.  F.  Keller  zeigte,  dass  die  Kuppe  des  Uetliberges  schon  vor  der 
B«»setzung  Helvetiens  durch  die  Römer  als  Refugium  gedient  hatte,  und 
zahlreiche  Gräber  weisen  ebenfalls  auf  jene  Vorzeit  zurück,  so  die  Hügel- 
gräber im  Burghölzli,  deren  Eröffnung  Ursache  zur  Gründung  der  Anti- 
quarischen (lesellschaft  wurde  (1832),  so  die  Flachgräber  im  Gabler  in 
Enge  und  im  Hard  bei  Altstetten.  Wo  haben  aber  die  Leute  gewohnt, 
die  ihre  Todten  in  diesen  Grrabstätten  beerdigten?  Alte  Wohnstätten  sind 
schwer  aufzufinden,  da  nachfolgende  Generationen  und  Völker  die  Spuren 
ihrer  Vorgänger  verwischen.  Hier  und  da  stösst  man  indessen  doch  auf 
Spur(»n  von  Ansiedelungen  der  Vorzeit.  Oft  sind  es  metallene  Geräthe, 
WaflTeii  und  Schmucksachen,  oft  nur  unscheinbare  Scherben.  Die  Auti- 
quarisclie  Sammlung  Zürich  bewahrt  in  der  That  auch  eine  Menge  vor- 
röniischer  Artefacte,  welche  in  der  Umgebung  und  in  unserer  Stadt  dem 
Grunde  der  Gewässer  oder  dem  Schoosse  der  Erde  enthoben  wurden. 

Vom  ehemaligen  Inselchen,  auf  welchem  die  altberühmte  Wasserkirche 
erbaut  wurde,  bis  hinunter  zur  Webschule  im  Letten  wurden  im  Bette 
der  Limmat  zahlreiche  Schätze  aus  der  Vorzeit  gefunden,  und  auch  ausser- 
halb d<»8  Flu8sbett(»8  kamen  mehrere  interessante  Artefacte  zum  Vorschein. 
Zwei  St<»llen  in  der  Limmat  sind  besonders  ergiebig  gewesen  (vergl.  Taf.  H); 
iVw  (»ino  liegt  in  der  Stadt  selbst,  bei  der  Rathhausbrücke.  Je  näher  die 
Hnj^gcrmaschine  dieser  Brücke  kam,  um  so  zahlreicher  wurden  die  Funde, 
und  als  IHHl  die  Fundamentirungsarbeiten  es  ermöglichten,  tief  unter  den 
(irund  des  f^lusses  zu  dringen,  da  fanden  sich  neben  mittelalterlichen 
und  römischen  auch  viele  vorrömische  Artefacte.    Nur  wenig  weiter  unten 

/•iucbrlft  für  Ethnologie.    Jahrg.  1888.  10 


128  M.  QUED£NF£LDT: 

jener  Zeit  in  Tanger  anwesenden  Herrn  F.  KRUPP  in  Essen  unterstützt, 
brach  SCHAUDT  im  Frühjahr  1883  zu  einer  neuen  Reise  auf,  vornehmlich 
mit  der  Absicht,  in  den  noch  unerforschten  Gebirgen  des  Landes  Gestein- 
und  Erzproben  zu  sammeln.  Auf  dieser  Reise  ist  er  verschollen;  man  hat 
seither  nie  wieder  etwas  von  ihm  gehört. 

Schliesslich  verdanke  ich  meinem  verehrten  Freunde  Frhm.  MAX  VON 
Oppenheim  aus  Cöln,  Mitglied  unserer  Gesellschaft,  einige  interessante 
Mittheilungen  über  die  Positionen  einzelner  Stämme.  So  hat  u.  a.  dieser 
Reisende  auf  einer  „Djebel  Behalil"  („Bu-Hellül"  oder  „-Hellöl")  genannten 
Bergkette  zwischen  Fäss  und  Ssefrü  einen  von  den  Ait  Scherroschen 
erbauten  Tschar  (Häuserdorf)  gleichen  Namens,  wie  der  Berg,  angetroffen  — 
ein  Zeichen,  dass  dieser  jetzt  weiter  östlich  wohnende  Stamm  früher  bis 
hierher  seine  Wohnsitze  erstreckte  ^ ).  — 

Ich  schliesse  hieran  eine  Aufzählung  der  Brebor- Stämme  und  deren 
hauptsächlichsten  Fractionen,  so  weit  mir  die  letzteren  bekannt  geworden 
sind.  In  einem  der  folgenden  Hefte  dieser  Zeitschrift  denke  ich  Mit- 
theilungen über  Typus,  Sitten,  Bräuche  u.  s.  w.  der  Breber  zu  machen,  die 
Schlöh  (Gruppe  3)  eingehend  zu  besprechen  und  im  Anschlüsse  hieran  das 
geringe,  mir  zur  Verfügung  stehende  vergleichende  linguistische  Material 
zu  geben. 

A.   Stämme  im  westlichen  Theile  des  Gebietes,    in  der  ungefähren 

Reihenfolge  von  Norden  nach  Süden. 

1.  Nördlich  vom  Atlasgebirge. 

Geruän.  Eine  Fraction  dieser  Kabila,  die  Ait  Imur,  wurde  von  einem 
der  früheren  Sultane  zwangsweise  in  der  Nähe  von  Marrakesch  (Stadt 
Marokko)  angesiedelt.     Vergl.  die  Karte. 

Semür-Schilh.  Eine  Fraction  derselben  bilden  die  Ait  Hakim.  Wie 
die  Geruan  nominell  der  Regierung  unterworfen. 

Salan.  Zerfallen  in  vier  Fractionen:  Beni  Hessussen,  Ait  el  Harka, 
Hebbaren,  Ait  ess-Ssidi 'Ali-u-Brahim.  Die  Sa'ian  bilden  eine  der  mäch- 
tigsten Vereinigungen,  sie  sollen  18  000  Krieger  (Berittene)  stellen  können. 

Akebab,  eine  kleine,  wenig  bekannte  Kabila. 

Ketaia  und  Ait  Rba.  Zwei  Breber -Stämme  im  östlichen  Tadla,  die 
viel  mit  arabischen  Elementen  gemischt  sind.  Es  ist  bei  den  Stämmen 
von    Tadla,    welche    alle    stark    von    arabischen    Einflüssen    iuticirt    sind, 

1)  Herr  von  Oppenheim  hat  18^6,  nach  voraufgegangenen  Touren  in  Algerien  und 
Tunis,  eine  mehrmonatliche  Reise  im  nördlichen  Marokko  auf  theilweise  wenig  von  Euro- 
pftem  betretenen  Pfaden  gemacht,  u.  a.  den  kleinen  Ort  Ssefrü,  eine  Tagereise  südlich 
von  F&ss,  besucht,  die  Route  von  Miknäss  nach  Rabat  auf  dem  gleichen  Wege,  wie  seiner 
Zeit  Dr.  0.  Lenz,  zurückgelegt  und  die  Reise  von  Rabat  nach  Tetuan  auf  einem  ziemlich 
directen  Wege,  d.  h.  ohne  Tanger  zu  berühren,  gemacht.  In  gleicher  Weise  hat  Herr 
von  Oppenheim  auch  die  direkte  Route  von  Uasan  nach  Fäss  gemacht.  Ich  traf  mit 
ihm  in  Rabat  zusanmien. 


Eintheilung  und  Yerbreitung  der  BerberbeyÖlkenmg  in  Marokko.  129 

noch  8ohwi(»rigor,  als  andcTswo,  dio  Rassoii  f];oimu  ausrinandor  zu  halten. 
Icli  hal)(»  die»  bt^idon  genannton  Kabilen  ans  spratdilit'hen  Gründen  zu 
den  Brebern  gestellt,  allenfalls  würden  dahin  noch  die  Beni  Semilr 
gelleren,  von  denen  einzelne  Fraetion(»n  ^el-berbcTia*'  sprechen,  während 
anilere,  gleich  den  meisten  Stämmen,  dit»  das  Tadlagebiet  bewohnen,  ara- 
bisch sprechen.  Die  Ketaia  zi^rfallen  in  folgende  Fractionen:  Ssemget, 
Ait'Ala,  Ait  Hrahim,  Ait  Kerkait;  die  Ait  l|])a  in  Uled  Said,  Uled  Jussif, 
Suair.  Beni  Millal. 

Ischkern.     Diese  Kabila  kann  etwa  WHH)  Heiter  ins  Feld  stellen. 

Ait  Sseri.  Zerfallen  in  acht  Manptfractionen:  Ait  üirra,  Ait  Mham- 
med,  Ait 'Abd  el-Täli,  Friata,  Ait  el-IIabibi,  Ait  Maha,  Ait 'Abd  en-Nür, 
Ait 'Said.  Der  Stamm  besitzt  wenig  Pfenh»,  doch  stellt  er  zahlreiche 
Krieger  zu  Fnss. 

Ait  Atta  Umalu.  Der  kleine  .Stamm  kann  etwa  800  Krieger  zu  Fuss 
und  150  Reiter  stelh^n.  Der  berberische  Name  ^Umalu'',  eine  Genitivform, 
bedeutet:  Die  Ait  Atta,  w(dche  im  Schatten  wohnen,  d.  h.  auf  der  Nord- 
seite des  (Atlas-) Gebirges. 

Ait  Bu-Sid.  Gleichfalls  ein  kleinerer  Stiimm,  der  ungefähr  1000 
Krieger  zu  Fuss  und  300  Reiter  aufbringen  kann. 

Ait '  Aiad.   Kleiner  Stamm  mit  etwa  1000  Kriegern,  worunter  100  Reiter. 

Ait'Atab.  Können  etwa  1500  Bewaffnete  aufbringen,  unter  ihnen 
300  Reiter. 

Ait  Messat.  Eine  grosse  Tribus,  die  gegen  4500  Krieger  aufstellen 
kann,  worunter  5(K)  Reiter.  Sie  theilt  sich  in  fünf  Fractionen:  Ait  Ishak, 
Ait  MohamnuHi,  Ait  Ugudid,  Ait 'Ab<l- Allah,  Ibarajien. 

Ait  Madjin  (Masen  bcM  ForCAüLD). 

Ait  b  Lulli.  Diese  Schreibweise  des  Wortes^)  dürfte  der  auf  iler  Karte 
angegebenen  arabisirten  vorzuziehen  sein  -). 

2.    Südlich  vom  Atlasg«»birge. 

Imeiran.  Ein  grosser,  unabhängiger  Stamm,  welcher  gegen  3500 
Bewaffnete  stellen  kann. 

Askurn    (Ilaskura.  Skura).     Eine  starke  Tribus  mit  über  HH)  Kssor's. 

Ait  Ssedrät.  Dieselben  theilen  sich  in  zwei  Hauptfractionen :  Ait  Suli 
und  Ait  Mehelli,  deren  jede  etwa  20(M)  Krieger  ins  Fidd  stellen  kann. 
Di«»  Ait  Ssedrät  leben,  ausser  in  ihrem  eigenen  Distrikte,  auch  verstreut 
am  oberen   Draa  und  am  Uad  Dades. 


1 .  l^orlHriscliP  Gonitivfurin,  jrpt»il»lot  durch  Voransetzunjf  der  I^räposition  b  vor  das 
al.häii^'i^'«'  Siil»stantivuin.     VtTj;l.  IIanoteai:,  «iranunaire  Kal>yle,  S.  3^<. 

•J  In  d«iii  bj'iiachliartrii  I>istriklo  von  Kutifa  wohnen  drei  kleine,  der  Regrierung 
nt»ininell  unterworfene  Kahilen:  Ait  Abbas,  luktu,  Ait  Bu-Harasen,  welche  aber,  nach 
meinen  Informationen,  schilha  sprechen. 


1 30  M.  QuEDEKFEi  jyr :  Eintheilnng  und  Verbreitang  der  Berberbeyölkerung  in  Marokko. 

B.   Stämme  im  Centrum  des  Gebietes. 
Beni  Mtir. 

Beni    Mgill    (Mgild).      Zwei    mächtige    Stämme,    von    welchen    nach 
•        ROHLFS  —  wohl  zu  niedrig  angegeben  —  jeder  etwa  2000  Bewaffnete  ins 
Feld  stellen  kann. 

Ait  lussi.  Diese  starke  Kabila  zerfällt  in  drei  Hauptfractionen: 
Rejiraba,  Ait  Ilelli,  Ait  Messäud-u- Ali.  Der  Name  „lussi"  ist  corrumpirt 
aus  „lussifi";  der  Gründer  des  Stammes  hiess  lussif  Ben  Daud. 

C.    Stämme  im  östlichen  Theile  des  Gebietes. 

Ait  Scherroschen  (TscheAruscheii,  Stogruschen  u.  s.  w.),  auch  Imer- 
muschen  (Mermuscha)  oder  Uled  Mulai  'Ali  Ben 'Amor  genannt.  Zerfallen 
in  zwei  Gruppen,  die  durch  das  Mluia-Thal  getrennt  werden.  Die  nörd- 
liche Gruppe  bewohnt  die  Südabhänge  des  mittleren  Atlas,  die  andere 
den  Nordabhäng  des  grossen  Atlas  und  die  Dahra,  ein  ausgedehntes,  nur  mit 
Haifa  (Esparto-Gras)  bestandenes,  wasserarmes  Hochplateau,  welches  sich  bis 
nach  der  algerisclien  Provinz  Oran  hinüberzieht.  Die  nördliche  Fraction  ist 
sesshaft  und  kann  gegen  2000  Krieger  stellen;  die  südlichen  Ait  Scherro- 
schen sind  vorwiegend  Nomaden  und  verfügen  über  weit  mehr  als  3000 
Bewaflnete.  Diese  letztere  Gruppe  tlieilt  sich  in  neun  Fractionen:  Ait 
Said,  Ait  Bu-Ussäun,  Ait  Said-u-el-Uassin,  Ait  Ileddu-u-Bel-Hassin, 
Ait  Bu-Mirjam,  Ait  *Ali  Bu-Mirjam,  Ait  Bu-Uadfil,  Ait  Hussein,  Ait 
I  lammu  -  Bei  -  Hassin. 

Ait  Atta  und  Ait  lafelman.  Diese  beiden  mächtigen  Kabilen  werden 
unter  der  Bezeichnung  „Breber"  („Beräbir")  zusammengefasst,  worüber 
ims  FOUCAULD  S.  362  u.  a.  interessante  Aufschlüsse  giebt.  Der  Name 
ist,  wie  ich  bereits  erwähnte,  auf  die  ganze  Gruppe  mit  gleichem 
Dialekt  übergegangen.  Diese  „Breber"  im  engereu  Sinne  bilden  die 
mächtigste  Vereinigung  in  ganz  Marokko;  sie  mögen  an  30  000  Krieger 
aufstellen  können.  Die  Ait  Atta  theilen  sich  in  zwei  Hauptfractionen, 
die  Ait  Semru'i  und  Ait  Haschu,  deren  jede  wieder  in  zahlreiche  kleine 
Gruppen  zerfallt.  Die  Ait  lafelman  bilden  gleichfalls  eine  Anzahl  von 
Hauptfractionen  mit  vielen  Unterabtheilungen.  Ausser  den  von  FOUCAULD 
aufgeführten:  Ait  Isdigg,  Ait  lladidu,  Ait  lahia,  Ait  Mejirad,  Ait 'Ali -u- 
Brahim,  Ait  'Issa-Bu-Hamar,  Ait  Kratichssen,  Ait  Aiasch,  sind  mir  noch 
die  Ait  Sechöman  angegeben  worden.  Die  Ait  Uafelhi  sind  eine  Unter- 
fraction  der  Ait  Isdigg.  Die  grosse  Mehrzalil  dieser  Stämme  bewohnt  das 
weite  Gebiet  zwischen  dem  Atlas  und  Tafilelt  u.  s.  w.,  etwa  mit  dem  oberen 
Draa  als  Westgrenze.  Wandernd,  auf  Raubzügen  oder  auch  als  Escorte 
von  Karawanen  streifen  sie  bis  in  die  westlichen  Sudauländer,  Timbuctu, 
Ualäta  u.  s.  w.  Nördlich  vom  Atlas  und  in  diesem  Gebirge  sind  sie  spär- 
licher vertreten. 


Besprechungen.  131 


Besprechungen. 

[iitornatioiialeH  Aroliiv  für  Kthiio^rapliie,  herau8<i;(»geb(Mi  von  Dr.  KrisT. 
Bahnsen  in  Copenhaj^en,  Prof.  (lUIDO  COKA  in  Turin,  Ur.  0.  .1.  DOZY 
in  Xoonlwijk  hv\  Leiden,  Prof.  Dr.  K.  PeTRI  in  St.  Petersburg, 
J.  l).  K.  ScMIMELTZ  in  Leiden  und  Dr.  L.  SERRURIER  in  Leiden. 
Redaction:  .1.  D.  B.  Si'HMELTZ,  Conservator  am  ethnographischen 
Keiehsniuseuni  in  Ijeiden.  Verhig  von  P.  W.  M.  Trap,  Leiden;  Emest 
Leroux,  Paris:  Trübner  &  Co..  London:  0.  F.  Winter'sehe  Verlags- 
handlung. Lei])zig.     1S88.     4to. 

Nur  wcuipro  Wissonsrhaften  sind  in  einem  solchen  ^faasse  auf  die  gemeinsame  Arbeit 
aller  gebildeten  Nation«*n  angewiesen,  als  die  Ethnographie.  Ist  es  doch  nicht  Vielen 
vergönnt,  die  Schätze  fremder  Sammlungen  durch  eigenen  Augenschein  und  zeitraubendes 
Studium  >:enaiier  kennen  zu  lernen,  ganz  abgesehen  davon,  dass  manches  Stück,  welches 
weitgeh«*nde  ethnographische  Ausblicke  gestattet,  überhaupt  aus  dem  Besitze  fremder 
Vrdker  nicht  loszulösen  ist.  Wollen  wir  also  unsere  ethnographischen  Kenntnisse  zu  mög- 
lichster Abnindung  bringen,  so  bedürfen  wir  getreuer  Schildenmgen  in  Wort  und  Bild, 
denn  in  keinem  3Iuseum  der  Welt  finden  sich  die  Erzeugnisse  irgend  eines  Volkes  in  einer 
solchen  Vollständigkeit  vertreten,  dass  nicht  das  eine  oder  das  andere  Stück  aus  anderen 
Sammlungen  als  nothwendiges  und  erklärendes  Bindeglied  dazwischen  zu  treten  hätte. 
Was  aber  l>i>her  auf  diesem  (jel)iete  veröffentlicht  wonlen  ist,  das  unterlag  naturgemäss 
einer  unendlichen  Zersplitterung:  es  fand  sich  in  einer  endlosen  Zahl  von  ZeitiSchriften 
und  Monographi(M>u  zerstreut,  von  denen  dt*m  einzelnen  F<>rscher  viele  nur  mit  grosser 
Mühe,  andere  ülierhaupt  gamiclit  zugänglich  wurden.  Mit  grosser  Freude  und  mit  voll- 
berechtigten IIotTnungen  müssen  wir  daher  die  Gründung  eines  internationalen  Archivs 
für  Ethnographie  l»egrüssen,  in  welchem  jeder  wissenschaftliche  Arbeiter  je  nach  seinem 
Belieben  in  deutsrhtT.  h«dlündischer,  französischer  oder  englischer  Sprache  die  Ergebnisse 
seiner  Forschungen  niederlegen  kann. 

Für  die  (Jedie^enheit  und  Lebensfähigkeit  des  neuen  Unternehmens  bürgen  einerseits 
die  Herausgeb»»r  und  nam»*ntlich  der  dunh  den  clas»isch«*n  ('atah)g  des  Museums  Godeffroj 
bekannt''  Rfdarteur.  andererseits  die  ausserord^'utlich  grosse  Anzahl  derjenigi»n.  welche 
der  neut'u  Zfitscjjrift  ihre  Mitarbeitt-rschaft  zugesagt  habi'U  und  von  denen  ein  nicht 
geringer  Theil  tiurch  seine  Lebensstellung  so  recht  mitten  in  der  Fülle  des  wissenschaft- 
lichen Materials  steht  Dass  es  gerade  Leiden  ist,  von  wo  das  internationale  Archiv  für 
Ethn<»^ra])bie  seiiu'U  Ausgang  nimmt,  das  hat  auch  seine  volle,  man  möchte  sagen,  seine 
g»*Nchirhtlirhe  B«'re(htigun^'.  War  es  doch  Leiden,  von  wi>  in  den  40er  Jahren  durch  die 
A»fst«'lhmg  drr  jai)anis«hen  Sammlung  v.  Siebold's  drr  Ansti»ss  gegeben  wurde  zu  that- 
kräftigt'r  ('tlin<>gra{)hisrb<'r  Ftirschung;  bc{>:ann  man  doch  jetzt  erst  allmählich  die  Einsicht 
zu  ^«'winncn.  dass  nicht  philosi»phisch(>  Speculationen,  sondern  nur  ein  ernstes,  syste- 
matisches Sainineln  und  «'in  genauem,  man  kann  wohl  sagen,  naturwissenschaftliches  Studiiun 
der  einzein«*u  <n»grnNtlhide  unsere  Kenntniss  der  Ethnographie  zu  fordern  vennag.  Diese 
«aiialytixh«*  Kllmographi«*-  ist  es  g«'ra«le,  welche  die  in  zweimonatlichen  (.^uartheften 
er.s«h»'in«'n«le  neiu'  Zeitschrift  zu  pflej^en  l>ea}»sichtigt.  Das  erste  Heft  führt  uns  auf  seinen 
[\'2  Seiten  mit  20  FigJiren  im  Tt*xte  und  l\  sehr  s<*hön  ausgeführten,  reichen  Farbentafeln 
eint II  Vefsiirb  einer  Sy>teniatik  der  Neu- Guinea -Ffeile  von  Hm.  Serrurier  und  Mit- 
theilungen über  di'U  Maudau,  die  eigenthümliche  Hiebwaffe  der  Dajaken  von  Koetei,  seine 
Verfertigung,  seine  Ausschmmtkung  und  seine  Rangesabzeichen  von  Hrn.  Tromp,  dem 
früheren  Residenten  von  Koetei,  vor.    Dann  folgen  kleinere  Abschnitte  unter  den  Titeln: 


132  Bespreclrangeii. 

Kleine  Notizen  und  Correspondenz,  Sprechsaal,  Museen  und  Sammlungen,  Bibliographische 
TJebersicht,  Büchertisch,  Reisen  u.  s.  w.  Für  die  nächsten  Hefte  sind  Abhandlungen  in 
Aussicht  genommen  von  Büttikofer  (Leiden):  üeber  die  eingeborenen  Stämme  der  Neger- 
republik Liberia;  Langkavel  (Hamburg).  Pferde  und  Naturvölker;  Martin:  Ri^sume  des 
acquisitions  du  musee  d'Ethnographie  a  Stockholm  pendant  les  ann6es  1881 — 87;  Bahnson: 
Das  Königl.  ethnographische  Museum  in  Kopenhagen;  Schmoltz:  Nachträge  zu:  Die 
ethnographisch -anthropologische  Abtheilung  des  Museum  Godeffroy;  Schmeltz:  Südsee- 
Reliquien;  Woldt  (Berlin):  die  Cultusgegenstände  der  Golden  und  Giljaken;  vonLuschan: 
die  Sammlungen  von  Cook  und  Forster  im  Berliner  Museum  für  Völkerkunde:  von 
Luschan:  Das  türkische  Schattenspiel;  Ten  Kate:  Ethnographische  Gegenstände  aus 
Surinam;  Harmsen:  lieber  einige  Battah- Kalender;  Helfrich,  "Winter  und  Schiff: 
het  Hassan- Hussein  of  Taboetfeest  te  Benkoelen;  Parkinson:  Beiträge  zur  Ethnologie 
der  Gilbert -Insulaner;  Schoor  (Leeuwarden) :  Mdmoires  sur  Torigine  des  terpes  Frisones 
(Habitations  lacustres).  Es  werden  diese  Angaben  genügen,  um  die  Reichhaltigkeit  des 
gebotenen  Stoffes  zu  ermessen.  Wir  wünschen  dem  neuen  Unternehmen  eine  recht  rege 
Theihiahme  und  ein  recht  glückliches  Weitergedeihen.  Max  Bartels. 


Oscar  Baumann.  Eine  afrikanische  Tropen -Insel:  Fernando  Pöo  und 
die  Bube.  Mit  16  Dlustrationen  und  einer  Originalkarte.  Wien  1888. 
VI.  145.     (M.  5.) 

„Das  dritte  Zeitalter  der  Entdeckungen  naht  sich  seinem  Ende'',  so  äusserte  sich  der 
Vorsitzende  der  Gesellschaft  für  Erdkunde  in  deren  ersten  diesjährigen  Sitzung.  Dieser 
Satz  ist  gewiss  richtig,  wenn  man  unter  ^Entdeckungen''  das  zufällige  oder  beabsichtigte 
Auffinden  von  Festlanden  und  Inseln,  von  bisher  unbekannten  Hochgebirgen  Strömen, 
Seen  u.  s.  w.  versteht.  Mit  demselben  Recht  darf  aber  wohl  auch  behauptet  werden,  dass 
gerade  heute  das  Zeitalter  der  intensiveren,  der  auf  begrenzte  grössere  oder  kleinere 
Länder  und  Inseln  sich  beschränkenden  Entdeckungsreisen  gekommen  ist.  Die  Periode 
der  Weltumsegelungen,  Durchquer ungen  u.  s.  w.  liegt  hint«r  uns,  wir  nähern  uns  dem  Zeit- 
alter der  Einzelbeschreibungen. 

Dass  es  noch  Vieles  in  der  Welt  zu  entdecken  giebt,  und  zwar  durchaus  nicht  etwa 
im  centralen  Australien  oder  Afrika  allein,  sondern  auch  in  Ländern,  bezw.  Inseln,  die 
von  Europa  aus  in  wenigen  Tagen  auf  Dampfern  zu  erreichen  sind,  dafür  liefert  die  vor- 
liegende, bei  gediegenstem  Inhalte  flott  geschriebene  und  sehr  gefällig  ausgestattete  Arbeit 
des  österreichischen  Forschers  Dr.  Oscar  Baumann  den  besten  Beweis. 

Fernando  Po  ist  seit  416  Jahren  von  Europäern  entdeckt  und  steht  seit  ungefähr  der- 
selben Zeit  unter  europäischer  Herrschaft  und  Verwaltung.  Dennoch  leben  heute,  nur  wenige 
Meilen  von  der  Küste  entfernt.  Tausende  von  Eingeborenen,  die  nicht  nur  nichts  von  dem 
Vorhandensein  eines  Königs  von  Spanien  wissen,  sondern  die  nie  in  ilirem  Leben  jemals 
einen  Weissen  gesehen  haben.  Wie  der  Verfasser  sagt,  hat  er  auf  dieser  kleinen  Insel 
des  dampferdurchfurchten  Guineameeres  des  Neuen  und  Interessanten  in  anthropologischer, 
ethnographischer,  geographischer,  kurz  in  jeder  Beziehung  viel  mehr  gefunden,  wie  jemals 
im  centralafrikanischen  Kongogel)iete. 

Wir  können  uns  beglückwünschen,  dass  Dr.  Baumann  sich  an  den  StanleyfTillen  von 
Prof.  Lenz  trennte  und,  statt  denselben  auf  der  in  mancher  Beziehung  vielleicht  dank- 
bareren, jedenfalls  aber  ruhmreicheren  Afrikadurchkreuzung  zu  begleiten,  sich  von  der 
Westküste  nach  Sta.  Isabel,  dem  Hafen-  und  Hauptorte  von  Fernando  Po,  einschiffte,  um 
von  dort  während  einer  beinahe  zwei  Monate  langen  Fussreise,  bei  beschränkten  Mitteln 
recht  bescheiden  ausgerüstet,  die  bisher  beinahe  vollkommen  unbekannte  Insel  zu  erforschen. 
Ein  nie  versiegender  Humor  und  ein  ausserordentliches  Talent,  mit  Eingeborenen  zu  ver- 
kehren, haben  ihm  über  alle  Gefahren  und  Beschwerden  hinweggeholfen. 

In  den  ersten  drei  Kapiteln  schildert  uns  Bau  mann  seine  Route,  auf  welcher  er  die 
Insel  von  Norden  nach  Süden  und  von  Westen  nach  Osten  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung 
durchkreuzte,  stets  bestrebt,  durch  Besteigung  von  Berggipfeln  sich  möglichst  zu  orientiren. 


BesprAchnngen.  133 

Das  geographische  flrgebniss  der  Reise,  die  dem  Buche  beigegebene  Karte,  ist  jedenfalls 
die  beste,  die  heute  von  Fernando  Po  vorhanden  ist. 

Vom  vierten  Abschnitte  an  wird  die  Stellung  der  Insel  in  der  Vulkankette  des  Guinea- 
meeres, die  Fauna.  Flora  derselben,  sowie  ihr  so  übel  berüchtigtes  Klima  besprochen. 
Ueber  letzteres  bemerkt  der  Verfasser:  ..Im  Allgemeinen  lässt  sich  sagen,  dass  Fernando 
P(So,  wenn  auch  nicht  viel  besser,  so  doch  unbedingt  nicht  schlechter  für  die  Gesundheit 
des  Europ&ers  ist,  als  andere  Plätze  an  der  Westküste  Afrika^s.  Ich  selbst  war  auf  dem 
viel  gepriesenen  oberen  Kongo  durch  Dysenterie  dem  Tode  nahe  und  habe  mir  bei  ruhiger 
Lebensweise  in  Kamerum  ein  schweres  hämaturisches  Fieber  geholt.  Während  meiner 
Wanderungen  in  Femando  Poo  dagegen,  wo  ich  täglich  durchnässt  wurde,  oft  im  Freien 
campiren  musste  und  auf  eingeborene  Nahrung  beschränkt  war,  erfreute  ich  mich,  kleine 
Unwohlsein  abgerechnet,  der  besten  Gesundheit " 

Das  fünfte  und  sechste  Capitel  beschäftigen  sich  ausschliesslich  mit  den  eigenartigen 
Eingeborenen  der  Insel,  den  Bube.  Verfasser  betont  deren  Gegensatz  zu  den  Dualla  von 
Kamerun  und  hält  es  für  fast  zweifellos,  dass  die  ersten  Entdecker  schon  Vertreter  der- 
selben Rasse  auf  der  Insel  vorfanden.  Er  schätzt  deren  Zahl  heute  auf  20— '25  000;  der 
Sprache  nach  gehören  sie  zu  den  Bantuvölkem,  ein  Negertjpus  ist  bei  ihnen  kaum  hervor- 
tretend. Das  Anfertigen  von  Zeugen  oder  Matti'n  ist  ihnen  unbekannt,  ebenso  wie  die 
Cultur  des  Maniok.  Sie  verstehen  es,  sich  durch  Signale  auf  einer  Pfeife  auf  weite  Ent- 
fernungen zu  verständigen. 

Ueber  die  religiösen  Anschauungen  der  von  ihm  besuchten  Stämme  enthält  sich  der 
Verfasser,  im  Gegensatz  zu  manchen  anderen  ^ Afrikareisenden*',  ausdrücklich  jeglichen 
Urtheils. 

In  den  beiden  Schlussabschnitten  werden  die  Geschichte  der  Insel,  die  gesellschaft- 
lichen Verhältnisse  ihrer  heutigen,  «civilisirten"  Bewohner  u.  s.  w.  behandelt.  Auch  diese 
Kapitel  werden  dem  jugendlichen  Verfasser,  -  vielleicht  abgesehen  von  einigen  Betbrüdern, 
Prohibitionisten ,  Anti-Slavery- Schwärmern  und  ähnlichen  Herren,  —  nur  Freunde 
gewinnen.  — 

Zum  Schlüsse  möchte  sich  Referent  noch  eine  kurze  Bemerkung  über  die  Schreib- 
weise «Fernando  Pöo"  erlauben.  Dr.  Bau  mann  bat  dieselbe  gewählt,  weil  sie  die  heute 
officielle  spanische  ist.  Demnach  müssten  die  Spanier  das  Wort  .,P6-o*^  aussprechen. 
Das  thun  sie  aber  nicht,  sondern  sie  nennen  die  Insel  wie  Jodermann  ^Fernando  Pö*",  und 
darum  dürfte  die  Schreibart  ,P6o"  unrichtig  sein,  trotzdem  sie  officiell  ist.  Der  Ent- 
decker hiess,  so  viel  Referenten  bekannt  ist,  Femam  do  Po  („Ferdinand  Staub**  oder  „von" 
Staub).  Dass  hieraus  sehr  bald  ^Fernando  Po""  wurde,  ist  leicht  erklärlich.  Ramusio 
(1663  I.  p.  13)  schreibt  allerdings  «Femando  da  Poo-,  indess  dürfte  ^da-  auf  jeden  Fall 
unrichtig  sein.  Die  englischen  Karten  verzeichnen  durchgehend  „P6",  vielleicht  um  zu 
verhüten,  dass  der  Engländer  das  Wort  ,,Poo"  wie  ,,Puh"  ausspräche.  Jedenfalls  liegt  die 
Sache  heute  so,  dass  entweder  die  Herren  der  Insel  einen  Fehler  machen,  indem  sie 
«P6o"  schreiben,  oder  aber  die  Söhne  der  Insel  sprechen  deren  Kamen  falsch  aus. 

Auch  der  von  Dr.  Bau  mann  gewählte  Name  „S'/o  Thomo"  erscheint  nicht  unanfecht- 
bar. Der  Venezianer  Ramusio  J..  p.  113  E.  F.)  schreibt  zwar  ebenfalls  „San  Thome". 
Welcher  Nation  soll  aber  dieser  „lieilige  Thome"  angehören?  Einer  europäisch -romanischen 
wohl  schwerlich,  denn  ,,Thomas",  wie  die  Engländer  wiederum  ganz  richtig  schreiben» 
heisst  auf  spanisch:  „Tomas",  portugiesisch:  „Thomas'*,  italienisch:  „Tommaso"  u.  s.  w. 
Die  portugiesischen  Behörden  schreiben  und  drucken  allerdings  auch  ,,S.  (d.  h.  Soo)  Thomö", 
indess  wird  dadurch  noch  nicht  bewiesen,  dass  diese  Schreibart  richtig  ist.  „Anno  hon** 
(S.  71  und  111)  ist  jedenfalls  nicht  richtig;  das  Wort  muss  .^nno  bom"  geschrieben 
werden.  W.  J. 

Joachim  Graf  Pfeil.     Vorschläge    zur    praktischen   Kolonisation    in   Ost- 
Afrika.     Berlin,   Rosenbaum  &  Hart.     1888.     8.     79  S. 
Die    kleine    Schrift    stellt    sich    als   das   colonialpolitische   Testament   des  Verfassers, 
wenigstens   in  Bezug   auf  Ostafrika,   dar.    Angesichts    des   neuen  Landes,   in  welchem  er 
von  jetzt  an  seine  colonisatorischen  Fähigkeiten  entfalten  boll,  aus  der  Torres- Strasse,  hat 


134  B^sprechnngeii. 

er  die  Vorrede  geschrieben.  In  3  längeren  Kapiteln  bespricht  er  den  deutschen 
Besitz  in  Ostafrika,  die  verschiedenen  möglichen  Formen  der  Kolonisation,  die  Leistungs- 
fähigkeit des  afrikanischen  Bodens  und  die  Verwerthung  der  Neger  zur  Arbeit  in  recht 
nüchterner,  objektiver  Weise.  Ein  Zweifler  könnte  daraus  ungezwungen  den  Schluss 
ziehen,  dass  die  Kolonisation  von  Ostafrika  ein  unmögliches  Problem  sei.  Indess  im 
letzten  Kapitel  bringt  der  Verfasser  «Vorschläge  zur  praktischen  Kolonisation  OstÄfrikas." 
Ob  er  diesen  Titel  absichtlich  gewählt  hat  statt  der  zu  erwartenden  -praktischen  Vorschläge 
zur  Kolonisation  Ostafrikas",  wird  je  nach  dem  Standpunkte  der  Leser  verschieden  beant- 
wortet werden.  Verfasser  ist  der  Ansicht,  dass  der  Neger  ohne  Zwang  nicht  zum  Arbeiter 
zu  erziehen  ist;  da  er  sich  aber  überzeugt  hat,  dass  eine  staatliche  Verwaltung  für  Ost- 
afrika nichts  taugen  und  die  Unterhaltung  einer  eigenen  Militärmacht  unausführbar  sein 
würde,  dass  namentlich  durch  Schutzzölle  ein  genügendes  finanzielles  Aequivalent  für  die 
erforderlichen  Ausgaben  zur  Unterhaltung  einer  «Exekutivmacht**  nicht  zu  erzielen  wäre, 
die  förmliche  Sklaverei  aber  auszuschliessen  ist.  so  gelangt  er  zu  einem  sehr  complicirten 
Systeme  von  Vorschlägen,  von  denen  in  der  That  schwer  anzunehmen  ist,  dass  sie  sich 
als  praktisch  bewähren  würden.  An  die  Spitze  stellt  er  die  Forderung,  dass  die  Arbeits- 
kraft des  Negers  gegen  entsprechenden  Lohn  in  Anspruch  genommen  werde.  Zu  diesem 
Zwecke  soll  dem  Neger  ein  bestimmter  Aufenthaltsort  (Location)  vorgeschrieben  werden, 
in  dem  er  seinem  eigenen  Feldbau  nach  Gewohnheit  obliegen  kann,  aber  zugleich  unter 
Controle  (Oberaufsicht)  gestellt  wird.  Für  den  Fall  -sonst  nicht  mit  Erfolg  zu  bekämpfen- 
der dauernder  Widersetzlichkeit **  will  Verfasser  sich  der  Hülfe  von  Stämmen,  welche  wegen 
ihrer  Kriegstüchtigkeit  in  Ansehen  stehen,  versichern.  Endlich  sollen  für  die  Locationen 
Handelsconcessionen  ertheilt  werden  unter  der  Bedingung,  dass  nur  Handelsartikel  deut- 
schen Ursprunges  eingeführt  werden,  und  es  soll  den  in  Arbeit  befindlichen  Schwarzen 
eine  Abgabe  auferlegt  werden.  Wie  leicht  ersichtlich,  culminirt  dieses  System  in  der 
Constituirung  kriegstüchtiger  Stämme  als  «Exekutivmacht**.  Verfasser  theilt  in  dem  Vor- 
wort mit,  dass  er  auf  diese  Idee  durch  seine  Berührung  mit  den  Mahenge  gekommen  ist, 
welche  ihn  ^fortwährend  aufforderten,  ihnen  zu  helfen,  andere  Stämme  zu  bestrafen,  wofür 
sie  sich  erboten,  ihm  nach  Unterwerfung  derselben  eine  Anzahl  Sclaven  zu  geben,  um  in 
ihrem  Lande  einen  permanenten  Wolmsitz  einzurichten.**  Von  diesem  Plane  bis  zu  der 
hoffnungsvollen  Schwärmerei  des  Verfassers,  .ein  kriegsfreies  Gebiet  zu  schaffen,  in 
welchem  wir  solche  Dörfer,  welche  sich  unseren  Maassnahmen  unterwerfen,  ansiedeln"*, 
ist  freilich  kein  weiter  Schritt,  aber  wodurch  sich  die  Bewohner  dieser  Dörfer  von  Sclaven 
unterscheiden  würden,  möchte  schwer  zu  sagen  sein.  Denn  der  „kriegsfreie -  Zustand 
würde  wohl  nicht  anders  herzustellen  sein,  als  durch  blutige  Kriegs-  und  Raubzüge,  und 
die  -Unterwerfung  unter  unsere  Maassnahmen**  würde  sicherlich  nichts  weniger  als  ein 
Akt  der  Freiwilligkeit  sein.  Ob  ein  derartiger  Vorchlag  jemals  zur  Grundlage  eines  prak- 
tischen Versuchs,  die  ostafrikanische  Frage  zu  lösen,  gemacht  werden  wird,  steht  sehr 
dahin.  Jedenfalls  dürfte  die  Lektüie  des  Buches,  das  von  einem  lange  in  Ostafrika  thätig 
gewesenen  und  der  Colonisationsidee  in  höchstem  Maasse  zugeneigten  Manne  geschrieben 
ist,  manchen  Enthusiasten  abkühlen.  Rud.  Virchow. 

Emil  Schmidt.  Dio  ältesten  Spuren  des  M(»n8chen  in  Nordamerika.  Samm- 
lung gemeinverständlicher  wissenschaftlicher  Vorträge  von  R.  VJRCHOW 
Fr.  V.  HOLTZENDORFF.  Hamburg,  J.  F.  Richter,  1887.  Neue  Folge, 
zweite  Serie,  Heft  14/15. 

Rasmus  B.  Anderson.  Die  erste  Entdeckung  von  Amerika,  übersetzt  von 
M.Mann.     Ebendascdbst  1888.     Dritte  Serie,  Heft  49/50. 

Vorstehend  genannte  beide  Vorträge  beziehen  sich  auf  die  vorkolumbische  Zeit  des 
neuen  Kontinents,  denn  die  von  Hm.  Anderson  erörterte  erste  Entdeckung  betrifft  die 
Seefahrten  der  Skandinavier,  welche  nach  der  Auffassung  des  Verfassers  Columbus  bekannt 
waren  und  die  Grundlage  seiner  Pläne  bildeten.  Die  einzelnen  Vorgänge  werden  aus- 
führlich geschildert  und  die  Orte  der  damaligen  Landungen  möglich  präcisirt. 


Besprechaof^en.  135 

Von  besonderem  Werthe  ist  die  sorgfaltige  Arbeit  des  Hm.  E.Schmidt,  der  mit 
philologischer  Genauigkeit  Alles  gesammelt  hat,  was  bis  jetzt'  an  Zeugnissen  für  die 
Hesohaffenheit  des  prähistorischen  (nicht  des  präcoiunibischen)  Menschen  in  Nordamerika 
vorhanden  ist.  Die  unsicheren  und  zweifelhaften  Funde  werden  zurückge¥ne8en;  trotzdem 
bl«»il>t  ein  reiches  Material,  welches  die  Existenz  des  Menschen  in  der  Quartftrzeit  (Diluvium) 
bewiist.  Aber  der  Verfasser  geht  weiter.  Er  vertheidigt  auch  die  Richtigkeit  der  An- 
gaben über  die  Existenz  des  tertiären  Menschen,  namentlich  unter  den  vulkanischen  Tuften 
(Kaliforniens.  Sicherlich  sind  seine  Mittheiluugen  in  hohem  Grade  beachtenswerth.  Das 
Einzige,  was  man  gegen  ihre  Beweiskraft  anführen  kann,  ist  der  Umstand,  dass  alle  diese, 
wie  es  scheint,  dem  Pliocen  angehörigeu  Funde  zufällig  gemacht  vorden  sind  und  meist 
in  die  Hände  unachtsamer  oder  mangelhaft  vorbereiteter  Männer  fielen.  Es  ist  gewiss 
sehr  zu  bedauern,  dass  an  den  genügend  bekannten  Fundstellen  keine  planmässig  geleiteten 
Nachforschungen  veranstaltet  worden  sind,  aber  auch  so  wird  man  zugestehen  müssen 
dass  unter  allen,  der  Tertiärzeit  zugeschriebenen  Funden  von  menschlichen  Resten  oder 
Erzeugnissen  menschlicher  Arbeit  die  califomischen  den  ersten  Rang  einnehmen. 

RüD.  ViRCHOW. 


Jakob  HEIERLI.     Pfahlhauten.    Neunter  Bericht.    Mittheilungen  der  Anti- 
quarischen Gesellschaft  in  Zürich.   Leipzig  1888.  4.  66  S.  mit  21  Tafeln. 

Der  vorliegende  Bericht  schliesst  sich  den  berühmten  8  Heften  an,  in  welchen 
F.  Keller  die  älteren  Pfahlbaufunde  in  mustergültiger  und  für  alle  Zeit  bedeutungsvoller 
Weise  geschildert  hat.  Der  Verfasser  hat  sich  in  ausgiebigster  Ausdehnung  der  Mit- 
wirkung der  erfahrensten  und  zuverlässigsten  Forscher  versichert,  wie  des  Hm.  Leiner 
für  die  Stationen  des  Bodensees,  des  Hm.  v.  Fellenberg  für  die  Gebiete  der  Jurawasser- 
Korrektion  und  den  Bieler  See,  des  Hrn.  V.  Gross  für  den  letzteren  und  einige  Nachbar- 
stationen, des  Hm.  Forel  für  den  Genfer  See,  u.  A.  m.  Es  ist  damit  eine  authentische 
Uebersicht  dieser  wichtigen  Funde  hergestellt  worden,  die  um  so  mehr  als  dankenswerth 
bezeichnet  werden  muss,  als  wenigstens  ein  grosser  Theil  der  Stationen  als  erschöpft  oder 
doch  für  lange  Zeit  nicht  mehr  zugänglich  bezeichnet  werden  nmss.  Der  Gedanke,  dass 
dieser  Bericht  überhaupt  der  letzte  sein  werde,  ist  trotzdem  vielleicht  nicht  ganz  zutreffend, 
denn  auch  die  letzten  Jahie  haben  wieder  manche  neue  Fundstelle  kennen  gelehrt,  so 
namentlich  am  Bodensee.  bei  Zürich  und  am  Murtener  See,  —  eine  Erfahmng,  die  um 
so  tröstlicher  erscheint,  als  jede  spätere  Untersuchung  mit  neuen  Gesichtspunkten  an  die 
Forschung  herantritt  und  positive  Erweitemngen  des  Wissens  an  })isher  unbeachtetem 
Material  ergiebt.  Es  mag  zur  Erläutemng  dieses  Satzes  nur  an  die  zahlreichen  Kupfer- 
funde erinnert  werden,  von  denen  der  vorliegende  Bericht  vortreffliche  Beispiele  in  grosser 
Zahl  beibringt.  Dadurch  gewinnt  die  chronologische  Klassifikation  der  einzelnen  Stationen 
nach  und  nach  eine  früher  ungeahnte  Sicherheit,  und  es  wird  immer  mehr  ermöglicht, 
die  Parallelen  und  die  inneren  Beziehungen  der  schweizerischen  und  süddeutschen  Pfahl- 
bauten mit  gewissen  Landansiedelungen  und  Gräberstätten,  sowie  mit  den  Pfahlbauten  der 
Nachbarländer  aufzusuchen. 

Ein  empfindlicher  Mangel  in  dem  Berichte  ist  die  rein  archäologische  Methode  der 
Darstellung,  welche  von  den  schönen  Vorbildem,  welche  Keller  geliefert  hat,  erheblich 
abweicht.  Von  der  doch  so  zahlreichen  Fauna  der  Pfahlbauten  ist  nur  gelegentlich,  von 
den  menschlichen  Ueberresten  eigentlich  gar  nicht  die  Rede,  und  doch  ist  davon  nicht 
nur  ein  r»*cht  erhebliches  Material  gesammelt  worden,  sondern  es  hat  auch  die  Bearbeitung 
dessellx'n  wichtige  (jesichtsj)unkte  für  die  damaligen  Völkerbewegungen  ergeben.  Aber 
es  wird  wohl  n<M"}i  lange  dauem,  ehe  die  Bedeutung  der  zoologischen  und  anthropolo- 
gischen Fundstücke  in  das  Bewusstsein  selbst  der  eigentlichen  Forscher  übergeht. 

Trotz  dieses  Mangels  wird  das  Erscheinen  des  so  reich  ausgestatteten  Berichtes  aller- 
seits mit  Freude  und  Au«»rkennung  l)egrüsst  werden.  Möge  es  den  schweizer  Forschem 
bescliii'den  s«Mn.  n-cht  bald  einen  neuen  Bericht  dem  jetzigen  folgen  lassen  zu  können. 

KuD.  ViRcnow. 


136  BesprechnngeiL 

Baron  WiLH.  V.  LANDAU.     Travels  in  Asia,  Australia  and  America.     P.  1. 
New  York,  London  1888.     16.     80  S. 

Verfasser  giebt  in  der  kleinen  Sclirift  eine  gedrängte  Uebersicht  seiner  8jährigen 
Reisen  «in  verschiedenen  Theilen  unseres  Planeten",  welche  sich  meist  nicht  über  die 
kürzesten  Aufzeichnungen  eines  Notizbuches  erheben,  welche  aber  zahlreiche,  für  den 
Touristen  recht  nutzliche  Angaben  über  Oertlichkeiten  und  namentlich  über  Personen  ent- 
halten. Der  einzige  Abschnitt,  welcher  etwas  mehr  ins  Einzelne  geht,  behandelt  die  auf 
Veranlassung  von  Berliner  Gelehrten  unternommene  Reise  in  die  nördlichen  Provinzen 
von  Luzon  (p.  53 — 80),  die  freilich  keine  entscheidenden  Ergebnisse  geliefert  hat,  da  dem 
Verfasser,  wie  er  angiebt.  die  Ethnologie  bis  dahin  eine  terra  incognita  war.  Er  machte 
die  Reise  in  Gesellschaft  des  Hm.  A  u  und  mit  besonderen  Empfehlungen  des  Commandeurs 
der  Guardia  civil,  Hm.  Scheidnagel,  dessen  Schriften  über  die  Philippinen  und  speciell 
über  Benguet  er  lobend  hervorhebt  Im  Laufe  von  4  Monaten  dehnte  er  seine  Reise  über 
den  ganzen  Nordosten  von  Luzon,  namentlich  über  die  Provinzen  Nueva  Ecija,  Nueva 
Viscaja,  Isabel,  Saltan  und  Cagajan  aus.  Die  verschiedenen  Stänmie,  welche  diese  Pro- 
vinzen bewohnen,  schildert  er  abweichend  von  den  Angaben  des  Hm.  Blumentritt,  dem 
gegenüber  er  auch  wesentliche  Abweichungen  in  den  Wohnsitzen  der  einzelnen  Stämme 
bezeichnet.  Negritos  sind  hier  überall  zerstreut,  jedoch,  wie  es  scheint,  in  geringer 
Anzahl.  Er  erwähnt  speciell  einen  Stamm  derselben,  genannt  Balugas  oder  Dumagas, 
südlich  und  westlich  von  Buler  an  der  Ostküste,  Provinz  Principe:  eine  andere  Negrito- 
Gegend  ist  bei  Maines  und  Apagaos  im  Südwesten  der  Provinz  Cagayan,  wo  er  speciell 
angiebt,  dass  sie  sich  mit  Igorroten  nicht  verheirathen.  Zu  beiden  Seifen  des  Carabalho 
Sur  (auf  der  Grenze  der  Provinzen  N.  Ecija  und  N.  Viscaya)  sitzen  Ibilaos  oder  Ilongotes 
bis  zur  Ostküste,  wo  sie  (in  Cassiguran)  Ipogaos  genannt  werden.  Die  Ibilaos  sind  ein 
wilder,  nur  hier  und  da  mehr  harmloser  Stamm,  der  Ackerbau  treibt  und  in  Monogamie 
lebt  und  dessen  Glieder  häufig  schöne,  klassische  Gestalt  und  imponirende  Körperkraft 
besitzen.  Sie  begraben  ihre  Todten  in  der  Nähe  ihrer  Häuser,  an  dem  Ufer  eines  Flusses. 
Ihre  Sitze  reichen  bis  in  die  Nähe  von  Bombang.  Hier,  in  Sau  Nino,  machte  der  Verfasser 
Ausgrabungen  und  sanmielte  einige  Schädel  und  Knochen,  welche  an  den  Referenten 
geschickt  wurden.  Letzterer  hat  darüber  in  der  Sitzung  der  Berliner  anthropologischen 
Gesellschaft  vom  21.  Juli  1883  (Vcrhandl.  S.  395}  berichtet,  glaubte  sie  aber  damals  als 
Schädel  von  Igorroten  ansprechen  zu  müssen.  Dies  wäre  also  nunmehr  zu  corrigiren,  wobei 
jedoch  zu  bemerken  ist,  dass  auch  nach  dem  Verfasser  die  Sitze  der  Igorroten  gleichfalls 
bis  in  diese  Gegend  reichen.  ^Die  Ibilaos  tragen  ihr  langes  Haar  in  einem  Zopf  (switch) 
um  den  Kopf,  wie  die  Chinesen:  ihre  Gesichtstypen  variiren  von  dem  ächten  breiten 
Gesicht  des  Chinesen  mit  vortretenden  Wangenbeinen  bis  zu  der  ovalen  Form  der  kau- 
kasischen Rasse*"  (p.  6Ü).  Bombang  ist  nach  der  Ansicht  des  Verfassers  der  Mittelpunkt 
des  grossen  Erdbebens  gewesen,  das  1881  einen  grossen  Thcil  der  Provinz  N.  Viscaya 
erschütterte.  Schon  südlich  von  dieser  Stadt  beginnen  die  Ansiedelungen  der  eigentlichen 
Igorrotes,  welche  von  der  grossen  Cordillere  im  Westen  und  vom  Rio  Agno  eingewandert 
sein  sollen;  sie  seien  den  Igorroten  des  Benguet  durch  die  Breite  der  Gesicliter  und  die 
Flachheit  der  Nasen  sehr  ähnlich.  Eine  andere  Gruppe  der  Igorrotes,  die  Gaddanes, 
welche  im  letzten  Jahrhundert  von  Saltan  her  einwanderten,  sitzt  in  der  Ebene  bis  zu  den 
Bergen  von  Quiangan  und  Silipan;  eine  dritte,  etwa  30000  Köpfe  stark,  wohnt  in  Quiangan, 
Silipan  imd  Mayoyaos.  Ihre  nördlichen  Nachbarn,  die  Peru gianes,  ein  anderer  Igor- 
roten -Stamm,  lebt  mit  ihnen  in  steter  Fehde.  Auch  die  Namen  Ifugaos  (im  Gaddan- 
Dialekt)  und  Calinga  bedeuten  wilde,  nicht  getaufte  Igorrotes.  Entgegen  Blumentritt 
behauptet  der  Verfasser,  dass  das  ganze  linke  Ufer  des  Rio  Cagayan  von  Igorroten 
bewohnt  werde,  die  in  20  oder  2*2  Unterstämme  zerlegt  würden.  Von  ihnen  stammen  die 
Schädel,  welche  Hr.  H.  Meyer  von  seiner  Reise  zurückgebracht  hat  (a.  a.  0.  S.  3*.)1). 

RuD.  ViRCnow. 


III. 


Der  Ursprung  der  Stadt  Zürich, 


von 


JAKOB  HEIERU 

in  Zürich. 
(Hierzu  Tafel  II— V.) 


Julius  Cäsar  spricht  von  Dörfern  und  Städten,  welche  die  Helvetier 
verbrannt  hätten  bei  ihrem  Auszug  nach  Gallien.  Sollte  nicht  auch  Zürich 
darunter  gewesen  sein?  Es  lassen  sich  ja  zahlreiche  Beweise  für  eine 
vorrömische  Bevölkenmg  am  unteren  Ende  des  Zürichsees  erbringen. 
Dr.  F.  Keller  zeigte,  dass  die  Kuppe  des  Uetliberges  schon  vor  der 
Bes(»tzung  llelvetiens  durch  die  Römer  als  Refugium  gedient  hatte,  und 
zahlreiche  (iräber  weisen  ebenfalls  auf  jene  Vorzeit  zurück,  so  die  Hügel- 
ji^räber  im  Burghölzli,  deren  EröfiFhung  Ursache  zur  Gründung  der  Anti- 
quarischen (lesellschaft  wurde  (1832),  so  die  Flachgräber  im  Gabler  in 
Enge  und  im  Hard  bei  Altstetten.  Wo  haben  aber  die  Leute  gewohnt, 
die  ihre  Todten  in  diesen  Grabstätten  beerdigten?  Alte  Wohnstätten  sind 
schwor  aufzufinden,  da  nachfolgende  Generationen  und  Völker  die  Spuren 
ihrer  Vorgänger  verwischen.  Hier  und  da  stösst  man  indessen  doch  auf 
Spuren  von  Ansiedelungen  der  Vorzeit.  Oft  sind  es  metallene  Geräthe, 
Waffen  und  Schmucksachen,  oft  nur  unscheinbare  Scherben.  Die  Anti- 
iiuarische  Sammlung  Zürich  bewahrt  in  der  That  auch  eine  Menge  vor- 
römischer  Artefacte,  welche  in  der  Umgebung  und  in  unserer  Stadt  dem 
(irun<ie  der  Gewässer  oder  dem  Schoosse  der  Erde  enthoben  wurden. 

Vom  ehemaligen  Inselchen,  auf  welchem  die  altberühmte  Wasserkirche 
erbaut  wurzle,  bis  hinunter  zur  Webschule  im  Letten  wurden  im  Bette 
der  Limmat  zahlreiche  Schätze  aus  der  Vorzeit  gefunden,  und  auch  ausser- 
lialb  des  Flussbettes  kamen  mehrere  interessante  Artefacte  zum  Vorschein. 
Zwei  Stellen  in  der  Limmat  sind  besonders  ergiebig  gewesen  (vergl.  Taf.  11); 
(lio  eine  liegt  in  der  Stadt  selbst,  bei  der  Rathhausbrücke.  Je  näher  die 
Bajrgeruiaschine  dieser  Brücke  kam,  um  so  zahlreicher  wurden  die  Funde, 
und  als  1S81  die  Fundamentirungsarbeiten  es  ermöglichten,  tief  unter  den 
(irund  des  Flusses  zu  dringen,  da  fanden  sich  neben  mittelalterlichen 
und  röniisdien  auch  viele  vorrömische  Artefacte.    Nur  wenig  weiter  unten 

/•iucbrift  für  Ethnoloi^le.    Jahrg.  1888.  IQ 


138  Jakob  Heierli: 

fand  man  um  1870  bei  Herstellung  einer  Wasserleitung  zahlreiche  prä- 
historische Objecte.  Zwischen  diesen  2  Fundorten  führte  einst  die  römische 
Brücke  über  die  Limmat,  von  welcher  man  die  Widerlager  aufgefunden 
hat.  Die  Menge  der  vorrömischen  Artefacte,  welche  im  Flussbette  zum 
Vorschein  kamen,  deutet  darauf  hin,  dass  hier  schon  in  prähistorischer 
Zeit  ein  Uebergang  über  die  liimmat  existirt  habe  und  dass  wir  das  älteste 
Zürich  wohl  in  der  Nähe  suchen  müssen. 

Die  erwähnten  Funde  bestehen  in  Waffen,  Geräthen  und  Schmuck- 
sachen. Einige  derselben  verdienen  eine  specielle  Erwähnung.  Unter 
den  Lanzen  erscheinen  welche  von  der  Form  derjenigen,  die  wir  aus  den 
Bronze -Pfahlbauten  kennen.  Auch  Fig.  3  zeigt  ungefähr  dieselbe  Form, 
aber  auf  den  Flügeln  sind  Spuren  von  Verzierungen,  die  wohl  auf  Bronze- 
messern angetroffen  werden,  bis  jetzt  aber  nie  auf  einer  den  Pfahlbauten 
entstammenden  Lanzenspitze  beobachtet  worden  sind.  Ebenfalls  aus  Bronze 
besteht  die  Lanze,  welche  Fig.  4  darstellt.  Ihre  Eigenthümlichkeit  liegt 
in  der  spitzovalen  ]?orm.  Einen  ganz  anderen  Tjrpus  aber  erblicken  wir 
in  Fig.  7.  Zwar  bemerkt  man  die  Einziehung  in  der  Mitte  des  geflügelten 
Theiles  auch  bei  Pfahlbau -Lanzen,  aber  sowohl  die  Länge  dieses  Exem- 
plares  als  auch  die  Art,  wie  die  Flügel  unten  endigen,  ist  ganz  eigenthüm- 
lich.  Diese  Form  kommt  in  Einzelfunden  vor;  so  wurden  bei  Zürich,  im 
Sihlfeld,  3  Exemplare  dieser  Gattung,  im  Kies  liegend,  gefunden.  (Vergl. 
Anzeiger  für  schweizerische  Alterthumskunde  1884,  Taf.'VÜ,  12.)  Unter 
den  Eisenlanzen,  welche  bei  der  Rathhausbrücke  zum  Vorschein  kamen, 
befindet  sich  eine  Form,  wie  sie  das  Berliner  Album  in  Sektion  VII,  Taf.  8 
von  Aliensbach  wiedergiebt,  daneben  aber  kommt  ein  breiter,  flacher  Tjrpus 
vor  (Fig-  5)'  ^^r  römisch  sein  mag.  Ein  Unikum  ist  dargestellt  in  Fig.  8. 
Diese  Lanze  wurde  zwar  nicht  in  der  Limmat,  sondern  im  Pfahlbaugebiet 
des  grossen  Hafner,  unweit  des  Ausflusses  derselben  aus  dem  See,  auf- 
gefunden. Form  und  Grösse  sind  auffallend,  die  Technik  findet  sich  bei 
La  Tene-Lanzen  wieder.  Es  wurden  nehmlich  2  Eisenblätter  über  einem 
Dorn  zusammengeschweisst,  welcher  die  Mittelrippe  hervorbrachte. 

Etwas  oberhalb  des  Rathhauses  fand  man  einen  Brenz edolch  mit 
2  Nieten;  er  hat  die  Form  des  aus  Auvernier  stammenden  Stückes,  welches 
Gross  abbildet  in  den  Protohelvetes  Taf.  XV,  33.  Was  die  Schwerter 
anbetrifft,  welche  in  Zürich  dem  Bett  der  Limmat  enthoben  wurden,  so 
fand  sich  das  in  Fig.  13  dargestellte  bei  der  Wasserkirche.  Es  gehört  zu 
einem  Tjrpus,  bei  welchem  die  Klinge  mittelst  weniger  Nieten  an  den  Griff 
befestigt  wurde.  Diese  Schwertform  wurde  in  Pfahlbauten  gefunden,  z.  B. 
in  Nidau  und  Sutz,  aber  auch  in  Depotfunden,  wie  in  Hohenrain  (Kanton 
Luzem),  wo  etwa  20  Schwerter  dieser  Art  unter  einem  St(un  beisammen 
lagen,  ferner  in  Gräbern  der  Bronzezeit,  wie  in  Stirzenthal  bei  Egg  (Kanton 
Zürich).  Das  durch  seine  Grösse  ausgezeichnete  Bronzeschwert  (Fig.  10), 
welches  oberhalb  der  Rathhausbrücke  in  Zürich  gefunden  wurde,  zeigt  eine 


Der  Uwpninj?  der  Stadt  Zürith.  139 

Form  des  Konzniiotypus.  <U»r  in  PfalilbauttMi  fl(»r  Bronzoporiodo  nicht  stdten 
mip»tn)ffi»ii  wurde»,  aber  aucli  sonst  vorbn'itc^t  ist  (ver^i:!.  z.  B.  BASTIAN 
und  Voss,  Bronzesehw«»rtor,  I,  3).  Fij<.  12  stellt  (»ine  jj^rtusr.  flacln»  EistMi- 
srliiiMio  mit  oincMn  Dornte  dar.  Man  hetraoht(»t  sie  als  ein  angefanjj^enes 
Seliwert,  mit  wcdclnmi  Rechte,  majj;  hit»r  unerörtert  bleiben.  Interessant 
jedoch  ist.  «hiss  nnui  in  der  Limmat  nicht  blos  (»inzelne  Stuckte  fand, 
sondern  auch  ein  <i^anzes  Bilndol  von  etwa  20  solchen  Schienen.  Bekannt- 
lich kommen  sie  auch  in  La  Teiie  vor. 

Die  Ilandwerksgerilthe  aus  der  Limmat  treten  auf  in  Form  von 
Beilen,  Messern  und  Meissein.  Die  Ilausj^erathe  sind  repräsentirt  durch 
Spinn wirtel.  Webji:ewichte,  (iu(»tsch(»r,  al)«:(»8ehen  von  Scherben  weniger 
(lefSisse.  Die  Bronzeangel  diente  d(»m  Fischfange,  die  Bronzesicheln 
und  Hacken  aus  Hörn  und  Knochen  aber  bildeten  Ackerwerkzeuge. 
Besonders  hervorzuheben  sind  die  Beile.  Dass  Steinbeile,  durchbohrt 
odtT  undurchbohrt.  häufig  sind  in  der  Nahe  dreier  Pfahlbaustationen,  setzt 
uns  nicht  in  Krstaunen;  aber  unter  den  Metallbeilen,  welche  unter  und 
bei  der  Rathhausbrücke  gefunden  wurden,  kommen  einige  seltene  Tyi>en 
vor.  Ein  daselbst  zum  Vorschein  gekommenes  Kupf<»rbeil  hat  die  bekannte 
einfachste  Form:  mainiigfaltiger  8in<l  die  Bronzebeile  gestaltet.  Die  Form 
mit  4  Schaftlappen,  wie  sie  besonders  aus  Pfahlbaufunden  bekannt  ist, 
konnnt  zwar  auch  vor,  indes8(»n  tritt  sie  zunlck  gegen  die  löffelartigen 
Beile,  w(»nn  für  diese  Gerathe  der  Name  Beil  ub(Thaupt  gebraucht  werden 
dürfte  (Fig.  27,  2^,  34).  Ein  anderer  Typus  tritt  uns  entgegen  in  Fig.  24, 
welcher  auch  in  Einzelfunden  unserer  Gegend  nicht  selten  erscheint. 
Höchster  Beachtung  werth  aber  sind  die  2  Ei8enb(»ile,  welche,  von  ver- 
seil ieclenen  Seiten  dargestellt,  unter  Fig.  25  und  2()  abgebildet  sind.  Das 
eiin»  wurde  beim  Bau  der  Kathhausbrücke  gefunden,  das  andere  (»twas 
oberhalb  d(»r8elben.  Beide  zeigen  die  Form  der  Lappencelte  mit  etwas 
verbndterter  Schneide.  Wir  haben  also  hier  di(»  Nachbildung  eines  Bronze- 
typus in  Eisen.  Derselbe  kommt,  wenn  auch  in  etwas  anderer  Form,  im 
(iraberfidde  von  Ilallstatt  vor,  ist  mir  aber  in  der  Schweiz  bis  jetzt  noch 
nit»  begegnet.  Fig.  81  stellt  ein  Tüllenbeil  vor,  das  auf  dem  Uto  gefund(»n 
wurde;  o'm  ganz  ähnliches  stammt  aus  der  oberen  Limmat.  Dieses  Eisen- 
beil erscheint  auch  in  La  Teno  und  in  vielen  Ansie^lelungen  und  (iräbem 
aus  d<»m  letzten  Jahrhunderte  vor  unserer  Zeitrechnung. 

Die  Schmucksachen  aus  der  liegend  der  Kathhausbrücke  bestehen 
in  Na«leln,  Gürtelhaken  und  Bingen.  Dass  der  (türtelhaken  (Fig.  17)  vor- 
römisch ist,  wag<»  ich  nicht  zu  behaupten.  Was  <lie  Schmucknadeln  an- 
Ix'tritft,  so  treten  sie  in  Formen  auf,  die  wohl  aus  Einzelfunden,  nicht  aber 
aus  Pfahlbauten  bekannt  sind  und  in  unsi*ren  Gegenilen  bisher  auch  in 
Grabern  nicht  gefunden  wurden  (vt»rgl.  Fig.  3tK  4<),  48,  50).  Dolchartige» 
Nadebi    sind    dargestellt    in  Fig.  3H,  43.     Auch    diese  Formen    kenne    ich 


140  Jakob  Heierli: 

nicht  aus  Pfahlbauten,  wohl  aber  aus  vorrömischen  Ansiedelungen  der 
Schweiz  und  als  Einzelfunde. 

Beim  Bau  der  Rathhausbrücke  wurde  auch  eine  Münze  gefunden, 
aus  Potin  bestehend.  Dieselbe  zeigt  auf  dem  Avers  das  gehörnte  Pferd 
der  Gallier  und  auf  dem  Revers  den  Caduceus.  Solche  Münzen  fanden 
sich  in  La  Tene  und  in  der  Tiefenau  bei  Bern,  wo  V.  BONSTETTEN  ein 
helvetisches  Schlachtfeld  entdeckt  zu  haben  glaubte. 

Der  zweite  Fundort  vieler  vorrömischer  Gegenstände  liegt  zwischen  dem 
sogenannten  Drahtschmidlistege  beim  Zusammenfluss  von  Sihl  und  Limmat 
und  dem  städtischen  Wasserwerke  im  Letten  (vergl.  Taf.  11).  Als  1877  der 
Kanal  gebaut  wurde,  der  das  Limmatwasser  zu  den  Turbinen  führt,  da 
kamen,  besonders  zahlreich  in  der  Mitte  der  ganzen  Strecke,  sehr  viele 
Objecto  zum  Vorschein,  von  denen  die  einen  dem  Mittelalter  angehören, 
andere  aber  zurückweisen  auf  die  Periode  der  Römerherrschaft  in  Helvotien 
oder  gar  auf  noch  ältere  Zeiten.  Sowohl  in  der  Richtung  gegen  die  Stadt, 
als  flussabwärts  werden  die  Funde  selten,  und  es  wurden  nach  Mittheilung 
des  leitenden  Ingenieurs  nur  wenige  Stücke  oberhalb  des  Drahtschmidli- 
steges  und  nur' 2  Objecto  bei  der  sogenannten  Platzpromenade,  der  Land- 
zunge zwischen  Limmat  und  Sihl,  aufgefunden. 

Unter  den  Schmucksachen,  welche  im  Letten  zum  Vorschein  kamen, 
sind  besonders  die  Nadeln  zahlreich  vertreten.  Darunter  befinden  sich 
Typen,  die  aus  Pfahlbauten  genugsam  bekannt  sind,  andere  aber  kommen 
in  den  Seedörfem  selten  oder  nicht  vor,  so  z.  B.  die  Mohnkopfnadeln,  die 
in  Gräbern  der  Bronzeperiode  häufig  sind,  in  der  Nordostschweiz  sowohl 
wie  im  Elsass  und  Baden  (vergl.  Anzeiger  für  schweizerische  Alterthums- 
kunde  1887,  Taf.  XXXIII).  Auch  grosse,  gereifte  Nadeln  fehlen  im  Letten 
nicht.  Eine  Bronzespange  (Fig.  16)  repräsentirt  diejenige  Form,  welche  in 
Pfahlbauten  auftritt,  die  Objecto  aus  dem  Beginne  der  Bronzezeit  enthalten 
(vergl.  „Meilen"  in  Pfahlbaubericht  I).  Interessant  sind  einige  Fibeln  aus 
dem  Letten.  Es  fanden  sich  nehmlich  eine  typische  Früh -Tene -Fibel 
(Fig.  18)  und  2  Fragmente  von  Spät-Tene -Fibeln  (Fig.  15). 

Was  die  Geräthe  anbetrifft,  so  sind  sie  unterhalb  der  Stadt  weniger 
zahlreich,  als  in  der  oberen  Limmat.  Angeln  und  Knopfsicheln  von  Bronze 
zeigen  wenig  charakteristische  Formen.  Unter  den  Beilen  erscheint  der 
LöfTelcelt,  daneben  aber  mehrere  Formen,  die  in  unserer  Gegend  neu  sind, 
wie  der  Absatzcelt  (Fig.  29)  und  der  eigenthümliche  Typus  in  Fig.  35. 
Noch  mögen  2  andere  Bronzebeile  beigefügt  werden  (Fig.  22,  28).  Auch 
Eisenbeile  treten  auf,  und  zwar  Tüllenbeile.  Das  eine  weist  di(»selbe 
Form  wie  Fig.  31  auf,  trägt  also  eine  ganz  geschlossene  Tülle,  während 
bei  der  anderen  Form  (Fig.  30)  diese  nur  unvollständig  geschlossen 
erscheint. 

Die  Waffenfunde,  welche  zwischen  Drahtschmidli  und  Wassen^'erk 
gemacht  wurden,  bestehen  in  Bronze -Lanzen  und  Schwertern,    wozu  man 


Der  Unprung  der  Stadt  Zürich.  141 

nocli  einige  sogenaimtü  angefangene  Schwerter  zählen  mag.  2  Schwerter 
bestellen  aus  Bronze.  Das  eine  (Fig.  11)  gleicht  dem  Funde  bei  der 
Wasserkirche,  das  andere  aber  zeigt  einen  Flachgriff,  der  mittelst  Nieten 
mit  einem  llolzgriff  verbunden  wurde.  Fig.  1)  stellt  diesen  Typus  dar. 
Kr  findet  sioli  besonders  häufig  in  Ungarn,  ist  aber  auch  aus  Mykenae 
bekannt  geworden.  Etwas  unterhalb  des  Wasserwerkes  kam  aucli  ein 
Eisenschwert  zum  Vorschein,  das  noch  einen  Theil  der  Eisensclieide  trägt. 
Es  ist  ein  Früh -Ija-Tene- Seh  wert,  wie  solche  in  der  Nähe  Züriclfs,  z.B. 
auch  auf  dem  Uetliberge,  aufgefunden  wurden. 

Alle  (legenstände,  welche  in  der  Gegend  des  Tjotten  zum  Vorschein 
kamen,  lagen  ganz  zerstreut  und  in  Kies  eingebettet.  Merkwürdig  ist  das 
vollständige  Fehleu  von  Scherben.  Viele  Uegenstände  sind  beschädigt, 
zerbrochen  oder  verbogen.  Der  Fundort  liegt  der  Mündung  der  Sihl 
gegenüber,  am  rechten  Ufer  der  Limmat. 

In  bemerkenswerthem  Contraste  zu  den  zahlreichen  Funden  aus  der 
Limmat  steht  nun  die  geringe  Zahl  der  Objecto,  welche  ausserhalb  des 
Flussbettes  aufgefunden  wurden.  Schon  oben  haben  wir  der  prächtigen 
Bronzelanzeu  aus  dem  Sihlfeld  Erwähnung  gethan.  In  der  Nähe  des  Fund- 
ortes derselben  kamen  auch  Steinbeile  und  Feuersteinsplitter  zum  Vor- 
schein. In  AViedikon  bei  Zürich  fand  man  einen  Lappencelt  und  einen 
bearbeiteten  Knochen  (Eleu?)  in  den  Lehmlagem  am  Fusse  des  Uto.  Auf 
der  Wollishofer  AUmend  und  in  Hottingen  w^urden  Steinbeile  der  Erde 
enthoben,  in  Wipkingen,  unweit  des  Letten,  Bronzebeile  und  ein  Dolch. 
Was  die  eigentliche  Stadt  betrifft,  so  hat  sie,  mit  Ausnahme  einiger  wenig 
charakteristischer  Fundgegenstände,  nicht  viele  prähistorische  Artefacte 
geliefert.  Da  ist  der  prachtvolle  Bronzedolch  (Fig.  G)  zu  erwähnen,  der 
im  Schanzengraben  beim  Botanischen  Garten  gefunden  wurde;  da  siud 
einige  Objecto,  die  aus  den  Anlagen  beim  alten  Stadthause  stammen.  Im 
Uebrigen  ist  es  der  Lindenhof,  dieser  historisch  interessante  Punkt  der 
Stadt,  zu  dessen  Füssen  einstmals  die  Kömerbrücke  die  Limmat  über- 
spannte, der  einige  Zeugen  längst  verklungeuer  Tage  bewahrt  hat.  Bei 
den  Grabungen,  die  im  Jahre  1837  von  der  Antiquarischeu  Gesellschaft 
auf  dem  Lindenhofe  vorgenommen  wurden,  kamen  Scherben  zum  Vor- 
sihein.  die  von  Uaud  verfertigt  waren  und  Fragmente  roher  Gefasse  dar- 
stellten. Aehnliche  Scherben  mit  Verzierungen  fand  man  am  Nordwest- 
abhange  des  Lindenhofes  und  ganz  am  Fusse  desselben  bei  der  Werdmühle, 
wie  eim»  hinterlassene  Notiz  Dr.  F.  KELL£R's  berichtet.  Zwar  könnten  diese 
Scherben  auch  aus  romischer  Zeit  stammen,  denn  warum  sollten  nicht  die 
llelvetier  auch  nach  ihrer  Rückkehr  aus  Crallien  noch  Gefiässe  nach  alter 
Väter  Sitte  bereitet  haben,  wenn  ihnen  auch  römische  Töi)fereitechnik 
nicht  mehr  lange  unbekannt  bleiben  konnte.  Im  Oetenbach  beim  Lindenhof 
wurde  ein  durchbohrter  Diorithammer  gefunden.  Es  scheint  also  die 
(legend    des  Lindenhofes,    die    von    den  Römern    als  geeigneter  Platz  für 


^' 


142  Jakob  Heierli: 

•ein  Castell  angesehen  wurde,  schon  in  vorrömischer  Zeit  Sitz  der  Bevöl- 
kerung gewesen  zu  sein.  Daher  die  zahlreichen  prähistorischen  Funde 
bei  der  Rathhausbrücke,  wo  die  Limmat  den  Puss  dieses  Hügels,  der 
durch  seine  Lage  recht  eigentlich  zur  Besiedelung  einlud,  berührte.  Steil 
strebl  der  Lindenhof  aus  dem  Wasser  empor,  und  wenn  wir  eine  Fort- 
setzung suchen,  so  scheint  sie  zu  fehlen.  Und  doch  ist  er  nur  ein  übrig 
gebliebenes  Stück  eines  langen  Zuges,  der  sich  halbkreisförmig  durch  die 
Stadt  Zürich  zieht,  aber  freilich  theilweise  verschwunden  ist.  Er  ist  ein 
Stück  der  Stimmoräne  des  Linthgletschers,  der  einst  vom  Tödi  bis  nach 
Zürich  gereicht  haben  muss. 

Als  im  Jahre  1878  KELLER  im  8.  Pfahlbauberichte  die  Lettenfunde 
beschrieb,  da  glaubte  er,  dass  in  jener  Gegend  ein  Pfahlbau  bestanden 
haben  müsse,  und  auch  in  Bezug  auf  die  damals  noch  ganz  vereinzelten 
Artefacte,  welche  der  oberen  Limmat  entstanmiten,  nahm  er  an,  dass 
im  Flusse  eben  schon  in  der  Vorzeit  einzelne  Fischerhütten  gestanden 
hätten,  wie  es  noch  im  vorigen  Jahrhunderte  der  Fall  war.  Die  Fund- 
objecte  schienen  ihm  nicht  hergeschwemmt  zu  sein  und  vollständig 
mit  Gegenständen  aus  Pfahlbauten  übereinzustimmen.  Wir  haben  aber, 
gestützt  auf  ein  viel  grösseres  Yergleichungsmaterial,  gefunden,  dass, 
wenn  auch  Pfahlbautyj)eu  nicht  ganz  fehlen,  doch  viele  Formen  vor- 
kommen, die  jünger  sind.  Wir  begegnen  da  sogar  den  wohlbekannten 
römischen  und  La  Tone -Formen.  Als  man  die  Rathhausbrücke  fun- 
damentirte,  da  fand  man  auch  keine  Culturschicht,  wie  sie  sich  im  Laufe 
der  Zeit  sicher  gebildet  hätte,  wenn  Leute  bleibend  in  Pfahlhütten  über 
der  Limmat  gewohnt  hätten.  Ebensowenig  kam  eine  Culturschicht  im 
Letten  zum  Vorschein.  Ausserdem  fehlen  Gegenstände,  die  bei  einer 
Ansiedelung  immer  zu  finden  sind,  so  Sclierben,  Früchte,  Reste  von  Geweben 
u.  s.  w.  Und  erst  die  Pfähle!  Wenn  sich  aus  der  Steinzeit  die  Pfähle  der 
Seedörfer  erhalten  haben,  warum  sollten  sie  hier  verschwunden  sein?  Aber 
könnten  nicht  unsere  Funde  von  einer  Ansiedelung  beim  Ausfluss  der 
Limmat  herrühren  ?  Ein  Fluss,  der  so  ruhig  aus  einem  Seebecken  abfliesst, 
wie  es  hier  der  Fall  ist,  hat  zu  wenig  Stosskraft,  um  Gegenstände  so  weit- 
hin zu  verschwemmen.  Freilich  kommt  unterhalb  der  Moräne  dia  oft 
reissende  Sihl  in  Betracht,  und  wenn  je  eine  Wohnstätte  im  Bereich  der 
Hochwasser  dieses  Flusses  gestanden  hat,  so  werden  wir  Zeugen  der  zer- 
störenden Gewalt  des  Wassers,  wie  Hausgeräthe,  Waffen,  Schmucksachen, 
etwa  da  zu  suchen  haben,  wo  die  Sihl  ihre  Stosskraft  verliert,  wo  sie  auf- 
prallt, wie  es  von  der  Platzpromenade  bis  zum  Letten  der  Fall  war  und 
noch  ist.  Können  aber  so  kleine  Gegenstände,  wie  Sehmuckuadeln,  her- 
geschwemmt sein?  Freilich  wohl:  wenn  der  tobende  Fluss  den  Grund 
aufwühlte  und  Sand,  Schlamm  und  Steine  fortfegte,  warum  sollen  nicht 
(bis  40  cm  lange)  Nadeln  weiter  geschwemmt  worden  sein?  Wir  haben 
gesehen,  dass  viele  Gegenstände  defect  sind,  und  auch  das  spricht  nicht 
egen  die  Auaicht,  daaa  im  Letten  zugeschweuimte  Artefacte  gefunden  wurden. 


Der  Ursprung  der  St4idt  Zürich.  143 

Könnte  aber  nicht  doch  da  eine  Ansiedelang  unterhalb  der  Stadt 
boHtandcMi  haben?  Auf  der  heutigen  Platzpromenade  kann  man  sich  eine 
prähistorische  Wohnstiltte  nicht  denken,  da  noch  nie  eine  Spur  einer  solchen 
daselbst  «gefunden  wurde  und  sie  zudem  im  Ueberschwemmungsgebiete  der 
Sihl  gelegen  hätte.  Beim  Drahtschmidli  lässt  sich  eine  Ansiedelung  auch 
nicht  annehmen,  da  gerade  dort  ein  jetzt  freilich  fast  ganz  verbauter  Wild- 
bach mündete,  der  gewiss  manchmal  arg  tobte;  hat  er  doch  eine  tiefe 
Schlucht  im  (fclände  ausgepflügt.  Und  sollten  denn  wirklich  die  ersten 
Landbewohner  unserer  (legend  ihre  Niederlassung  in  einem  Wildbach- 
gebiete angelegt  haben  und  nicht  auf  dem  Lindenhofe  oder  am  Gehänge 
des  Zürichberges?  Weiter  unten,  im  Letten,  wäre  allerdings  eine  An- 
siedelung denkbar,  aber  die  Annahme  einer  solchen  erklärt  uns  nicht  die 
Funde  oben  im  Flusse.  In  der  Gegend  des  Letten  bestand  dem- 
nach weder  ein  Pfahlbau,  noch  eine  Ansiedelung  auf  dem  festen 
Lande.  Die  daselbst  gefundenen  Gegenstände  müssen  durch 
die   Sihl  hergeschwemmt  sein. 

Wo  mag  nun  die  Stätte  sein,  der  sie  entstammen?  Sobald  wir  diese 
Frage  zu  beantworten  suchen,  begeben  wir  uns  auf  das  Gebiet  der  Hypo- 
tliese;  aber  der  forschende  Menschengeist  sucht  eben  doch  jedes  Dunkel 
zu  durchdringen  und  mit  einem  Lichtstrahle,  sei  es  noch  so  dürftig,  zu 
erhellen.  Die  Sache  scheint  mir  übrigens  einfach  zu  sein  und  ergiebt 
sich  aus  dem  Gesagten: 

Schon  lange  vor  unserer  Zeitrechnung  war  der  Lindenhof  Sitz  einer 
Bevölkerung.  Denken  wir  uns  nun  diese  Ansiedelung  gedeihend  und 
wachsend,  so  muss  sie  sich  immer  weiter  ausgedehnt  haben.  Das  mag 
besonders  im  Osten  und  Süden  der  Fall  gewesen  sein,  und  gewiss  haben 
am  Ufer  der  Limmat  schon  zur  Zeit  der  Helvetier  Häuser  gestanden. 
Aber  auch  nach  Westen  und  sogar  nach  Norden  rückte  das  anwachsende 
Zürich  immer  tiefer  am  Abhänge  hinunter,  wie  die  vorrömischen  Funde 
im  Oetenbach  und  bei  der  Werdmühle  es  beweisen.  Nun  konmien  einige 
starke  Hochwasser  der  Sihl,  das  eine  oder  «las  andere  erreicht  die  am 
ti(»fsten  stehenden  Hütten  und  viele  Gegenstände,  vielleicht  ganze  Häuser 
werden  fortgeschwemmt  und  weiter  unten  abgelagert,  z.  B.  beim  Zusanimen- 
stosa  der  Silil  mit  der  Limmat,  im  TiCtten.  So  erklärt  sich  nicht  blos  die 
Kinbettung  der  Funde  im  Kies,  sondern  auch  deren  zerstreute  Lage,  indem 
die  Fluthen  bald  weiter  oben,  bald  weiter  unten  sich  in  das  Limmatbett 
ergossen.  Ks  (»rklären  sich  hierdurcli  auch  jene  Funde,  die  in  der  heu- 
tigen Platzpronieiiade  gemacht  wurden.  Es  erklärt  sich  das  Fehlen  der 
(/ulturschiclit,  die  Abwesenlieit  von  Geweben  und  (leflechten,  von  Scherben, 
Pfalili'u,  Sämereien  u.  s.  w.  Es  wird  begreiflich,  warum  manche  Metall- 
sachen zerbrochen  oder  beschädigt  sind.  Wir  haben  im  Letten  die 
Reste  iler  theilweise  verscliwemmten  Ansiedelung  Zürich.  Die 
Funili»  in  d*»r  oberen  liimmat,  wie  diejenigen  im  l^etten  unten  rühren  von 


144  Jakob  Heieru: 

derselben  Wohnstätte  her.  Die  Wiege  der  künftigen  Stadt  aber 
war  der  Lindenhof. 

Gehen  wir  noch  über  zu  der  Prüfung  des  Alters  unserer  Stadt,  so 
scheint  die  Entstehung  derselben  in  dunkle  Vorzeit  hinaufzurücken.  Wenn 
die  Stein -Artefacte  nicht  charakteristisch  genug  sind,  um  schon  zur 
Steinzeit  eine  Ansiedelung  in  Zürich  zu  constatiren,  und  auch  das  Kupfer> 
beilchen  als  ein  vereinzelter  Fund  wenig  beweisend  sein  mag,  so  ist  doch 
die  Zahl  der  Gegenstände,  welche  übereinstimmen  mit  solchen  aus  Bronze- 
stationen der  Pfahlbauten  und  aus  Gräber^  der  Bronzezeit,  so  gross,  dass 
wir  unbedenklich  annehmen  dürfen,  die  Ansiedelung  auf  und  am  Linden- 
hofe habe  schon  vor  der  sogenannten  Eisenzeit  existirt.  Die  letztgenannte 
Periode  ist  ebenfalls  durch  mehrere  Funde  vertreten,  und  die  jüngsten 
vorrömischen  Funde,  z.  B.  die  Tüllenbeile  und  die  Potinmünze  weisen  auf 
das  letzte  vorchristliche  Jahrhundert,  also  auf  die  Zeit  der  Helvetier. 
Wahrscheinlich  war  auch  Zürich  unter  jenen  Städten  und  Dörfern,  welche 
dieses  Volk  vor  seinem  Auszuge  verbrannte.  Das  vorrömische  Zürich 
hat  demnach  über  ein  halbes  Jahrtausend  hindurch  bestanden. 

Als  es  vor  einigen  Jahren  gelungen  war,  dieses  Resultat  als  einiger- 
maassen  gesichert  darzustellen,  da  handelte  es  sich  um  die  weitere  Auf- 
gabe, ähnliche  vorrömische  Ansiedelungen  aufzusuchen.  Wirklich  wurden 
in  verschiedenen  Theilen  der  Schweiz  solche  entdeckt,  und  es  ist  zu 
erwarten,  dass  sich  die  Zahl  derselben  noch  weiter  vermehre,  so  dass  die 
Berichte  der  römischen  Geschichtsschreiber  über  die  Helvetier  recht  bald 
vervollständigt  werden  können  durch  die  Ergebnisse  der  archäologischen 
Forschung,  und  das  Culturbild  des  untergegangenen  Volkes  neu  aufglänze 
in  späten  Tagen. 


Erklärung  der  Abbildungen  auf  Tafel  III— V. 

Fig.  1  und  2.    Bronzelanzen,  gefunden  im  Letten. 

^    3.  Bronzelanze,  gefunden  beim  Bau  der  Rathhausbrücke. 

„    4.  Desgl.,  gefunden  unterhalb  der  Rathhausbrücke. 

„    6.  Flache  Eisenlanze,  gefunden  beim  Bau  der  Rathhausbrücke. 

y,    6.  Dolch,  gefunden  bei  der  Katze  im  Schanzengraben  in  Zürich. 

„    7  Aus  der  Limmat,  oberhalb  der  Rathhausbrücke;  Bronze. 

„    8.  Vom  Grossen  Hafner  bei  Zürich;  Eisen. 

y,    9.  Bronzeschwert,  gefunden  im  Letten  bei  Zürich. 

„  10.  Desgl.,  gefunden  in  der  Limmat,  oberhalb  der  Rathhausbrücke. 

^  11.  Desgl.,  aus  dem  Letten. 

„  12.  Aus  dem  Letten:  Eisen. 

„  13.  Bronzeschwert  aus  der  Limmat.  Wasserkirche. 

„  14.  Messer  aus  dem  Letten:  Bronze. 

„  15.  Aus  dem  Letten  bei  der  Webeschule:  Bronze. 

„  16.  Bronzespange,  gefunden  1877  im  Letten. 

„  17.  Bronze,  gefunden  oberhalb  der  Rathhausbrücke. 

„  18.  Fibula,  aus  dem  Letten. 

„  19.  Aus  der  Limmat:  Stein. 


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Der  Ursprung  der  Stadt  Zürich.  145 

Fig.  20.  Aus  der  Limmat:  Serpentin. 

.,  21.  Aus  der  Limmat,  zwischen  Rosen-  und  Fortunagasse:  Stein. 

.,  22.  Bronzeheil,  gefunden  im  Letten. 

„  23.  Desgl.,  von  ebendaher. 

.,  24.  Aus  der  Limmat,  oherhalh  der  Rathhaushrücke. 

^  25.  Kisenbeil,  gefunden  bei  der  Rathhaushrücke.    Vorderansicht 

.,  2G.  Desgl..  gefunden  oberhalb  der  Rathhaushrücke.    Seitenansicht. 

.,  27.  Hronzecelt,  gefunden  unterhalb  der  Rathhaushrücke,  Limmat. 

.,  28.  Desgl.,  von  ebendaher. 

^  29.  DesgL,  aus  dem  Letten. 

,  30.  Tüllenbeil,  nicht  ganz  geschlossen,  gefunden  im  Letten.    Eisen. 

,  31.  Eisenbeil  mit  geschlossener  Tülle,  gefunden  auf  dem  Uetli  berge. 

^  32.  ßronzecelt,  gefunden  beim  Bau  der  Rathhaushrücke. 

•  33.  Bronzebeil  aus  dem  Letten  bei  Wipkingen,  1880. 
..  34.  Desgleichen,  von  ebendaher. 

,  35.    Desgleichen,    ^  „ 

^  36.    Nadel  aus  der  Limmat,  oberhalb  der  Rathhaushrücke. 

,  87  und  38.    Nadeln  aus  dem  Letten. 

•  39.    Nadel  aus  der  Limmat,  oberhalb  der  Rathhaushrücke. 
.,  40  —  42.    Nadeln  aus  dem  Letten. 

.,  43.    Nadel  aus  der  Limmat,  oberhalb  der  Rathhaushrücke. 

y,  44  und  45.    Nadeln  aus  dem  Letten. 

.,  46.    Nadel  aus  der  Limmat,  oberhalb  der  Rathhaushrücke. 

•  47.        y,        „    dem  Letten. 

^48.        ,        „    der  Linunat,  oberhalb  der  Rathhaushrücke. 

^49.        „        „    dem  Letten. 

„50.        „        „    der  Limmat,  oberhalb  der  Rathhaushrücke. 

Bei  dem  Gürtelhaken  (Fig.  17)  verläuft  der  Wulst^  welcher  den  Rand  des  mittleren 
Theiles  bildet,  in  die  Platte,  welche  den  Haken  trägt,  müsste  also  in  der  Zeichnung  an 
diesem  Theile  sich  allmählich  verlieren. 

Die  Fussplatte  an  der  Fibel  (Fig.  18)  ist  ganz  flach;  von  dem  ursprünglich  darauf 
genieteten  Belag  aus  Glas  haben  sich  nur  Spuren  erhalten;  die  Lithographie  macht  aber 
den  Eindruck,  als  sei  derselbe  noch  intact  vorhanden. 

Die  Wasserkirche,  auf  dem  Plan  Taf.  II  leider  nicht  besonders  hervorgehoben, 
liegt  hart  am  rechten  Ufer  der  Limmat,  anmittelbar  neben  der  ersten  Brücke,  vom  See 
aus  gerechnet 


.••. 


•  • 


IV. 

Eintheilung  und  Verbreitung  der  Berberbevölkerung 

in  Marokko. 

Von 

M.  QUEDENPELDT. 

(Fortsetzung  von  Seite  130.) 


Die  meisten  der  im  vorhergehenden  Abschnitte  aufgezählten  Stämme 
der  Breber  stehen,  ähnlicli  den  Rif- Berbern,  nicht  unter  der  Botmässigkeit 
des  Sultans.  Nur  vereinzelte  Kabilen  der  Gruppe,  z.  B.  die  Geruän  und 
die  Semür-Schilh,  sind  wenigstens  nominell  abhängig.  Auch  bei  einigen 
Stämmen  im  Tadla- Gebiete  unterhält  der  Sultan  Käid's  in  partibus.  Dass 
diese  Beziehungen  indessen  sehr  lose  sind,  beweist  am  besten  die  erst  im 
Herbste  1887  geschehene  Ermordung  des  französischen  Kommandanten 
Schmitt»)  durch  die  Semilr. 

In  Folge  dieses  aufrührerischen  Verhaltens  ist  der  Sultan  gezwungen, 
um  seiner  Autorität  bei  diesen  Stämmen  nicht  ganz  vorlustig  zu  geli(»n, 
fast  alljälirlich  Expeditionen,  Harka's,  in  das  Breber -Gebiet  zu  unter- 
nehmen; es  ist  aber  nicht  ausgeschlossen,  dass  solche  Züge  einen  für  den 
Sultan  ungünstigen  Verlauf  nehmen.  So  haben  gegenwärtig,  Sommer  1888, 
die  Truppen  der  Regierung  durch  die  Beni-Mgill  eine  arge  Schlappe 
erlitten,  weshalb  der  Sultan  eine  starke  Macht  regulärer  Truj)pen  auf- 
geboten hat,  um  diesen  Stamm  zu  züchtigen.  Die  Ilarka's  gegen  die 
Berber  der  Gruppe  II  richten  sich  überdies  meist  nur  gegen  die  im  Westen 
und  Norden  an  das  Beled  el-machsin  grenzenden  Kabilen.  Die  Stammt» 
im  Innern  oder  im  östlichen  Theile  des  Gebietes,  wie  die  Ait  Atta,  Ait 
Ssedrät,  Ait  Jussi  u.  s.  w.,  bleiben  von  ihm  vollständig  unbehelligt. 

Ganz  besonders  ist  es  das  (fcbiet  der  Eingangs  erwähnton  bei<len 
Tribus,  der  Geruän  und  Semür-Schilh,  sowie  der  Distrikt  von  Tadla,  welche 
der  jetzt  regierende  Sultan  Mulai  Hassan  bekriegt.  Der  französische 
Artillerie -Kaj)itän  Kkc'KMANN,  welcher  als  Chef  d(T  „Mission  militaire 
frangaise  au  Maroc"  mehrere  Jahre  hindurch  dem  Hauptquartiere  des  Sultans 

\)    Vergl.   hierüber   meine    , Mittheilungen    aus   Marokko    und    dem    nordwestlichen 
Sahara- Gebiete-,  Greifewald  18«H,  S.  3. 


Eintheiliing  und  Yerbreitim^  der  Berberbevölkerung  in  Marokko.  147 

attachirt  war,  giebt  uns  in  seinem  erwfthnton  Werke:  „Lo  Maroc  moderne" 
eine  Soliilderung  und  Statistik  der  unter  <ler  Regierung  von  Muläi  Hassan 
ausgeführten  Expeditionen. 

Beßndet  Hicli  <ler  Sultan  in  den  südliehen  Landesth(nlen,  beispiels- 
weise in  scMuer  Hauptstadt  Marrakesch^),  so  ereignet  es  sieh  gar  nicht 
selten,  dass  die  vielleicht  eben  in  einer  Harka  besiegten  Breber  im  Norden 
des  (lebietes  sich  wieder  empören  und  die  nahe  gelegene  Stadt  Miknüss 
belagern. 

Ein  geschiditlich  registrirter,  sehr  blutiger  Breber- Aufstand,  welclier 
der  marokkanisclien  Dynastie  leicht  hätte  unheilvoll  werden  können,  fand 
in  den  Jahren  1818/19  statt,  und  richtete  sich  gegen  den  damals  regierenden 
Sultan  Mulai  Ssulimän*).  Der  Leiter  dieses  Aufstandes  war  ein  einfluss- 
reidier  Menibid  der  Breber  im  Oebiete  von  Tadla,  der  Armjiar  (Scliecli) 
Mehausch.  ORABERG  VON  HEMSÖ  giebt  (a.  a.  0.  S.  191  u.  f.)  eine  ein- 
gehende Schihlerung  von  dem  Verlaufe  dieses  Aufstandes. ^) 

Nach  Mulai  Ismail,  dem  Zeitgenossen  Louis  XIV.  (regierte  1672  — 1727), 
hat  es  keiner  der  folgenden  Sultane  gewagt,  auf  dem  direkten  Wege  zwischen 
den  beiden  Residenzen  Fäss  und  Marrakesch  das  Breber- Gebiet  zu  passiren. 
Die  gewöhnliche  Route  des  jetzigen  Sultans,  auch  wenn  er  von  noch  so 
beträchtlidien  Streitkräften  begleitet  ist,  führt  stets  durch  die  ebenen, 
westlichen  Provinzen,  wobei  er  der  Küste  ziemlich  nahe  kommt. 

Die  mehrfadi  erwälnite,  arabisch  redende  Kabila  Sa  ir,  welche  dem 
Breb(T- Gebiete  im  Nordwesten  benachbart  wohnt,  ist  gleichfalls  nur  zeit- 
weilig unterworfen.  Dieser  mächtige  Stamm  verfügt  über  eine  grosse 
Anzahl  von  Pferden  der  vorzüglichsten  Qualität,  welche  an  Güte  denen 
von  'Abda  und  Dukkala  niclit  nachstehen.  Leute  vom  Stamme  der  Sa'lr 
nannten  mir  die  Zalil  40  000  als  Bestand  der  vorhandenen  Pferde,  was  ich 
aber  für  zu  hoch  gegriffen  halte.  Diese  Tribus  nähert  sich  zu  gewissen 
Zeiten  des  Jahres,  besonders  im  Frühling,  <len  Städten  Rabat  und  Sslä 
an  der  Westküste?,  um  dort  ergiebige  Weidegründe  aufzusuchen,  voraus- 
gesetzt, «lass  sie  gerade  zur  Regierung  in  freundschaftlichem  Verhältniss 
stehen.  Sonst  unternehmen  die  Salr  auch  wohl  in  grossen,  berittenen 
Trupps  Raubzüge*  in  <lie  Provinzen  Schauija*)  und  Haus  Rabat  und  unter- 


1)  Die  Residenz  der  marokkanischen  Sultane  ist  keine  stfindige,  sondern  eine  ambalante, 
and  wechselt  zwischen  den  beiden  Hauptstädten  Fäss  und  Marokko.  Seit  Mulai  Ismall 
residiren  die  Sultane  häufig  in  Miknäss.  Der  jetzige  Sultan  nimmt  auch  gelegentlich  in 
der  Stadt  Rabat  an  der  Westküste  längeren  Aufenthalt. 

2)  Mulai  Ssulimän  (gespr.  Ssliman)  Ben  Mohammed  regierte  1795  — 1822. 

3)  Ein  Nachkomme  des  Anngar  Mehausch,  gleichen  Namens,  ist  noch  heutigen  Tages 
eine  sehr  angesehene  Persönlichkeit  in  dortiger  (tegend.  Er  dirigirt  die  im  östlichen, 
gebirgigen  Theile  von  Tadla  lebenden  Breber,  während  die  im  westlichen,  ebenen  Theile 
dieses  Distriktes  wohnenden,  mehr  arabisirten  Breber  dem  Ssidi  Ben  Daud  in  Bejäd  gehorchen. 

4)  M.  E.  Henoit  (l)escription  geograpbique  de  Tempire  de  Maroc,  Vol.  VIII  der  Explo- 
ration  scifMitifique    de  TAIg^rie,  Paris  1846)   sagt  p.  877  und  dH4,   sich   a\L<  UvjucttQwc^ 


148  M.  Qded£Nfbldt: 

brechen  die  Verbindung  zwischen  der  letzteren  Stadt  und  Casablanca 
(Dar  el-beida).  Sie  sind  durchgängig  unter  Zelten  wohnende  Nomaden, 
und  dieser  vollkommene  Mangel  an  festen  Wohnsitzen  macht  es  ihnen 
leicht,  sich  der  Verfolgung  der  Regierungstruppen  zu  entziehen.  Beim 
geringsten  Alarm  brechen  sie  ihre  Zelte  ab  und  flüchten  landeinwärts. 
Die  Regierung  sucht  sich  für  solche  Unbotmässigkeiton  dadurch  zu  revan- 
chiren,  dass  sie  den  Kaufleuten  in  Rabat  und  Sslä  verbietet,  mit  den  Sa  ir 
Handel  zu  treiben,  sie  also  gewissermaassen  boycottot.  Das  war  auch  im 
Jahre  1886,  bei  meiner  letzten  Anwesenheit  in  Rabat,  der  Fall.  Damals 
hatten  sich  bei  einem  kurz  vorher  stattgehabten  Besuche  des  Sultans  die 
Sä'lr- Leute  in  demonstrativer  Weise  femgehalten.  Kein  Einziger  von  ihn(»n 
hatte  den  Ort  betreten,  anstatt,  wie  die  übrigen  umwohnenden  Stämme, 
dem  Sultan  Abgaben  und  Geschenke  zu  Füssen  zu  legen.  Für  dieses 
Gebahren  wurden  die  trotzigen  Gesellen  in  Acht  und  Bann  erklärt,  und 
sogar  die  europäisclion  Kaufleute  wurden  gebeten,  ihnen  keinerlei 
Waaren,  sei  es  gegen  Baar,  noch  weniger  aber  auf  Kredit  zu  verabfolgen. 

Auf  diese  zeitweisen  Einfalle  der  Sä'ir  in  die  Provinz  Schauija  soll 
sich  vielleicht  die  Angabe  auf  der  kleinen  Karte  bei  ReCLUS  (Bd.  XI  S.  (>5()) 
beziehen,  in  welcher  die  Proportionen  des  Beled  el-machsin  zum  Beled 
ess-ssiba  dargestellt  werden,  und  die  ganze  Provinz  Schauija,  mit  alleiniger 
Ausnahme  eines  schmalen  Küstenstriches,  als  zu  letzterem  gehörig  durch 
Schraffirung  gekennzeichnet  ist.  Dies  ist  jedoch  unrichtig;  die  grossen 
Ebenen  an  der  Westküste,  der  westliche  Garb,  Dukkala,  Schauija  u.  s.  w., 
sind  durchaus  der  Regierung  untertliänig. 

Bei  der  grossen  Kriegstüchtigkeit  und  der  numerischen  Ueberlegenheit 
der  Breber  in  ihrer  Gesammtheit  über  die  Truppen  des  Sultans  könnten 
diese  tapferen  Stämme  der  bestehenden  Regierung  leicht  ernste  Gefahren 
verursachen,  wenn  nicht  besonders  zwei  Umstände  es  wären,  welche  doch 
stets  die  Ueberlegenheit  der  Sultansherrschaft  aufrecht  erhielten.  Dies  ist 
einmal  die  Artillerie,  über  die  der  Sultan  verfügt  und  vor  welcher  die 
Berber,  wie  alle  Naturvölker,  einen  gewaltigen  Respekt  haben,  und  femer 
die  Uneinigkeit  der  Stämme  unter  einander.  Es  bestehen  unter  den  ein- 
zelnen Kabilen,  theils  der  Blutrache  wegen,  die  bei  allen  Berbern  für  eine 
heilige  Verj)flichtung   gehalten    wird,*)    sowie    wegen    anderer  Difl'erenzen 


beziehend,  dass  die  Bewohner  dieser  Provinz  eine  Fractdon  der  im  Süden  der  Provinz 
Constantine,  im  Aures- Gebirge,  wohnhaften  Schauija  seien.  Dies  ist  unrichtig,  denn  wie 
ich  schon  im  vorigen  Abschnitte  erwähnte,  sind  die  marokkanischen  Schauija  Araber, 
während  die  algerischen  Berber  sind.  Erstere  sind  zum  grössten  Theile  Nomaden,  letztere 
sesshaft.  Ebenso  wenig  richtig  ist  es,  wenn  Renou  die  Sair  und  die  Beni  Mtir  zu  den 
Schauija  zählt  Das  vorstehend  Gesagte  gilt  niu*  von  der  Gegenwart;  dass  vor  der 
Eroberung  des  Landes  durch  die  Araber  ein  Zusammenhang  zwischen  den  Bewohnern 
dieser  beiden  Gebieti$tlieile  obgewaltet  hat,  darauf  deutet  die  Ucbereinstimmung  der  Namen 
hin;  nach  Reclus  soll  die  Bezeichnung  vom  arab.  Schaui,  Schafhirt  (?),  abgeleitet  sein. 
1)   Das   berberische   (wenigstens  das  in  der  algerischen  Kabjlie  gebräuchliche)    Wort 


Einthoiliing  und  Verbreitung  der  Berherhevölkerung  in  Marokko.  149 

fortp»8otzto  Kampfe,  die  sieh  sogar  bis  auf  die  einzelnen  Sippen  und 
Familien  erstreeken  und  die  mitunter  Generationen  hindurch  andauern. 

Weleh  be<leutende  Dimcmsionen  solche  Zwistigkeiten  mitunter  an- 
nehmen, beweist  ein  Gefecht,  welches  sich  die  Ait  Atta  und  die  Ait  Mejixad 
im  Frühjahn^  1888  bei  «ler  Oase  Tiluin  lieferten.  In  diesem  Kampfe, 
dessen  Ursaclu»  Terrainstreitigkeiten  waren,  sollen  all(»in  2000  Todte,  un- 
gerechnet di(»  zahlreichen  Verwunderten,  auf  beiden  Seiten  geblieben  sein. 
Wenn  <li(»ser  Kampf  auch  nach  dem,  was  ich  über  denselben  im  Lande 
horte,  einer  der  bedeutendsten  gewesen  ist,  welche  je  zwischen  einzelnen 
Stummen  8tattgefun(h»n  haben,  so  ist  die  ang(»gebeno  Zahl  gewiss  zu  hoch 
geschätzt;  SCHAUDT  (a.  a.  O.  S.  408)  spricht  nur  von  über  1000  Getödteten 
uml  Verwundeten. 

Oftmals  verst<dit  es  auch  der  Sultan,  durch  Versprechungen  den  einen 
od(»r  d(m  and<»r(»n  Breber- Stamm  auf  seine  Seite  zu  bringen  und  ihn  sich 
zum  Bunelesgenossen  gegen  eine  andere  Tribus  zu  machen.  So  sucht  er 
namentlich  mit  der  mächtigen,  dem  Beled  el-machsin  benachbarten  Kabila 
Salan  unter  allen  Umständen  Freundschaft  zu  halten.  Durch  Geschenke 
und  Ehrenbezeugungen  weiss  er  die  angesehenen  Familien  für  sich  zu 
gewinnen;  er  hat  sogar  seine  Schwester  mit  einem  der  einflussreichsten, 
bei  den  Saian  h»b<Miden  Scherife,  Namens  Ssidi  Mohammed  el- Amräni, 
verheiratli(»t.  Er  unterhält  auch  «lie  besten  Beziehungen  zu  Mulai  el- 
Fedil.^)  In  Folge  di(»ses  klugen  Verfahrens  sind  die  Saian,  obwohl  un- 
abliängig,  <lennoch  meist  Verbündete  des  Sultans,  so  z.  B.  b(M  seinem  Feld- 
zuge» im  .lahn»  1883  gegen  die  Stämme  von  Tadla.  Sie  g(»statten  dem 
Sultan  sogar  <li(»  Ernennung  eines  Kaid  für  ihr  Gebiet,  welcher  indessen 
absolut  machtlos  ist. 

Bei  (h»n  unsicheren  Zuständen  im  Breber- Gebiete  würde  eine  BcTeisung 
dessedben  auch  für  Einheimische,  Mohammedciner  und  Jud(»n,  aus  d(»n 
Städten  <U»s  Beled  el-machsin  fast  unausführbar  sein,  wenn  nicht  ein  eigen- 
thümlicher,  w(»it  verbr(Mtet(»r  (lebrauch  das  BetretiMi  des  Beled  ess-ssiba 
«lennoch  möglich  macht(».  Es  ist  dies  eine  Art  von  Protectionssystem, 
welclies  d(»n  Besucher  eines  Gebietstheile»  unt(T  den  Schutz  eines  dortigen 
Stammesangehörig(»n,  meist  eines  einflussreichen  Mannes,  stellt.  Im  Grunde 
dürfte  eine  solche  Einriclitung  dem  Charakter  und  den  räuberischen 
Gewohnheiten  der  Breber  nicht  entsprechen:  sie  wünh»n  lieber  Jeden,  der 
ihr  (rebiet    betritt,    ausplündern,    auch    wohl    trnlten.     Indessen    haben  sie 

für  -Blutschuld"  ist  «tamogert",  die  arabische  Bezeichnung  «rekha**.  Beide  Ausdrücke 
bedeuten  wörtHch  -Nacken".  Die  Redensart  .eine  rekha  schulden"  hat  also  dieselbe  bild- 
liche Bedeutung  wie  .ein  Haupt  schulden".  Siehe  A.  Hanoteau  und  A.  Lbtoürnettx  : 
La  Kabylie  et  les  coutumes  kabvles,  Paris  1878,  Vol.  III.  p.  60. 

1  Dieser  einflussreichste  aller  bei  den  Saian  besonders  verehrten  Schürfa  gehört 
ebenso,  wie  die  Familie  der 'Amräni,  zu  den  Schürfa  Drissiin.  Von  Mulai  Edriss  (bestattet 
in  Serhon)  stammen  auch  der  bei  den  Beni  Mtir  sehr  verehrte  Mulai  el-MadAni  und  der 
bekannte  Mulai 'Abd  ess-Ssaläm  el-Uasäni  ab. 


150  M.  Qubdenfeldt: 

durch  Einführung  dieses  Brauches  aus  der  Noth  eine  Tugend  gemacht, 
um  sich  nicht  selber  vom  ITandcd  und  Wandel  ilirer  Nachbarn  gänzlich 
auszuschliesseu.  Ich  meine  die  Institution  der  „'Anäia",  welche  folgender- 
maassen  geübt  wird: 

Nähert  sich  ein  Reisender,  aus  dem  Beled  el-machsin  kommend,  dem 
(fobiete  des  ersten  unabhängigen  Stammes,  so  macht  er  an  einem  geeig- 
neten Orte,  ehiem  Duar  oder  einer  „Nesäla",^)  Halt  und  setzt  sich  von 
dort  aus  schriftlich  (mittelst  eines  Boten)  oder  durch  einen  gemeinsamen 
Freund  mit  einer  einflussreichen  Persönlichkeit  des  betreffenden  Stammes 
in  Verbindung.  Gewöhnlich  erscheint  alsdann  diese  selbst  an  der  bestimmten 
Stelle  oder  schickt  eine  zuverlässige  Mittelsperson.  Es  wird  darauf  der 
Preis  für  den  Schutz  im  Gebiete  dieser  Tribe  verabredet,  welcher  meist 
ein  sehr  massiger  und  bescheidener  ist.  Dafür  giebt  der  Zusicherer  der 
*Anaia  dem  Reisenden  entweder  persönlich  oder  durch  seine  Leute  bis  an 
die  Gebietsgrenze  seines  Stammes  schützendes  Geleit  (setata).  Von  da  aus 
erhält  derselbe  durch  Vermittelung  seines  bisherigen  Begleiters  eine  neue 
*Anäia  und  eine  neue  Eskorte,  und  so  geht  es  weiter,  bis  das  Reiseziel 
erreicht  ist.  Diejenigen,  welche  diese  Eskorte  bilden,  werden  „setat" 
genannt.  Ihre  Zahl  wechselt  ausserordentlich:  in  manchen  Fällen  genügt 
ein  Sklave  eines  mächtigen  Scherif,  um  den  Reisenden  ungefährdet  durch 
das  Gebi(»t  zu  geleiten,  oder  sogar  ein  kaum  dem  Knabenalter  entwach- 
sener Sohn  oder  Verwandter  desselben;  an  anderen  Orten  ist  wieder  eine 
ganze  Anzahl  Bewaffneter  erforderlich. 

Der  Gebrauch  der'Anäia  wird  oftmals  auch  mit  dem  Namen  „mesräg" 
l)ezeichnet.  Dies  ist  das  arabische  Wort  für  „Lanze'*,  und  es  soll  die  An- 
wendung dieser  Benennung  auf  die  ganze  Einrichtung  daher  kommen, 
weil  man  in  früheren  Zeiten  dem  Schützling  als  sichtbares  Zeichen  des 
Schutzes  seine,  d(»n  Stammesgenossen  bekannte,  Lanze  mitgab.-). 

Die  'Anaia  bildet  die  hauptsächlichste  Einnahmequelle  für  mächtige 
Familien,  da  naturgemäss  diese  vorzugsweise  um  ihren  Schutz  angegangen 
werden.  Denn  man  darf  sich  nicht  blindlings  j(»dem  beliebigen  Stammes- 
mitgliede  anvertrauten,  da  es  oft  genug  vorkommt,  dass  die  *Anäia  in  mehr 
oder  mindcT  schwerer  Weise  gebrochen  wird.  Im  Stiche  lassen  während 
des  Marsches,  sogar  Aus])lünderung  Avr  Reisenden  durch  die  Geleitsmänner 

1)  Gesprochen  -Insäla",  bedeutet  wörtlich :  «Abst^igeplatz",  vom  Verbnm  nasal,  hinab- 
steigen, absteigen.  Man  versteht  darunter  in  ganz  Marokko  eingefriedigte  Plätze  an  den 
Wegen  auf  dem  platten  Lande.  Meist  sind  diese  Plätze  mit  einer  Umwallung  von  dem 
stacheligen  Gestrüpp  des  Ziziphus  lotus,  selten  von  einer  Stf^inmauer  umgeben.  Der  Rei- 
sende kann  hier  gegen  ein  geringes  Entgelt  sicher  übernachten. 

2)  Gegenwärtig  ist  der  Gebrauch  der  Lanze  in  Marokko,  mit  alleiniger  Ausnahme 
einiger  Breber- Stämme,  welche  neben  ihren  Gewehren  noch  kurze  Spiesse  führen,  völlig 
nnbekannt.  Nur  zwei  Muchasenla  oder  Lehensroiter,  welche  dem  Sultan  bei  feierlichen 
Gelegenheiten  stets  voraufreiten,  führen  lange  Lanzen  von  polirtem  Holze  mit  vergoldeten 
Spitzen.    Diese  Leute  hcissen  Mesergia  (Sing.  Mesergi). 


Eintheilufifir  un<i  Yerbreitanp  der  Rerborbevölkeruiif?  in  Blarokku.  151 

sellmt  o(h»r  «lureh  mit  «lioson  im  EinvcTatftmliiisfl  haiulolndo  Räiib(»r  —  (Jas 
Kind  <li«»  ^(>w()hnlic)iAton  Formen,  iintor  donen  eine  Vorlotzunj»:  <1ok  zu- 
j(«»8icli(»rteii  Schutz<»8  vorkommt.  Für  jimIoii  Roisendon  ist  <lah(>r  <lio  j>:rö8Rt(» 
Vorniolit  in  dor  Auswahl  B(»inoft  Bosehützers  geboten.  Milchti«?o  und  oin- 
fluKsndc'lio  Fami]i<Mi  werden  solche  Treulosigkeiten  niemals  bej^ehen,  wenn 
nicht  aus  ei^encMii  Ehrfi^efühK  doch  schon  aus  iler  Be8or«;ni88,  ihr  Renomme 
und  ilamit  ihn»  Einnahmt»  aus  der  'Anaia  zu  verlieren. 

Zu  bem«»rken  ist,  dass  <dnem  Europä(»r,  so  bald  er  als  solcher  kcMint- 
lich  ist,  ein  sicheres  (Jeleit  überhaupt  nicht  «gewährt  werden  würde. 

Diese  'Anaia  tritt  übrij^ens  nicht  nur  als  Sicherstell un<^  für  Reisende, 
sondern  auch  in  d<?n  verschiedensten  anderen  Form(»n  auf.  Jeder  „Schutz", 
j^lei«'hviel  welch(»r  Art,  wird  mit  diesem  Namen  bezeichnet.  So  kann  sich 
ein  wegen  der  Blutrache  oder  sonstiger  (»rblicher  Fehden  Verfolgter  zeit- 
weise unter  die  Anäia  irgend  eines  Angehörigen  der  eigenen  oder  sogar 
der  Uegenpartei,  scdbst  einer  Frau  stellen,  beispielsweise,  wenn  er  das 
Territorium  seines  Stammes  für  immer  verlässt,  oder  um  eine  Unt<»rredung 
mit  seinem  Wid(»r8acher  abzuhalten.*) 

Diejenige  Form,  unter  welcher  einem  Schwächeren  seitens  des  Mäch- 
tigen nicht  nur  zeitweise,  sondern  lebenslänglich  dessen  Schutz  gewährt 
wird,  führt  den  Namen  „Opfer",  Debiha.*)  Der  officielle  Ausdruck,  wenn 
man  den  Schutz  eines  Angehörigen  des  Stammes  auf  Lebenszeit  vorlangt, 
ist:  „ihm  opfern",  „<lebeh  alih".  Dieser  Ausdruck  kommt  von  dem  alten 
Bniuch,  der  heute  imr  noch  bei  ganz  besonderen  Umstänclen  angew(»n<let 
wird:  auf  <ler  Schwelle  des  Mannes,  dessen  Schutz  man  begehrt,  einen 
Hammel  zu  schlachten.')  Derjenige,  welcher  die  Debiha  begehrt,  ver- 
pflichtet sich  seinem  Beschützer  gegenüber  zu  einer  geringen  jährlichen 
Abgabe;  nur  (»inige  besonders  Reiche  und  Mächtige  machen  (»s  sich  zur 
Ehrensache,  nichts  für  ihren  Schutz  zu  verlangen.  Der  Vertrag  wird  von 
einem  Taleb  zu  Papier  gtd)racht  und  von  d(Mi  Oontralient(»n  unterzeichnet. 
Es  gehört  zu  den  Selt<»nheiten,  dass  ein  Patron  seinen  Klienten  verräth 
oder  preisgiebt.  Wer  dies  thut,  fällt  <ler  allgemeinen  Verachtung  anheim. 
In  jed«*m  Stamm«'  oder  in  jetlem  Orte,  wo  man  sich  läng«»re  Zeit  aufhalt(>n 
will,  muss  man  eine  Debiha  schliessen.    Für  die  Sicherheit  Solcher,  welche 

1  Verj^'l.  Hanoteau  und  Letoitrneux  l.  c.  Vol.  III.  p.  77:  L^änala"  est  la  sauvogardo 
accord<^o  ä  celni,  qui  so  trouve  sons  le  conp  d'uno  poursuite,  d'une  vcngeanre,  d'un  danger 
present  ou  iinminent.  Le  Kahyle  soumis  a  la  rekba,  Tetranger  qui  craint  des  represailles, 
Ic  voyageur  qui  redoute  une  attaque,  sont  couverts  par  PanaTa  aussi  loin  que  s'ötend  le 
pouvoir  ou  ]*inf1uence  de  cclui  qui  la  donne. 

2)  Dieser  Brauch,  welcher  aus  uralter  Zeit  stammt  und  fast  überall  im  Beled  ess-ssiba 
existirt,  wurde  nach  Foicalld  p.  130  von  den  alton  Arabern  -Djira"  genannt.  FouCAin.D 
citirt:  Caussin  de  Perceval,  F'ssai  sur  Thistoire  des  Arabes  avant  Tislamisme,  pendant 
Tepoqiie   de  Mahomet  et  jusqu'a  la  reduction  de  tuutes  les  tribus  sous  la  loi  musuhnane. 

3)  Die  gleiche  Sitte  wird  oftmals  geübt,  wenn  eine  Privatperson  oder  ein  Stanmi  die 
Verzeihung  eines  Mächtigen  (amän;  enQehen  will.  Vergl.  hierüber  meine  Mittheil.  S.  G83 
der  Verhaiidl.  d.  Zeitschr..  Jahrg.  1886. 


152  M^'  Qubdbnpbldt: 

einen  ausgebreiteten  Handel  im  Beled  ess-Ssiba  treiben,  ist  diese  Institution 
unerlässlieh.  Bei  Nomadenstänimen  nimmt  man  die  Häupter  der  einfluss- 
reichsten  Familien  zu  Beschützern;  in  den  Kssar's  ist  es  Sitte,  sich  an  den 
Schech  zu  wenden.  Die  Debiha  ist  erblich;  sowohl  die  Söhne  des  Patrons 
wie  die  des  Schützlings  bleiben  an  die  Abmachung  ihrer  Yäter  gebunden. 
Zwei  Dinge  allein  können  diese  freiwillige  Vasallenschaft  ungültig  machen : 
das  Aufhören  des  Tributs,  zu  dessen  Zahlung  sich  der  Klient  verpflichtet 
hat,  oder  Verrath  von  Seiton  des  Patrons. 

Ebenso,  wie  unter  Privaten,  giebt  es  eine  Debiha  unter  ganzen  Stämmen. 
Will  sich  eine  einzelne  Person  unter  den  Schutz  eines  Stammes  stellen, 
so  giebt  es  hierfür  zwei  Wege:  entweder  die  Debiha  eines  Mitgliedes  oder 
des  Stammes  in  seiner  üesammtheit  zu  verlangen.  Da  alle  Stammes- 
brüder untereinander  solidarisch  sind,  so  ist  der  Effect  beider  Maassnahmen 
derselbe.  Gewöhnlich  werden  sich  einzelne  Personen,  kleinere  Familien, 
isolirte  Kssar's  u.  s.  w.  unter  die  Protection  eines  Einzelnen  stellen;  dagegen 
schliessen  grössere  Fractionen  oder  Districte  die  Debiha  mit  ganzen  Stämmen. 
So  stehen  beispielsweise  die  Ida-u-Bellal,  ein  Araberstamm,  über  welchen 
ich  später  noch  einige  Mittheilungen  mache,  in  einem  Schutzverhältnisse 
zu  den  „Breber'*  im  engeren  Sinne,  und  sie  können  demzufolge,  ohne 
fürchten  zu  müsscin,  ausgeplündert  zu  werden,  in  dem  Gebiete  dieser  letz- 
teren reisen  oder  sich  aufhalten.  Ebenso,  wie  Private,  können  auch  ein- 
zelne Stämme  gleichzeitig  mehrere  Schutzstamme  haben.  Die  Ermor- 
<lung  eines  Schutzbefohlenen  wird  von  dem  Patrone  stets  blutig  g(>rächt, 
und  hieraus  entspinnen  sich  dann  endlose  Fehden,  da  naturgemäss  die  An- 
gehörigen d<»r  anderen  Partei  ihrerseits  wieder  Genugthuung  suchen. 

Beim  Eintreten  eines  Unfalles  ist  für  den  Klienten  der  Schutz  eines 
Einzelnen  wirkungsvolhT,  wie  der  eines  ganzen  Stammes,  indem  unter 
einer  so  vicdköpfigen  Menge,  wie  sie  ein  Stamm  re])räs(Mitirt,  stets  Meinungs- 
verschiedenheiten herrschen  und  auch  der  Einz(»lne  kein  persönliches 
Interesse  für  das  Wohl  und  W^ehe  des  Schützlings  zu  haben  pflegt.  Wenn 
von  zwei  im  Schutzverhilltniss  stehenden  Tribus  <li(»  gegenseitigen  Ver- 
pflichtungen nicht  oder  nur  mangelhaft  erfüllt  werden,  so  gilt  das  V(»r- 
hältniss  für  gebrochen  und  ein  Krieg  ist  die  gewöhnliche  Folge.  Der 
schwächere  Stamm  sucht  sich  alsdann  eine  andere  Debiha. 

Auch  bei  den  algerischen  Kabylen  ist  der  Gebrauch  der  *Anäia  sehr 
ausgedehnt.  In  dem  vorzüglichen  Werke  von  llANoTEAU  und  LeTOURNEUX 
finden  sich  eingehende  Mittheilungen  darüber,  wie  die  'Anaia  gehandhabt 
und  ein  Bruch  demselben  geahndet  wurde.  Alles  darauf  Bcvzugliche  ist 
dort  in  bestimmte  Formen  und  Gesetze  gebracht.  Seit  der  Besitzergn»ifung 
Algeriens  durch  die  Franzosen  sind  natürlich  <liese  Bräuche,  so  w(»it  s\o 
mit  französischen  (lesetzcMi  collidiren,  sehr  «eingeschränkt  oder  officiell  ganz 
unterdrückt  worden. 

Einige    wenige    marokkanische    Stämme,    wie    die    Geruän,    die    Ait 


Kiutheilun^  und  Vorhreitun^  der  Berberl»(>vöIkorun^  in  Marokko.  lf)3 

Uafolla  11.  K.  w.,  ilbon  die  *Aiuua  als  Hef2;l<Mtiiii<>:  von  Keisoiiddi  niclit. 
Die  orstenMi  lassen  sich  in  jedem  Duar.  den  der  lleisemle  ])assirt,  eine 
Abj;al)e  bezahlen;  «liesellx»  wird  von  B(»waftneten.  welehe  den  We»>;  ver- 
s|n»rren,  eingefordert.  I)i(»  Ait  Uafelhi  «»rheben  von  jedem  Lastthiere 
nnd  von  jedem  Jnden,  welehe  ihr  (Jebiet  betreten,  einen  Frank  als  ZolP). 
Ueisend(*,  welehe  die  (»rwähnten  Abgaben  erlej^.  habeiu  sind  ^gleichfalls  vor 
Plfln<lernng  sicher. 

Diese  Zwanjj^szoUe  «»rscheinen  gerinj^  im  V(»rhaltnis8  zu  denen,  von 
welchen  uns  ROHLFS^)  berichtet  Kr  erzahlt,  dass  die  Beni  M«j;ill  zur 
Zeit  S4'in<'r  Reise  die  Atlaspässe  in  ihr<*m  Distrikte  besetzt  hatten  und 
nicht  imr  von  jedem  Tjastthien?  8  Francs  Zoll,  sondern  auch  noch  an<ler- 
weitij^c»,  «i;anz  willkürliche  Abfi;aben  erhobc^n.  Dah(»r  wurde  die»  Karawanen- 
strasse  von  Fftss  nach  Tafilelt  nur  8(»hr  wenig  benutzt,  vielmehr  zogen  dio 
Reisen<len  (»s  vor,  den  Umw(»g  über  die  Atlaspasse  im  Süden  von  Marra- 
kesch  (Dar  el-Glaui)  zu  machen.  — 

Die  Stellung,  welche  die  Juden  bei  den  Breber  einnehmen,  ist  stets 
eine  sehr  gedrückte  und  missachtete.  Verschiedene  Stamme,  wie  die  Ait 
Jussi,  Ait  Scherrosehen,  Ait  Uafella,  Ait  *Aia8ch,  Ait  Jahia,  Ait  Mejirad, 
Ait  IJadidu  u.  s.  w.,  dulden  keine  ansftssigen  Juden  auf  ihren  Terri- 
torif'n;  an<l(Te.  wie  die  Ait  Sseri  und  Jschkern,  g(»hen  so  weit  dass  das 
blosse  Betreten  ihres  Gebietes  jedem  Juden  untersagt  ist  Passirt  ein 
solcher  in  einer  Verkleidung  dasselbe  dennoch  und  wird  als  Jude  erkannt, 
so  wird  er  auf  der  Stelle  getödtet  Der  Abscheu  der  genannt(»n  Stamme 
gegen  die»  Juden  ist  so  tief  eingc»wurzelt  <hi88  sie  sogar  die  Leichname 
derselben  nicht  ausplündern,  sondern  an  Ort  und  Stelle  liegen  lassen. 
Selbst  an  <len  Waaren  des  Getödtetcm  vergreift  sich  Niemand. 

Auf  anclere  Weise,  die  allenlings  für  die  Betroffenen  w(»it  angenehmer 
ist,  tritt  diese  Missachtung  darin  hervor,  «lass  (»inzelne  Stämme  es  über- 
haupt unter  ihrer  Würde  erachten,  eine  Kugel  oder  (»inen  Dolchstich  an 
einen  Juden  zu  verschwenden.  Man  todtet  diese  dort  ebensowenig,  wie 
man  eine  Frau  tödten  würde;  doch  misshandcdt  man  beide.  Wieder  andere, 
z.  B.  di<»  Breber  im  engeren  Sinne  (Ait  Atta  und  Ait  Jafelman  mit  ihren 
zahlreichen  Unterabtheilung(»n)  und  die  Ait  Ssedrät,  sehen  nach  POUCAULD 
eine  Art  von  Sport  oder  einen  guten  Scherz  darin,  den  Jinlen  gegenüber 
die  'Anaia  nicht  zu  halten.  Man  plünd(Tt  oder  tödtet  sie  auch  wohl  unter- 
wegs, währen<l  <lie  nämliche  Handlungsweise  gegen  (»inen  Muslem  auch 
bei  di('S(Mi  Stämmen  für  w(»nig  nobel  und  rühmlich  gilt.  Daher  sind,  wenn 
ein  Jude  es  nicht  verm(»id(»n  kann,  von  diesen  Stämm(»n  Schutz  zu  (»rbitten, 
di(»    pt^inlichsten  Vorsichtsmassregeln    nothwendig.     Ks  muss  in  Gegenwart 

1)  Die  Ait  Uafolla,  eine  Fraction  der  Ait  Isdigg,  sind  geg^enwärtig  politisch  von 
dipsen  getrennt  und  gehorch(ni  dem  Snltan. 

2^  RoiiLFS,  Heise  dnrch  Marocco,  Uehersteigung  dos  grossen  .\tla8  n.  s.  w.  Bremen 
1868,  S.  40. 

Z«iUckrilt  Ar  Btkaologi«.    Jahrg.  IBM.  VV 


154  M.  Quedenfbldt: 

einer  Standesperson  ein  besonderer  Vertrag  zu  Papier  gebracht  werden, 
durch  welchen  die  Mehrheit  der  betreffenden  Kabila  die  Sicherheit  des 
Juden  verbürgt.    So  musste  auch  FOUCAULD  auf  seiner  Route  nach  Todra 

M 

verfaliren,  wo,  für  den  Fall,  dass  er  nicht  an  seinem  Bestimmungsorte  an- 
kommen würde,  die  Ait  Ssedrät  verpflichtet  waren,  der  jüdischen  Gemeinde 
von  Tiilit  einen  Schadenersatz  von  5000  Francs  zu  bezahlen. 

Andere  Tribus  dagegen  sind  etwas  toleranter.  Sie  räumen  den  JucUmi 
ein  Quartier  (Mellah^))  in  einer  innerhalb  ihres  Gebietes  belegenen  Ort- 
schaft ein  und  profitiren  von  dem  Handel,  den  die  Juden  dort  treiben. 
Zu  diesen  Stämmen  gehören  die  Ait  Atta  Umalu,  Ait  Atab,  Imejiran 
u.  s.  w.  Ueberall  aber  sind  die  Juden  bei  den  Breber  ebenso  miss- 
achtet, wie  im  Innern  des  übrigen  Marokko.  Es  ist  daher  nicht  zu- 
treffend, wenn  GRABERG  VON  HeMSÖ-)  sagt:  „Doch  gestatt(»n  sie  (die 
Amazirghen)  in  ihren  Bergen,  Städten  und  Dörf(»ni  einer  grossen  Menge 
von  Hebräern  den  Aufenthalt,  die  dort  gesellschaftliche  Vortheile  geniesse.n, 
die  ihnen  in  anderen  Theilen  Afrikas  versagt  sind.  Diese  Duldsamkeit 
schreibt  man  vorzüglich  dem  Glauben  der  Bereber  und  vieler  Mauren  zu, 
dass  ihre  Vorfahren  vor  dem  Einfall  d(?r  Araber  im  7.  Jahrhundert«»  jüdisch 
lebten  und  glaubten,  eine  Meinung,  die  übrigens  durch  viele  arabisch- 
spanische Geschichtsschreiber  des  Mittelalters  historisch  b(»stutigt  wird, 
namentlich  von  ABULFEDA  und  von  ABU  MOHAMÄIED  SALf:HH  BEN  ABD- 
EL-Hhalim  aus  Granada,  welcher  1326  seinen  Ketab-el-Cartas  oder 
Geschichte  der  Könige  von  Mog'hrib  und  der  arabisclien  Dynastien  schrieb, 
wonach  die  NaclikomnKMi  Sanhaggia's  imd  Kothama's,  nach  (ioliath's 
Ermordung  durch  David  aus  Asien  ausgewandert,  noch  den  Judaismus 
bekannt  haben  sollen,  als  sie  den  berühmten  Tharek  zur  Erobenmg 
Andalusiens  und  Gibraltars  begleiteten.  Der  geujinnte  ABU  MOHAMMED 
sagt  in  seinem  Geschiehtsbuche  über  diescMi  Gegenstand  die  nachfolgenden 
Worte:  „Unter  den  Berbeni  des  Mog'hrib-ul-A'ksa  bekannten  einige»  den 
christlichen  Glauben,  tandere  den  jüdischen  und  wieder  andere  <lie  Magic», 
nämlicli  die  Lehre  Zoroasters.'* 

Wohl  verleitet  durch  diese  Angaben  GRABERG's,  sprechen  auch  andere 
Publicisten,  DAVIDSON,  M.  E.  Kp^NOU^)  U.A.,  von  einer  b<»vorzugten  Stel- 
lung der  Ju<len  bei  den  Berbern.  Di(»  in  neuerer  Zeit  n^cht  int(?nsive 
Marokko -Erforschung  hat  die  Unrichtigkeit  dieser  Anschauung  an  allen 
Punkten  ergeben. 

Die  unglückselige  Lage  der  Juden  wird  dadurch  noch  trauriger,    dass 


1)  Dies  Wort  findet  sich  in  Berber{,'egenflen  Marokkos  liäufig  in  der  berberisirten 
Form  „tamellaht". 

2)  A.  a.  0.  S.  50. 

3^  Renou,  1.  c.  p.  396;  On  troiivo  dans  TAtlas  un  grand  nombre  de  villages  entiercment 
juifs;  ils  paraissent  vivre  en  assez  bonne  intelligence  avec  les  habitants,  et  etre  souuiis 
a  beaucoup  moins  d'bumiliations  que  chez  Ics  Arabes. 


EintheilnDg  nnd  Verbreitung  der  Berberberölkerung  in  Marokko.  155 

sie  im  ji:anzt»ji  Belinl  088-88i])a,  wo  sw  überhaupt  ji^eiluMet  wenlen,  in  einem 
an  Sklaverei  ^enz(»n(l(»n  Abhän»^igkeit8verhältni88  zu  den  Herren  de8  Landes, 
den  Berbern  oder  Arabern,  stehen.  Diese,  durch  das  Herkommen  in  voll- 
ständig; »j:«'n»j;elte  Formen  ^(»brachte  Institution  ist  so  eigenthümlicber  Art, 
«lass  sie  wohl  eiiu>  nfUn^re  Betrachtun»ij  venlient. 

.Ied(>r  Jude  j^ehört  mit  Leib  und  L<d)en,  mit  seinen  Gütern  und  seiner 
Familie  einem  Herrn,  seinem  „Ssid",  zu  eijjen.  Wenn  die  Familie  des- 
selben seit  lanji:er  Zeit  im  Tjande  ansässipj  ist,  fällt  ihm  der  Jude,  wie  ein 
Theil  s«»ines  Vermöj^ens,  nach  muselmanischem  Rechte  und  nach  altem 
Brauche  der  Imasi^(Hi  durch  Erbschaft  zu.  Daher  schützt  der  Ssid  seineu 
Juden,  wie  .ledermann  sein  Hab  un<l  (lut  gejijen  Fremde  vertheidigt. 
Natürlich  wird  ein  einsichtijyer  Muselman  im  eigenen  Interesse  seinen  Leib- 
eijj^enen  zu  schon(»n  suchen  und  nicht  zu  grosse  Abgaben  von  ihm  erheben, 
um  ihn  möglichst  zu  dauerndem  Wohlstande  gelangen  zu  lassen.  Indessen 
giebt  es  auch  Besitzer  von  .luden,  welche  dieselben  in  der  brutalsten  Weise 
aussaugen  und  enorme  Summen  von  ihnen  verlangen,  die  sie  zu  zahlen 
meist  nicht  im  Stande  sind.  In  diesem  Falle  nimmt  der  Tyrann  seinem 
Opfer  Weib  oder  Kin<ler  und  sperrt  sie  ein,  bis  die  Summe  entrichtet 
Oller  er  des  Weibes  überdrüssig  geworden  ist.  Es  kommt  vor,  dass  ein 
Ssid  «las  Weib  seines  Juden  mehrere  Monate  lang  b(?i  sich  einschliesst. 
Auf  diese  W«»is«»  übt  er  eine  fortgesetzte  Reihe  von  Erpressungen.  Schliess- 
lich wird  der  Jude  selbst  eines  Tages  auf  den  Markt  geschleppt  und  ver- 
8tc»ig«»rt,  was  allerdings  nicht  überall  vorkommen  darf,  sondern  nur  in 
einigen  Orten  der  Sahara.  Oder  auch:  der  Ssid  nimmt  ihm  Alles,  was  er 
besitzt,  zerstört  sein  Haus  und  jagt  ihn  nackt  mit  den  Seinigen  davon. 
Man  trifft  Dörfer,  in  don(»n  ein  ganzes  Viertel  in  Ruinen  liegt;  fragt  man 
nach  der  Ursache,  so  erfährt  man,  dass  vor  einiger  Zeit  sammtliche  Besitzer 
von  Juden,  einer  gemeinsamen  Abrede  zufolge,  in  der  erwähnten  grau- 
samen Weise  verfaliren  seicm.  Kurz,  nichts  auf  der  Welt  schützt  einen 
Israeliten  des  Beled  ess-ssiba  geg(»n  seinen  Ssid. 

Die  Abhängigkeit  erstreckt  sich  so  weit,  ilass  der  .lüde  zwar  die  zu 
seinem  (leschafte  erfonlerlichen  Reisen  machen  darf,  jedoch  seine  Familien- 
mitglieder stets  als  (reiseln  in  seinem  Wohnorte  zurücklassen  muss.  Will 
er  seine  Tochter  nach  auswärts  verheirathen,  so  muss  er  dieselbe  bei  dem 
Ssid  (»rst  mit  einer  (fcddsunnne  gewissermaassen  auslösen.  Die  eigene 
Freiheit  erlangt  ein  Jude  in  scdtenen  Fallen,  imd  zwar  meist  nur  dann, 
wenn  er  so  klug  g(»wes(»n  ist,  sein  Vennögen  ausserhalb  des  Machtbereiches 
seines  Ssid,  etwa  im  Beled  el-machsin,  anzulegen.  Dann  gestattet  ihm 
sein  H<*rr  wtdil  gegen  eine  verhältnissmassig  enorme  Summe  den  Loskauf. 

Manchmal  gelingt  es  dem  .luden  auch,  sich  mit  den  Seinigen  durch 
heimliche  Flucht  in  das  Beled -el-machsin  oder  zu  einer  anderen  Kabila 
zu  retten:  das  ist  aber  ein  s(»hr  gewagter  Schritt,  dessen  Misslingen  er  mit 
dem  Leben  bezahlt.    Er  oder  seine  Angehörigen  dürfen  sich  selbstverständ- 


156  M.  QirBDENFELDT: 

lieh  nie  wieder  in  das  verlassene  Gebiet  zurückwagten.  Es  ist  vorgekommen, 
dass  noch  Kinder  und  Kindeskinder  solcher  entlaufenen  Juden  wieder  auf- 
gegriffen und  in  das  alte  Abhängigkeitsverlialtniss  zurückgebracht  worden  sind. 

In  denjenigen  Stämmen,  deren  Organisation  eine  vollständig  demo- 
kratische ist  (z.  B.  bei  den  Ait  Atta),  hat  jeder  Israelit  einzeln  einen  Ssid; 
bei  den  unter  einem  absolut  regierenden  Schech  stehenden  Tribus  sind 
alle  Juden  Eigenthum  des  Stammoberhauptes.  An  Orten,  wo  ein  Schech 
mit  eingeschränkter  Autorität  herrscht,  muss  der  Jude  diesem  einen  jähr- 
lichen Tribut  zahlen  und  kann  sich  nicht  entfenien,  ohne  sich  von  ihm 
loszukaufen.  Nichtsdestoweniger  ist  er  aber  Eigenthum  eines  besonderen 
Ssid,  der  an  ihn  die  gew^öhnlichen  Anrechte  hat*). 

Zu  Ehren  der  Menschheit  muss  indessen  gesagt  werden,  dass  im 
Allgemeinen  die  Behandlung  der  Juden  durch  ihre  Ssid's  eine  leidlieh 
humane  ist  und  ein  gröben^r  Missbrauch  der  absoluten  Gewalt  nicht  häufig 
und  nicht  allerwärts  vorkommt. 

Das  elendeste  Leben  führen  die  Israeliten  im  Thale  des  Uad  el- Abid. 
Hier  fand  FOUCAULD  Jüdinnen,  welche  seit  3  Monat(»n  bei  ihrem  Herrn 
eingeschlossen  waren,  weil  ihr  Gatte  eine  bestimmte  Summe  nicht  zahlen 
konnte.  Der  Gebrauch  hat  in  dieser  Gegend  eine  Strafe  von  30  Francs 
für  den  Muselman  festgesetzt,  welcher  einen  Juden  tödtet;  wenn  er  diese 
Summe  dem  Ssid  des  Getödteten  entrichtet,  so  hat  er  keine  weiteren  Un- 
annehmlichkeiten. Die  Israeliten  treiben  unter  diesen  Verhältnissen  auch 
keinen  Handel;  sobald  sie  irgend  etwas  besitzen,  nimmt  man  es  ihnen. 
Weil  es  an  Geld  mangelt,  giebt  es  dort  keine  Silberarbeiter  unter  ihnen, 
und  sie  sind  daher  gezwungen,  sich  dem  zwtjiten  Hauptgewerbe  der  marok- 
kanischen Juden,  dem  Schusterhandwerk,  zuzuwenden.  Da  sie  wie  Thiere 
behandelt  werden,  sind  sie  selbst  zu  einer  Art  von  Bestien  geworden. 
Fast  täglich  kommen  unter  ihnen  blutige  Schlägereien  und  Morde  vor. 

Im  ganzen  Beled  el-machsin  existirt  ein  derartiges  Leibeigenen- 
verhältniss,  welches  so  krasse  Zustände  hervorbringt,  nicht.  — 

Die  Breber  erkennen  nicht  den  Koran  als  Civilgesetz  (im  (legensatz 
zum  religiösen)  an,  wie  es  die  Araber  thun.  Sie  haben  stammweise  oder 
sogar  ortschaftsweiso  einen  eigenen  Codex,  welcher  „isserf"  '-*)  genannt  wird 
und  «lessen  Bc^stimmungen,  meist  im  Einklänge  mit  uralten  Traditionen, 
von  der  „Djemma ",  dem  Rathe  der  Ortsältesten,  festgestellt  werden.  D(»r 
berberische  Ausdruck  für  das  Wort  „Djemma"  ist  „enfälis".  Jls  bedeutet 
„Versammlung"  im  Allgemeinen;  dah(»r  ist  auch  der  in  Marokko  allgemein 
gebräuchliche  Ausdruck  für  „Moschee",  als  dem  ITauj)tver8amHilungsorte 
der  Gläubigen,  „Djemma". 

Dieser  Rath  der  Ortsältesten  setzt  sich  zuweilen  aus  100  und  mehr 
Personen  zusammen.     Demselben  präsidirt  ein  Schech.    Die  Berber  haben 

1)  Vergl.  FouCAiTLD  p.  398  u.  f. 

2)  Vergl.  Erckmann,  S.  115. 


Eintheilun^  tmd  Verbreitong  der  HerberbevölkeruDg  in  Marokko.  157 

filr  (lio«e8  arabische  Wort  die  Bezeichnung  „Amifiar*' *),  welche  indessen 
mehr  bei  tl«»n  Schhlh  gebraucht  wird.  Wörtlicli  üb(»raetzt  bedeutet  „Armgar" 
weiter  nicht«  als  „Mann**:  doch  verbin<let  man  damit  stets  den  Begriff  dos 
^ Alten**,   „Ehrwürdigen",  welchen  auch  das  arabische  „8chech**  ausdrückt. 

Das  Ansehen  und  der  Einfluss  dies(»r  Schiach  ^)  und  des  flemeinde- 
rathes  sind  bei  «len  versc.hie<lenen  Stiimmen  selir  verschieden,  ebenso  die 
Zeitilauer  d(T  Schech -Würde.  Bei  vielen  Tribus  giebt  es  Schech's,  die 
nur  für  di<»  Dauer  eines  .lahres  gewühlt  werden  (Schiach  el-*am);  ander- 
wftrts  ist  «bis  Amt  eines  Sch(»cli  erblich  un<l  lebenslänglich.  Im  Allgemeinen 
ist  die  Autorität  der  Stammeshüupter  bei  den  Breber  keine  grosse.  Die 
Schiach  haben  diesen  unbotmüssigen,  wilden  und  kriegerischen  Naturen 
gegi»nüber  einen  schw(»ren  Stan<K  und  es  gehört  seitens  derselben  ein  hoher 
(irad  von  Schlauheit,  Ta|)ferk(»it  und  körperlicher  Ueberlegenheit  dazu,  um 
sich  bei  ihren  eigenen  Leuti^n  in  Ansehen  zu  bringen.  Die  Tradition  hat 
es  bei  einzelnen  Stummen  sogar  mit  sich  gebracht,  dass  die  Stellung  des 
Scliech  gesetzlich  mit  gewissen  constitutionellen  Einschränkungen  ver- 
bunden ist. 

Diese  in  Algerien  unter  dem  Namen  „kanün"  (vom  griechischen  navdv) 
bekannten  Oesetzessammlungen  sind  nur  bei  wenigen  Breber -Stämmen, 
den  Ait  Atab,  Ait  Bu-Sid  u.a.,  in^Anwendung;  bei  der  Mehrzahl  gilt 
nur  der  jedesmalige  Beschluss  der  Djemma'  oder  des  Schech  als  Gesetz. 
Es  ist  mir  nicht  bekannt,  ob  da,  wo  in  Marokko  solche  Qesetze 
existiren,  sie  aufgezeichnet  sind  oder  durch  Tradition  sich  fortpflanzen. 
HanoTEAU  und  LeTOÜRNEüX  veröffentlichten  eine  grössere  Anzahl  solcher 
in  der  Kabylie  gebräuchlicher  Localgesetzgebungen,  in  welchen  artikelweise 
alle  Satzungen  zusammengefasst  sind,  die  auf  das  Leben  der  Gemeinde 
Bezug  haben.  Neben  den  verschiedenartigsten  strafrechtlichen  Bestim- 
mungen für  schwere  Verbrechen  und  Vergehen  finden  sich  auch  Artikel, 
welche  ganz  geringfügige  V(»rstösse  gegen  die  öffentliche  Ordnung  ahnden. 

Von  <ler  Vielseitigkeit  eines  solchen  „kanün"  mögen  folgende  Para- 
graphen ein  Beispiel  geben,  welche  ich  aus  der  Gesetzsammlung  <les  Dorfes 
Aguni-n-Tesselent  (Tribus  der  Akbil,  Kabylie),  <lie  im  Ganzen  249  Para- 
graphen umfasst,  herausgehoben  habe.') 

§  Vi  bestimmt  die  Zahl  der  Kuskussu  -  Schüsseln,  welche  gelegentlich 
«»iner  Beerdigung  den  Fnmnlen  vom  Dorfe  geliefert  werden  sollen:  sieben, 
wenn  ein  erwachsener  Mann,    drei,  wenn  eine  Frau  gestorben  war  u.  s.  w. 

§  14.  Derjenige,  welcher  sich  weigert,  Leuten,  die  zu  einer  Beerdigung 
gekommen  siiul,  (lastfreun<lschaft  zu  gewähren,  zahlt  1  Real  Strafe  (1  Real 
gleich  2.J  Francs);  ausserdem  winl  er  gezwungen,  dennoch  seiner  Ver- 
pflichtung nachzukommen. 

1)  Plnral:  Im^aren. 

2)  Plaral  von  Schech. 

3)  Vergl.  Hanotkau  und  Letourneux  1.  c.  Vtd.  III.  p.  862. 


158  M.  Quedenpeldt: 

§  24.  Wenn  die  Djemma"  beschlossen  hat,  ein  anderes  Dorf  zu  bekriegen, 
so    zahlt   derjenige,    welcher  sich  weigert,    mitzuziehen,    50  Realen  Strafe. 

§  51.  Das  Besitzthum  einer  Waise  darf  nur  mit  Zustimmung  und  in 
Gegenwart  der  Notabein  des  Ortes  verkauft  werden.  Derjenige,  welcher 
dieser  Bestimmung  zuwiderhandelt,  zahlt  eine  Strafe  von  10  Realen  und 
der  Verkauf  wird  annullirt. 

§  58.  Derjenige,  welcher  zu  Wucherziusen  Geld  verleiht,  zahlt  10  Realen 
Strafe  und  hat  nur  Anspruch  auf  die  Wiedererstattung  des  geliehenen  Kapitals. 

§  79.  Wer  einen  Einwohner  des  eigenen  Dorfes  ermorden  lasst,  zahlt 
100  Realen  Strafe.  Man  tödtet  sein  Vieh,  zerstört  sein  Haus  und  er  wird 
auf  3  Jahre  aus  dem  Orte  verbannt,  i) 

§  86.  Wer  einen  (in  flagranti)  ertappten  Dieb  tödtet,  zahlt  keine 
Strafe. 

§  104.  Wenn  Kinder  des  Dorfes  sich  mit  Kindern  eines  anderen  Dorfes 
prügeln,  so  bezahlen  sie  ^  Real  Strafe,  wenn  die  letzteren  auch  bestraft 
werden;  ist  dies  nicht  der  Fall,  so  gehen  auch  sie  straffrei  aus. 

§  127.  Wenn  Jemand,  der  absolut  nichts  besitzt,  zu  einer  Strafe  ver- 
urthoilt  ist  und  nicht  zahlen  kann,  so  bleibt  er  stets  Schuldner  der  Djemma . 
Er  muss  von  dem,  was  er  durch  seine  Arbeit  verdient,  so  lange  abzahlen, 
bis  die  Schuld  getilgt  ist.  # 

§  130.  Wenn  sich  eine  Frau  nackend  in  der  oberen  Quelle  wäscht, 
so  zahlt  sie  60  Centimes  Strafe. 

§  151.    Wer  in  der  Nähe  der  Moschee  urinirt,  zahlt  |  Real  Strafe. 

§  163.    Wer  einen  Anderen  „Jude"  nennt,  zahlt  \  Real  Strafe. 

§  172.    Wer  Jemanden  „Wüstling*'  schimpft,  zahlt  ^  Real  Strafe. 

§  182.  Diebstahl  zur  Kriogszeit  wird  mit  250  Francs  Strafe  an  die 
Djemma*  und  125  Francs  Entschädigung  an  den  Eigenthümor  belegt. 

§  215.  Derjenige,  welclier  Stroh  stielilt,  zahlt  20  Realen  Strafe  und 
10  Realen  Entschädigung. 

§  238.  Die  Frau,  welche  Kehricht  auf  die  Strasse  schüttet,  zahlt  ^  Real 
Strafe. 

§  249.  Wenn  die  *Anäia  eines  Bewohners  des  Dorfes  verletzt  worden 
ist  und  es  ist  dabei  ein  Mord  oder  Viehdiebstahl  vorgefallen,  so  ninmit  das 
ganze  Dorf  Partei  und  erkhirt  dem  schuldigen  Stamme  den  Krieg.  Der- 
jenige, welcher  seine  Theilnahme  an  demselben  verweigert,  zalilt  50  Realen 
Strafe.  — 

Wie  man  sieht,  werden  fast  alle  Vergehen  und  Verbrechen,  selbst 
Mord,  nur  durch  Strafen  an  Geld  oder  Gcddeswertli  gesülint.  l)i(?ser  Straf- 
codex bezieht  sich  übrigens  bei  den  algerischen  Borbern  ebensowenig  wie 
bei  den  marokkanischen  auf  Vergehen,    welche  ausserhalb  des  Stammes 

1)  Das  in  diesem  kanün  vorgesehene  Vernichten  des  Eigenthums  eines  Mörders  ist 
eine  nur  bei  diesem  Stamme  vorkommende  Bestimmung.  In  der  Regel  fällt  der  Besitz 
eines  solchen  der  Djemma'  anheim. 


Eintheilang  und  Yerbreitnnf«:  der  Rcrberbevulkerani?  in  Marokko.  159 

Stellende  Ix^treffen,  sondern  nur  auf  die  Staniniesji^enosaen  unter  sieli  resp. 
(taste  des  Stammes  oder  unter  der  Debilia  desselben  Befindliehe. 

â–  

Diese,  durch  «las  ir«vrkommen  festgesety-ten  B(»stimmungen  soh(»inen  in 
Marokko  weit  <lrakonischer  zu  s(»in,  als  b(M  «len  algerischen  Kabylen.  Nach 
KRCKMANN  (S.  115)  brennt  man  einem  auf  frischer  That  ertappten 
Diebe  mit  <»in(»m  glühenden  Eisten  die  Augen  aus,  oder  man  schlagt  ihm 
auch  eine  Hand  oder  einen  Fuss  ab.  Mörder  sind  verpflichtet,  das  Land 
für  iinnu'r  zu  verhissen.  Wenn  der  Verkauf  ihrer  (lüter  nicht  genügt, 
inn  den  von  «1er  Djenima  bestimmten  Blutpreis  (Dia)  zu  zahlen,  so  legt 
man  Beschlag  auf  das  EigcMithum  seiner  V(»rwandten.  — 

D(»r  Hang  zum  Raub  und  zur  Spitzbuberei  bei  den  Brebem  grenzt 
an's  Unglaublich«».  Mir  s(dbst  haben  umherziehende  Akrobaten  aus  dem 
Ssüss,  sog<'nannte  Uled  ess-Ssi«li'IIammed-u-Mu8sa,  erzählt  es  sei  gar 
nichts  Seltenes,  dass  sie,  im  Gebiet«»  der  Breber  umher\vand(»nid  und  ihre 
Pro«luktion«»n  zum  Besten  g«d)end,  von  irgend  einem  wohlhabenden  und 
anges«dienen  Manne  einen  Hammel  zum  Oeschenk  «»rhielten  mit  der  Auf- 
forderung, ihn  zu  schlachten  und  «labei  Gott  zu  bitten,  dass  er  seine  —  des 
S|M»n«ler8  —  Söhne  tüchtige  Uäulx^r  und  Diebe  werden  lasse.  Nach 
BbaUMIEK  besteht  bei  einem  «1er  am  weitesten  westlich  wohnenden  Stämme 
(wahr8ch(»inlich  bei  den  Semür-Schilh)  die  Sitte,  das  Stehlen  bei  den 
jüngeren  Mitglied(»ni  der  Kabila  vollkommen  zum  Gegensbmde  praktischer 
U<»bung(m  zu  machen.  Di«»  Jünglinge  werden,  ganz  nach  spartanischem 
Muster,  nicht  eher  für  voll  angesehen,  als  bis  sie  ihr  Meisterstück  gemacht, 
«1.  h.  b«»i  einem  fronnlen  Stamm«»  Vi<di,  «»twa  einen  Hammel  oder  ein  Pferd, 
unbemerkt  geraubt  haben.     Wer  sich  ertappen  lässt,  ist  entehrt.  — 

Die  wenigen  europäischen  R«'is«»nden.  auch  Mohammedaner  o«ler  Juden 
aus  dem  Beled  el-machsin,  welch«»  das  Breber- Gebi«»t  besucht  haben, 
wiss«»n  übereinstimmend  nicht  genug  von  d«»n  entsetzlichen  Zuständen  des 
Faustr«»chts  zu  berichten,  welche  dort  herrschen. 

Di(»8er  8t«»te  Kriegszustand,  in  welchem  die  Br«*»ber  leben,  hat,  wie  bei 
alli»n  wilden  Völkern,  ihre  Sinne  ungemein  geschärft.  Auf  «lern  Marsche 
achten  sie  stets  auf  die  Fussspuren  am  Boden;  sie  suchen  je«le  Schlucht, 
j«m|«?  Terrainfalte  ab.  Bemerkt  einer  in  der  Ferne  Menschen,  so  giobt  er 
s«»in«'n  (i«»fährten  ein  Zeichen,  sie  berathen  sich  kurz,  und  man  geht  dann, 
j«»  nach  tien  Umständen,  sofort  zum  Angriff  über  oder  nimmt  eine  defensive 
Stellung  «»in  oder  zitdit  sich  auch  ganz  zurück.  Sobald  eine  Expedition 
b<»s«'hh»ss«»n  ist,  vereinigen  sich  die  Th«»ilnehmer  auf  ein  Signal  von  zwei 
(iew«dirs«hüss«'n,  die  d«»rjenige  abfeuert,  von  welchem  «las  Unternehmen 
ausg«»hr  —   ein  allgeint'in  bei  den  B(»rbc»rn  üblicher  (Ifebrauch. 

Hat  ein<»r  wähnMi«!  «les  Kampfes  die  Flucht  «»rgriffen,  so  wird  ihm 
ein   s«'hwarz«»s  Judenkäppchen  ^)  aufg«»setzt,  und  man  führt  ihn  so  im  Dorfe 

1)   Schäschia  del-iliü«!. 


160  M.  Quedekfeldt:  Eintheilung  und  Verbreitung  der  BerberbeTÖlkerang  in  llarokko. 

umher.  Bis  er  durch  eine  hervorragend  kühne  That  die  Schmach  ab- 
gewaschen  hat,  wird  er  mit  Hohn  und  Spott  überhäuft.'  Bei  einigen  Stämmen 
wird  der  Feigling  von  den  Frauen  mit  Hennabrei  beworfen,  ein  symbolisches 
Zeichen,  dass  man  ihn  einem  Weibe  gleichachtet.  ^)  Gewöhnlich  zwingt 
man  ihn  auch,  nach  allen  Anderen  aus  der  gemeinsamen  Schüssel  zu  essen, 
indem  man  sagt:  „Wer  nicht  der  Erste  im  Kampfe  war,  soll  auch  nicht 
der  Erste  in  der  Schüssel  sein."  In  der  That  giebt  es  wenige  Männer 
unter  den  Breber,  welche  nicht  eine  oder  mehrere  Verwundungen  auf- 
zuweisen hätten. 


1)   Vergl.  ineino  Mittheil,  in  den  Verhandl.  dieser  Zeitschr.,  Jahrg.  1886,  S.  677. 


Besprechungen. 


Edward  M.  CURR.  Tlu»  Australian  Kaco:  its  origin,  languago,  custoina, 
|)lar<»  of  laiidiiig  in  Aiistralia  and  i\w  rout(»8  by  wliicb  it  spn»ad  itaolf 
over  that  kontinent.  Melbourne,  il.  Ferrea,  ainl  London,  Tröbner. 
188<)  — 76.  V(d.  I-III  in  8  mit  Abbildungen,  Vol.  IV  gr.  Folio  mit 
einer  Karte. 

Das  uinfan^oiche.  auf  Kosten  der  Kegierunp:  der  Colonie  Victoria  ffedniclrte  Werk 
enth&lt  wohl  die  voUständigste  Darstellung  der  bis  jetzt  bekannt  gewonienen  wilden 
St&nune  Australiens  und  vielleicht  auch  die  am  sorgfaltigsten  gearbeitete.  Der  Verfasser 
orhebt  gegen  srine  Vorgänger  starke  Vorwürfe  wegen  ihrer  Irrthümer,  so  namentlich  gegen 
Mr.  U.  Rrough  Smyth  (1.237),  aus  dessen  Buche  er  übrigens  fast  alle  seine  Ab- 
bildungen entnommen  hat,  da  dasselbe  gleichfalls  auf  Kosten  der  Regierung  publicirt  ist. 
Den  grössten  Tlieil  des  vorliegenden  Werkes  nehmen  Detailberichte  zahlreicher  Local- 
beobachter  über  die  einzelnen  St&mme  ein,  welche  fast  ganz  Australien,  so  weit  es  schon 
colonisirt  ist,  umfassen  und  in  welchen  insbesondere  die  Vocabularien  eine  grosse  Rolle 
spielen.  Aus  letzteren  hat  der  Verfasser  ein  vergleichendes  Vocabular  zusammengestellt^ 
welches  die  Foliolisten  des  4.  Bandes  füllt  und  den  zahlreichen  linguistischen  Betrach- 
tungen, welche  er  anstellt,  zur  Grundlage  dient.  Leider  scheinen  dem  Verfasser 
tiefere  grammatikalische  Kenntnisse  zu  fehlen,  um  weitergehende  Erörterungen  über  den 
inneren  Bau  der  Sprache  und  ihrer  Dialekte  zu  veranstalten. 

Das  erste  Buch,  9  Capitel  umfassend,  bringt  die  allgemeinen  Betrachtungen  des  Ver- 
fassers nebst  seinen  Conclusionen  über  Abstammung  und  Ausbreitung  der  Eingebomen. 
Er  hält  sich,  hauptsächlicli  auf  Grund  linguistischer  Analogien,  für  berechtigt,  die  Australier, 
die  er  als  ein«*  einheitliche  Rasse  betrachtet,  von  den  Negern  Afrikas  abzuleiten,  freilich 
in  einer  sehr  frühen  Zeit,  als  diese  weder  Bogen  und  Pfeile,  noch  die  Buchstab(>n  f  und  s 
kannten.  Sonderl)arerweise  kommt  er  dabei  auf  die  .^fossilen"  Ueberreste  von  M<>nschen 
in  Australien  und  auf  den  Dingo  nicht  zu  sprechen.  Soweit  ersichtlich,  nimmt  er  die 
jetzige  geologische  Beschaffenheit  von  Australien  schon  als  abgeschlossen  an,  als  die  erste 
Einwanderung  von  Afrika  aus  erfolgt«,  wie  er  denn  auch  die  weite  Meeresfläche  nebst 
ihren  Inseln  sich  in  ihrer  heutigen  Gestalt  vorstellt.  Freilich  erkennt  er  an,  dass  die 
physische  Beschaffenheit  der  jetzigen  Australier  von  der  jedes  bekannten  Negerstammes 
abweicht^  und  dass  auch  ihre  Sprache  nähere  Verwandtschaft  zu  irgend  einer  bekannten 
Negersprache  nicht  darbietot.  Letzteres  erklärt  er  aus  der  Länge  der  verflossenen  Zeit, 
während  welcher  die  afrikanischen  Sprachen  sich  weiter  entwickelten,  «lie  australischen 
dagegen  in  einem  Beharrungszustande  blieben,  in  dem  sie  noch  jetzt  geeignet  seien,  ein 
Bild  von  der  Urspraclie  der  afrikanischen  Nej^er  zu  liefeni.  Die  physis<-he  Differenz  glaubt 
er  aus  einer  Mischung  mit  fremden  Elementen  während  der  Ueberwanderung  ableiten  zu 
dürfen,  wenngleich  er  nicht  anzugeben  vermag,  welche  Elemente  diess  gewesen  sein  könnten. 
Diess  ist  wohl  der  schwächste  Punkt  seiner  Darstellung,  um  so  schwächer,  als  er  auch  die 
Papuas  von  Neu-<ruinea  aus  einer  Mischung  eingewanderter  afrikanischer  Neger  mit 
Zukömmlingen  entstehen  lässt,  und  als  er  deren  Einwanderung  in  eine  ungleich  spätere 
Zeit  verlejrt,  als  die  der  Australier.  Den  Gedanken,  dass  die  Einflüsse  des  neuen  Vater- 
landes, insbesondere  Klima  und  Lebensweise,  den  physischen  (Charakter  der  Einwanderer 
verändert  haben  möchten,  berührt  er  kurz,  um  ihn  definitiv  abzuweisen,  obwohl  sich  dafür 
doch  Mancherlei  sagen  liesse.  Dagegen  ist  ihm  der  andere  Gedanke  nicht  gekommen, 
wie  es  zugegangen  sei,  dass  die  Einwanderer  nach  einer  so  langen  Meerfahrt,  die  nicht 
einmal  in  einem  Zuge  ausgeführt  sein   soll,   plötzlich   in  so  ausgemachte  Landratten  ver- 


162  BesprechnngeiL- 

wandclt  worden  sind,  dass  sie  alle  weiteren  Seefahrten  aufgegeben  haben.  Die  Beschaffen- 
heit des  Landes  konnte  ihnen  doch  kaum  so  verfülirerisch  erscheinen. 

Mit  Entschiedenheit  erklärt  sich  Verfasser  für  die  Einwandenmg  einer  einzigen  Gesell- 
schaft (party)  oder  höchstens  einiger,  die  unmittelbar  verschmolzen.  Als  Platz  der  Landung 
sieht  er  die  Gegend  von  Camden  Harbour,  124°  30 'L.,  an  der  Nordküste  an,  von  wo  im  Laufe 
der  Zeit  drei  verschiedene  Ströme  von  Wanderungen  ausgegangen  seien;  eine  westliche, 
eine  östliche  und  eine  centrale.  Indem  die  ersteren  sich  längs  der  Küste,  die  letztere 
quer  durch  den  Coutinent  verbreiteten,  stiessen  sie  endlich  an  der  Südküste  auf  einander. 
Hier  findet  er  in  der  Gegend  zwischen  Lacepede  Bay  und  Streaky  Bay  die  Küstenst^nnne 
durch  Abzweigungen  der  centralen  unterbrochen.  Eine  grosse  Karte  erläutert  die  Ver- 
hältnisse in  anschaulicher  Weise.  Die  Hauptunterschiede  der  Stämme  je  nach  den  drei 
verschiedenen  Strömen,  zu  denen  sie  gehören,  liegen  nach  ihm  darin,  dass  die  östlichen 
ihre  Sprachen  nach  negativen  Adverbien  benennen  und  weder  Circumcision,  noch  jene 
bekannte  Spaltung  der  ürethia  bei  Männern,  welche  Verfasser  den  terrible  rite  nennt, 
ausüben,  während  diess  bei  den  centralen  geschieht,  die  jedoch  ihre  Sprachen  nicht  nach 
den  negativen  Adverbien  benennen,  und  die  westlichen  weder  Circumcision,  noch  den 
terrible  rite,  nocli  die  Benennung  der  Sprachen  nach  negativen  Adverbien  kennen.  Für 
eine  solche  Wanderung  von  Norden  her  sprächen  auch  die  Traditionen  der  Stämme  und 
die  Verschiedenheit  der  Dialekte  unter  nahe  benachbarten  Stämmen  der  Südküste.  Nur 
Cap  York  erhielt  seine  Bevölkerung  von  Süden  her,  der  sich  später  von  Norden  her  eine 
papuanische  Einwanderung  zumischte. 

Es  wird  vorzugsweise  eine  Aufgabe  der  nationalen  Kritik  in  Australien  sein,  die  Richtig- 
keit der  Localangaben  und  der  daraus  abgeleiteten  Schlussfolgerungen  zu  prüfen.  Der 
Standpunkt  des  Verfasers  ist  unverkennbar,  wie  es  sich  bei  einem  so  grossen  anthro- 
pologischen Problem  geziemt,  ein  sehr  hoher,  und  mancher  Local- Widerspruch  wird  für 
diejenigen,  welche  ihm  beitreten,  verschwinden.  Aber  es  wird  doch  einer  sehr  eingehenden 
linguistischen  Prüfung,  auch  Seitens  der  fremden  Pliilologen,  bedürfen,  um  die  Descendenz 
und  das  relative  Alter  der  einzelnen  Stammessprachen  festzustellen.  Die  Mittheilungen 
des  Verfassers  über  die  anthropologische  Beschaffenheit  der  Australier  (L  37)  sind  an 
sich  sehr  mager  und  ohne  tieferes  Verständniss,  namentlich  berühren  sie  die  Frage  von 
etwaigen  Stammesunterschieden  gar  nicht,  während  darüber  doch  wissenschaftliches 
Material  in  Fülle  vorliegt.  Nach  seinem  Literaturverzeichnisse  zu  urtheilen,  kennt  Verfasser 
nur  solche  Schriften,  die  in  englischer  Sprache  geschrieben  sind,  und  selbst  unter  diesen 
scheint  ihm  Alles  fremd  zu  sein,  was  in  eingehender,  wissenschaftlicher  Weise  die  körper- 
lichen Eigenschaften  seiner  wilden  Landsleute  schildert.  Um  so  rückhaltloser  dürfen  wir 
dem  Verfasser  unsere  Anerkennung  zollen  über  den  grossen  Fleiss  und  die  Sorgfalt,  mit 
welcher  er  das  Material  zur  Kenntniss  der  Gebräuche  und  socialen  Verhältnisse  in  den 
einzelnen  noch  vorliandenen  Stämmen  gesauimelt  hat.  Dieses  Material  wird  vielleicht  lür 
alle  Zeiten  die  hauptsächliche  Fundgrube  der  Etlinologen  und  Linguisten  in  Bezug  auf 
die  jetzt  aussterbenden  Urbewohner  des  grossen  südlichen  C'ontinents  sein. 

RüD.  ViRCIIOW. 


Lieut.-Gon.  PITT  RiVEKS.    Excavations  in  Cranborno  Chase.    Vol.  L  1887. 
IViiited  privately.     (ir.  4.     254  S.  mit  74  Tafeln. 

Der  in  der  archäologischen  Welt  seit  langen  Jahren  unter  dem  Namen  des  Col.  Lane 
Fox  rühmlichst  bekannte  Verfasser  erzählt  in  seiner  Vorrede,  wie  er  im  Jahre  18W  die 
Rivers  estates  erbte  und  in  Folge  davon  genöthigt  war,  seinen  Namen  zu  wechseln.  Aber 
gerade  diese  Erbschaft  setzte  ihn  in  den  Vollbesitz  des  Landes,  auf  welclicm  er  seitdem 
in  der  erfolgreiclist<'n  Weiso  Ausgrabungen  gemacht  hat.  und  gab  ihm  zugleich  die  Mittel, 
eine  so  stolze  Publika<i(m  auf  eigene  Kosten  zu  veröffentlichen,  wie  es  die  vorliegende 
ist.  Cranborne  Ohase  ist  ein  grosses  Jagdrevier  in  der  Nähe  von  Kushmore.  auf  der 
Grenze  von  Dorset  und  Wilts,  welches  seit  alten  Zeiten  unberührt  geblieben  ist  und  in 
seinem  Schoosse  zahlreiche  Anlagen  und  Gräber,  namentlich  aus  römisch -britischer  Zeit, 
bewalu-t  hat.    General  Pitt  Rivers    hat   die   systematische   Erforschung   dieses  Gebietes 


ßesproohiinjren.  163 

bcf^nnon,  und  indoin  er  poraönlich  alle  Hanptoperationen  l«»it«»le,  das  Andere  aber  durch 
einen  Stab  wi&ienschaftlich  geschulter  Männer  beaufsichtigen  und  später  bearbeiten  Hess, 
<*in  ebenso  rei<-he8,  als  mit  skrupulöser  <>4'nauif?keit  gesammeltes  Material  von  Alt«r- 
rhümcrn  zusaniinon|rt>bra('hU  Seine  Specialfundlist«n  (Relic  Table»)  nelunen  allein  G5  Seiten 
(p,  IHl»  — 2f>4)  rill.  Da  die  Fortsetzung  d<T  Arbeiten  beschlossen,  wahrscheinlich  so^r 
zum  Theil  brw«Tkstenij;t  ist,  so  wird  hier  für  die  britische  Localforschung  ein  Werk  von 
jranz  hervorra;render  Hedeutun^  j?el)oten,  dessen  Werth  auch  für  die  allgemeine  Forschung 
r**rht  hoch  viTanscIdajrt  werden  «larf.  Denn  die  Reste  der  alten  Ansiedelunjren.  welche 
<n*n«Tal  Pitt  Rivers  bloss^clejjl  hat,  j;eliört4»n  Briten  aus  der  letzten  Zeit  der  römischen 
IhTrschaft  oder  kurz  nachher  an,  vim  denen  man  bisher  sehr  weui^  weiss.  Er  fand  die 
(iorippt»  ili«\s4'r  Leut<*  in  zusammen^edrun^er  Stidlun^  in  bninnenartij^en  Gruben  (pits): 
si«*  f^ehörten  einer  kleinen  Rasse  an,  deren  Münner  etwa  5  Fuss  2fi  Zoll,  die  Weiber  4  Fuss 
*J<V.>  Zoll  lan^'  waren  und  welche  ausgesprochen  dolicho-  und  selbst  hyperdolicho- 
ci'phalt*  Srliadel  besass,  also  Aehnlichkeit  mit  der  neolithischen  Rasse  der  Lang^älier 
(lonji:  barrows)  zei^.  Dieser  ferne  Winkel  des  Landes,  der  mit  dichten  Waldungen  bedeckt 
war,  diente  den  alten  Bevidkerungen  als  ein  Asyl  vor  den  mancherlei  Eindringlingen  und 
Eroberem,  welche  das  übrige  England  überzogen.  Noch  jetzt  ist  hier,  wie  Dr.  Beddoe 
^^ezeigt  hat.  die  <irenze.  wo  dii>  kleine  dunkelhaarige  und  dunkelfarbige  Rasse  des  Westens 
einsetzt.  Die  zahlreichen  Funde,  wohl  bezeichnet,  sind  nunmehr  in  einem  besonderen 
Museum  in  der  Nähe  <les  Dorfes  Famham,  Dorset,  gesammelt  und  der  öfl'entlichen 
Besehauung  zugänglich  gemacht  worden.  Die  dem  vorliegenden,  höchst  gläuzend  aus- 
j^estatteten  Werke  beigegebenen  Karten  und  Tafeln  erläuten»  diese  Funde,  welche  nach 
der  Iteihenfolge  der  Abbildungen  ausführlich  beschrieben  und  in  ihrer  Besonderheit 
besprochen  werden.  Wie  wir  das  schöne  Werk  mit  grosser  FVeude  begrüssen,  so  wünschen 
wir  ihm  auch  ungehinderten  Fortgang  und  dem  Verfasser,  der  seine  erschütterte  Gesund- 
heit als  Grund  seiner  Zurückgezogenheit  angiebt,  noch  lange  Jalu'e  glücklicher  Forschung. 

Rl'd.  Virchow. 


A.  LissAUER.  Die»  prahistorischon  Denkmäler  der  Provinz  Westpreussen 
und  der  angrenz<»nden  (lebiete.  Leipzig  1887.  Kl.  Fol.,  110  S.  mit 
♦?iner  prähistorischen  Karte  in  4  Blättern  und  5  Tafeln. 

Der  durch  Fleiss  und  Gelehrsamkeit  gleich  ausgezeichnete  Verfasser,  der  so  lange 
.Jahre  hindurch  die  archäologischen  Bestrebungen  der  Provinz  Westpreussen  in  seiner 
Person  vereinigt  hat  Hn<l  dessen  Thätigkeit  vorzugsweise  das  schnelle  Aufblühen  des  Dan- 
ziger  Museums  zu  danken  ist,  sclireibt  die  Anregung  zu  der  vorliegenden  Arbeit  in  erster 
Linie  dem  Vorgehen  der  Deutschen  anthropologischen  Gesellschaft,  deren  kartographisch!» 
Commission  ihn  zu  ihrem  Mitgliede  erwählt  hatte,  zu.  Die  Schwierigkeit,  eine?  gemein- 
same archäologische  Karte  für  ganz  Deutschland  zu  schaiTen,  ist  jetzt  wohl  allgemein 
anerkannt,  und  es  ist  nur  zu  billigen,  wenn  zunächst  für  einzelne  grössere  Territorien 
die  entsprechenden  Karten  hergestellt  werden,  wie  es  zuerst  für  Schlesien  und  neuerlich 
für  eine  ganze  Reihe  süddeutscher  (iebiete  geschehen  ist.  Aber  der  Verfasser  ist  auch 
in  der  antleren  Beziehung  den  Erfahrungen  gefolgt,  welche  die  praktische  Ausführung 
gelehrt  hat:  er  giel>t  zunächst  für  jede  der  grösseren  ( 'ulturperioden  besondere  Karten, 
welche  das  Bild  der  Vertheilung  und  Ansiedelung  der  Bevölkerung  in  ungetriibter  Klar- 
heit bi«>ten.  Diesen  Karti^n  sind  die  wichtigsten  Fundobjekte  in  anschaulichen  Abbildungen 
beigefügt  Bis  zum  Ende  des  Jahres  188r»  waren  auf  dem  in  Angriff  genommenen  Fund- 
gebiefi«  srh<m  IniM)  Fundorte  constatirt.  Jiin  ausführlicher,  beschreibender  Katalog  bringt 
eine  übersiclitliebe  Zusammenstellung  aller  Funde  unter  Beigabe  der  Fundberichte  und 
der  dazu  gehöri;r«'n  Citate.  Für  jede  Culturepoche  ist  ein  zusammenfassendes  Bild  der 
Lebens-  und  <.iesellschaftsverhältnisse  der  Bevölk«*ning  vorangeschickt,  so  dass  auch  der 
noch  nicht  geschulte  Leser  aus  dem  Studium  des  Werkes  zugleich  diejenigen  Kenntnisse 
schöpfen  kann,  welche  für  das  Verständniss  erforderlich  sind  und  welche  zugleich  den 
Anreiz  zu  eigener  F(»r."»chnng  gewähren.  Sowohl  die  Anordnung  des  Stoffes,  als  die  Aus- 
führung  können   als   mustergültig   bezeichnet  werden.    Möge  das  schöne  Vorbild  in  gani 


164  Besprechungen. 

Deutschland  und  namentlich  in  den  Provinzen  des  prenssischen  Staates  rege  Nacheifenmg 
finden.  Die  Herausgabe  des  vortrefflich  ausgestatteten  Werkes  ist,  mit  Unterstützung  des 
westpreussischen  Landtages,  von  der  Naturforschenden  Gesellschaft  zu  Danzig  besorgt 
worden.  RuD.  Virchow. 


J.  G.  PEAZER.      Totomism.      Edinburgh,    Adam  &  Charles  Black.      1887. 
12.     96  Seiten. 

Die  kleine  Schrift  bringt  in  gedrängter  Form,  aber  mit  allem  möglichen  Detail  das 
literarische  Material  über  eine  der  dunkelsten  Seiten  des  Volksglaubens,  welche  in  zahl- 
reichen Erscheinungen  des  religiösen  und  socialen  Lebens  zu  Tage  tritt.  Der  Verfasser, 
seinen  Studien  nach  Rechtsgelehrter,  hat,  gleich  so  vielen  berühmten  Forschem  seines 
Vaterlandes,  ein  culturgescliichtliches  Problem  zum  Gegenstande  seiner  Untersuchung' 
gemacht,  das  seiner  weiten  Verbreitung  über  fast  die  ganze  Erdoberfläche  wegen  ein  grund- 
legendes Princip  für  die  Entwickelung  der  Menschheit  enthalten  muss.  Die  Herausgeber 
der  neuen  Ausgabe  der  Encjclopedia  Britannica  hatten  ihn  mit  der  Abfassung  des  Artikels 
Totemism  betraut,  aber  das  Material  wuchs  ihm  unter  den  Händen,  so  dass  er  es  in  dem 
Artikel  nicht  unterbringen  konnte,  und  er  übergiebt  es  nun  in  bester  Ordnung. und  unter 
genauestem  Hinweis  auf  seine  Quellen  in  einer  Art  von  Handbüchlein  dem  Publikum. 
Indess  hat  er  sich  auch  hier  darauf  bcscliränkt,  die  Einzelheiten  des  Totemglaubens  bei 
den  wilden  Völkern  zu  studiren:  er  hofft  jedoch,  nach  weiteren  Ermittelungen  auch  die 
Spuren  desselben  bei  den  civilisirten  Rassen  des  Altorthums  nachweisen  zu  können.  Zum 
Verständnisse  mag  hervorgehoben  werden,  dass  nach  seinen  Mittheilungen  das  Wort  Totem 
(toodaim,  dodaiim,  ododam)  aus  der  Sprache  der  Ojibways  oder  Chippeways  hergenommen 
ist,  wo  es  auf  eine  Wurzel  ote,  possess.  otem  =  Familie  oder  Stamm,  zurückführt.  Der 
Verfasser  definirt  es  als  eine  Klasse  materieller  (iregenstände,  welche  ein  Wilder  mit 
abergläubischer  Ehrfurcht  betrachtet,  weil  er  annimmt,  dass  zwischen  ihm  selbst  und 
jedem  Einzelnen  (member)  dieser  Klasse  ein  inneres  und  zugleich  specielles  Verhfiltniss 
besteht.  Der  Totem  unterscheidet  sich  von  einem  Fetisch,  insofern  er  niemals  ein  einzelnes 
Individuum,  sondern  stets  eine  Klasse,  und  zwar  meist  von  belebten  Wesen,  viel  seltener 
eine  Klasse  von  unbelebten  Naturobjekten,  am  seltensten  eine  Klasse  von  künstlich  her- 
gestellten Gegenständen  bedeutet.  Der  Verfasser  unterscheidet  3  Hauptformen  davon:  den 
Totem  des  Clans,  den  des  Geschlechts  (sex)  und  den  des  Individuums,  aber  er  erkennt  an, 
dass  damit  die  vorkommenden  Einzelfälle  nicht  erschöpft  sind,  indem  es  auch  Totems 
ganzer  Stämme  (tribes)  giel)t  und  zwischen  den  Stammestotems  und  den  Clantotems  noch 
eine  dritte  ünterabtheilung  existirt,  die  er  nach  dem  Vorgange  von  L.  H.  Morgan  ab 
Totems  einer  Pliratrie  bezeichnet.  Die  Phratrie  ist  die  exoganiische  A])theilung  innerhalb 
eines  Stammes,  welche  mehrere  Clans  umfasst  (p.  GO).  Er  bespricht  dann  in  Verbindung 
mit  den  (Uantotems  die  religiöse,  in  Verbindung  mit  den  individuellen  Totems  die  sociale 
Seite  des  Dogmas,  und  zeigt  schliesslich,  wie  die  Totems  sich  im  Laufe  der  Zeit  überall 
da  in  anthrop()mori)hische  Götter  mit  thierischen  Attributen  umgewandelt  haben,  wo  das 
Volk  zu  dauernder  Sesshaftigkeit  und  zu  wirklicher  Fixirung  der  Glaubenssätze  gelangte. 
So  findet  er  die  locule  Ausgestaltung  des  Totem -Glaul)ens  am  auffälligsten  in  Polynesien, 
wo  die  Beschränkung  der  Stämme  auf  einzelne  Inseln  oder  Inselgnqipen  weitere  Ver- 
8chiel>ungen  und  Umgestaltungen  des  einmal  iixirten  Aberglaubens  hinderte.  Hier,  z.  H.  in 
Samoa,  entstand  in  der  That  eine  Annäherung  an  einen  Totem -Oljmpos  (p.  88).  Sonder- 
barerweise will  es  dem  Verfasser  nicht  gelingen,  eine  annelmibar«*  Erklärung  des  Ursprunges 
des  Totem -Glaubens  zu  finden  (p.  95).  Er  übersieht,  dass  sich  darin  das  dunkle  (lefühl 
des  Darwinismus  äussert,  welches  eme  vi'rwandtschaftliche  Beziehung,  ja  eine  Gemeinsam- 
keit der  Abstammung  für  verschi<Mlene  Klassen  der  lebendigen  Welt  aufsucht,  imi  die 
vorausgesetzte  Einheit  der  bewegenden  Kräfte  in  ahnungsvollen  Bildern  darzustellen.  Wie 
der  Mensch  sein  Verhältniss  zu  (lott  oder  zu  Göttern  anthro])omorpliisch  construirt,  so 
gelangt  er  ganz  natürlich  dahin,  sein  Verhältniss  zu  der  belebten  Natur  theromorphisch 
aufzubauen.    Sobald  er  dieses  Verhältniss  personificirt,  so  hat  er  seinen  Totem. 

RiTD.  Virchow. 


t  Huni>]rriiphir 


■A*onlllch«T  L'"hpr- 

•-  •»lh«t  >ti>n  Narlt- 

Munlnn  k»nlta«i:ir)i«n 

lUvun  jat,  ilic  Ort- 

'•f\l^n  (rflt  ili»«  »im 

mit  «inM-  StfJifr- 

li(Iii>iini>r  uiueti 

I    <lin*imi  f;iuixi-'n 
r<  ilicb  briiiei  «r 

.   "Ihm,   wrieW 

â– rw&hnt  lint. 

â– 11*  Autinion 

'II'  Kobaa  ttuT- 

â–   itHi.  B.:.r>y). 


-Mi   w«rt1i*<>t]c  Mit- 

«Inil,  .!flrr-n  RrwÜi- 

;  VorfMtrr  lUrin  »ncti 

uii<l  er  ti&llc  iii^luiirh 

1.    dttch  nli'lil  rrkjiliiiti', 


iiirli^iTl.   bit 


1 66  Besprecliimgen. 

geschichte  recht  wenig  zu  thun  haben.  Hund  und  Katze,  Pferd  und  Esel,  Schaf  und  Ziege, 
Rind  und  Schwein,  ja  selbst  das  Huhn  müssen  sich  getrösten,  bis  bei  einer  in  Aussicht 
genommenen  Portsetzung  die  Reihe  an  sie  kommen  wird.  Wenn  der  Verfasser  sagt,  die 
gelehrte  Welt  sei  darüber  einig,  dass  „ein  brauchbares  Buch  über  die  Thierwelt  des  Alter- 
thums  ein  wirkliches  Bedürfniss  der  gegenwärtigen  wissenschaftlichen  Forschung  sei**, 
so  fühlt  er  doch  selbst,  dass  sein  Buch  nur  ein  Anfang  zu  dem  ersehnten  Buche  sei. 
Aber  auch  abgesehen  von  der  sonderbaren  Auswahl  der  Thiere,  dürfte  die  Methode  der 
Darstellung  manche  Enttäuschung  bringen.  Der  Verfasser  häuft  eine  ungeheure  Fülle 
von  Cituten,  welche  nachzuschlagen  ein  starkes  Stück  Arbeit  sein  würde,  aber  er  erleichtert 
dem  Leser  die  Aufgabe  nicht  einmal  dadurch,  dass  er  wenigstens  die  Stellen  der  Haupt* 
aut^ren  wörtlich  wicdergie])t  und  erörtert.  Wie  es  uns  scheint,  sollen  Bücher  dieser 
Art  belehrend  und  unterstützend  wirken  nach  zwei  Richtungen:  einerseits  indem  sie  dem 
Philologen  das  zoologische  Wissen  näher  ])ringen,  andererseits  indem  sie  dem  Zoologen 
das  philologische  Handwerkszeug  zur  Verfügung  stellen.  Diess  ist  offenbar  nicht  erreicht 
worden.  Wir  wollen  nicht  von  so  ostensiblen  Irrthümem  sprechen,  wie  der  auf  S.  137, 
wo  der  Verfasser  von  dem  Gott  der  Liebe  redet,  ^den  ein  pompejanischer  Künstler  sehr 
glücklich  als  auf  einem  gezäumten  Tiger  reitend  dargestellt  hat**;  in  seiner  Anmerkung  75 
auf  Seite  383  erwähnt  er  selbst,  dass  Andere  darin  den  liacchischen  Genius  .\kratos  gesehen 
haben,  ^den  man  hier  auf  dem  „Löwen"  reitend  hat  ünden  wollen".  Wie  jemand,  der 
auf  diese  Weise  gewanit  worden  ist,  in  dem  lang  bemähnten  Thier  einen  Tiger  erkennen 
kann,  das  ist  in  der  Zeit  der  zoologischen  Gärten  einfach  unverständlich»  Aber  dass  er 
für  die  Erörterung  de;;  Verhältnisses  von  Bos  primigenius  und  Bison,  dessen  deutschen 
Namen  er  mit  einc^in  e,  Wiesent,  schreibt,  auf  die  ganze  grosse  wissenschaftJiche  Literatur  über 
diesen  (xegenstand  verzichtet  und  nur  einige  populäre  zoologische  Schriftsteller  heran- 
zieht, das  beweist  doch,  dass  er  sich  die  Bedeutung  des  ersehnten  „brauchbaren"  Buches 
nicht  ganz  klar  gemacht  hat.  Wir  wollen  mit  diesen  Ausstellimgen  nicht  gesagt  haben, 
dass  die  .Vrbeit  des  Verfassers  eine  werthlose  sei;  im  Gegentheil  erkennen  wir  an,  dass 
manche  Abschnitte  einen  reclit  umfassenden  Blick  in  die  Vorstellungen  der  Alten  von 
gewissen  Tliieren  gestatten.  Um  so  mehr  schien  es  uns  aber  erforderlich,  den  Verfasser 
vor  den  Abwegen  zu  warnen,  die  auf  diesem  schwierigen  (Jehiete  in  so  grosser  Zahl  vor- 
handeu  sind  und  die  zugleich  so  nahe  liegen.  Rud.  Virciiow. 


ERNEST  ChANTRE.     Roohorchos  aiithropologitiiu^s  dims  le  Caucaso.     Paris 
ot  Lyon,    K(»inwal(l  ot  Henri  (leorg.     1885  —  87.     Kl.  Fol.    mit    zahl- 
rcMchen  Tafoln,  Karton  und  Holzschnitten. 
T.    I:     Periode  prehistorique,  avec  une  carte  (»t  6  Planches. 
„    II:     Periode»   protohistorique.     Texte  avec  184  gravures.     Atlas  do 

(>7  Planches. 
„  HI:     Periode  historiquc».    Tc^xte  avec  4()  gravun^s.    Atlas  de  28  PL 
„  IV:     Populations  actuelles  avec  44  gravures.     Atlas  d<»  31  PL  avec 
une  carte  ethnologique  du  Caucase. 

Schon  die  blosse  Aufzählung  der  einzehien  Abtheilungen  dieser  reich  ausgestatteten 
Publikation  zeigt,  dass  wir  eines  der  umfangreichsten  anthroiiologischen  Werke  vor  uns 
haben,  welche  überhaupt  erschienen  sind.  Der  Verfasser  ist  seit  langen  Jahren  bekannt 
durcli  die  glänz^^nde  und  doch  durchaus  sachlich  gehaltene  Ausstattung  seiner  archäo- 
logischen Schriften,  und  zugleich  durch  das  hohe  Maass  von  Zuverlässigkeit  und  Originalität, 
welches  seine  Arbeiten  auszeichnet.  Keine  von  allen  unifasst  aber  ein  so  grosses  und 
zugleich  so  wenig  bekannt«'s  (iebiet,  und  niemals  zuvor  hat  der  Verfasser  in  so  über- 
raschender Weise  sein  Talent  gezeigt,  das  vorhandene  Material  aufznlinden  und  zu  einem 
Gesammtbilde  zusammenzufassen.  Die  Bedeutung  eines  solchen  Werkes  für  die  vergleichende 
Arrhäi>h)g\o  und  Aulhropologie  wird  erhöhl  durch  die  vortretllichen  Abbildungen,   welche 


Besprechungen.  167 

mit  eiuiT  Saii]u*rki>it  und  (fenaui^^keit  |jrt'zoirhii(*t  sind,  dass  sie  den  Mangel  der  Originale 
für  viflf  F«»rsr]uT  orsetzon  könnten.  Der  l{«*foreut,  (ier  sich  selbst  auf  diesem  schwierigen 
(â– cliii>te  versucht  hat  und  der  mit  Dank  anerkennt,  dass  der  Verfasser  die  Mtmographic 
üher  das  (iräbcrfcld  von  Kolian  mit  Wanne  bt'urtheilt,  empfindet  doppelt  stark,  <lass  ein 
HO  grosses  rntcniohmeu  in  dem  engen  Ilahmen  einer  Besprechung  nicht  genügend 
gescliildort  werden  kann.  Der  wirkliche  Forscher  muss  sich  selbst  an  das  Studium 
machen:  hier  können  nur  gewisse  Hinweise  gegeben  werden  auf  die  Hauptergebnisse  und 
Hauptgegenstande  der  Darstellung. 

Was  die  ersteren  anbetrifft,  so  sieht  sich  der  Ueferent  meist  in  wesentlicher  Ueber- 
einstimnmng  mit  dem  Verfasser.  In  der  Monographie  über  K(d)an  hat  er  selbst  den  Nach- 
weis versucht,  dass  der  Kaukasus  mit  Unreclit  als  die  Wiege  der  sogenannten  kaukasischen 
Kasse  angesehen  sei,  und  dass  ebenso  die  alte  Cultur  des  Landes  fem  davon  ist.  die  Ori- 
ginalität zu  besitzen,  welche  man  bei  ihr  vorausgesetzt  hatte,  (janz  besonders  gilt  dies  von 
der  Metallcultur,  «leren  Anfange  gerade  von  liandsleuten  des  Verfassers  mit  einer  Sicher- 
heit in  das  kaukasische  (iebiet  versetzt  worden  sind,  welche  auf  den  Nichtkenner  einen 
imponin*nden  Kindruck  machen  musste.  Hr.  Chantre  erkennt  an,  was  Ueferent  durch 
eine  Iteihe  ron  Nachforschungen  schon  vorher  sichergestellt  hatte,  dass  in  diesem  ganzen 
tiebiete  keine  natürliche  Lagerstatt«»  eines  Zinnerzes  aufgefunden  ist.  Freilich  bringt  er 
^T.  IL  Atlas  IM.  XXX.  Fig.  11)  et  20'  zwei  verzierte  MetalNcbeiben  .,von  Zinn"  aus  Koban. 
aber  ohne  weiteren  Nachweis  der  Natur  des  Metalls.  Es  sind  offenbar  dieselben,  welche 
Hr.  Olshausen  (Verhandl.  der  Berliner  anthr<»p.  üesellsch.  18S3,  S.  *.)4)  erwähnt  hat, 
und  von  denen  Beferent  es  wahrscheinlich  zu  machen  suchte,  dass  sie  aus  Antimon 
bestehen.  Seitdem  sind  im  Wiener  Hofmuseum  derartige  Schmuckstücke  aus  Koban  auf- 
gefunden worden,  welche  in  der  That  aus  Antimon  gefertigt  sind  (Verhandl.  18S7,  S.  r»ö^)). 

Der  Verfasser  scheint  mit  dem  Nachweise  des  Antimons  in  den  Zierstücken  des  Kau- 
kasus nicht  einverstanden  zu  sein.  lu  der  Schilderung  der  Funde  von  Redkin- Lager 
gedenkt  er  zuerst  der  Bronze,  dann  des  Eisens:  darauf  fährt  er  fort:  un  autre  metal, 
Tantimoine  (?)  aurait  ctc  renc<mtre  par  Bayern  ;T.  IL  Texts  p.  172).  Dieser  Passus  wäre 
wohl  nicht  geschrieben  worden,  wenn  der  Verfas.ser  nicht  mit  einer  auffälligen  Beliarrlich- 
keit  die  Verhandlungen  der  Berliner  anthropologischen  Gesellschaft  bei  Seite  liegen  liesse, 
die  doch  seit  einer  Reihe  von  Jahren  die  kaukasische  Anthropologie  und  Archäologie  in 
immer  neuer  Weise  beliandelt  liaben.  Abgesehen  dav«»n.  dass  darin  ganz  werthvolle  Mit- 
theilungen über  Steingeräthe,  r»rouzen,  Völker  und  Schä<lel  enthalten  sind,  deren  Erwäh- 
nung das  grosse  Werk  nicht  v«*runziert  haben  würde,  so  hätte  der  Verfasser  darin  auch 
die  Beweise  finden  können,  dass  das  fragliche  Metall  Antimon  ist,  und  er  hätte  zugleich 
ersehen  können,  warum  Bayern,  ol>wohl  er  die  Gegenstände  fand,  doch  nicht  erkannte, 
dass  sie  aus  .\ntimon  bestehen. 

Diese  Anfühnmg  könnte  zu  lang  für  den  vorliegenden  Zweck  erscheinen,  aber  sie 
rliarakterisirt  zugleich  das  sonderbare  Verhältniss.  in  welchem  sich  die  deutsehe  j)eriodische 
Literatur  zu  der  französischen  Wissenschaft  befindet  Die  üelegonlieit,  wo  eine  so 
bedeutungsvolle  Arbeit  eines  so  gewissenhaften  Forschers  zur  Besprechung  vorliegt,  ist 
eine  so  seltene  und  zugleich  so  lelirreiche,  dass  Referent  si<'h  nicht  entlialten  konnte,  diesen 
offen  daliegenden  Schaden  auch  einmal  öffentlirh  zu  bezeichnen. 

Der  Verfasser  kommt  auch  darin  zu  einem  ähnlichen  Ergebniss,  wie  es  der  Referent 
seiner  Zeit  dargelegt  hatte,  dass  er  die  kaukasis<'he  Metallcultur  weder  von  Norden,  noch 
Von  Wi'st«*n  ableitet,  dass  er  vielmehr  auf  südliehe  und  südöstliche  Wege  des  Imports  hin- 
weist. Wenn  er  dabei  in  dem  herkömmlichen  Schema  zuletzt  bis  nach  Indien  gelangt, 
so  widerstreitet  das  allerdings  der  Auffassung  des  Referenten,  der  sich  bis  jetzt  vergeblich 
bemüht  hat,  irgen<l  welche  ausreichenden  Beweise  für  die  Ableitung  der  Bronze  aus  dem 
(rangesgeliiete  aufzufinden.  Eine  nahe  Verwandtschaft  der  kaukasischen  Gräberfelder  der 
Bronzf-  und  beginnenden  Eisenzeit  mit  der  Hallstattcultur  nimmt  der  Verfasser  an,  aber 
er  gesteht  auch  di**  Besonderheit  der  kaukasisrhen  ("ultur  zu,  die  er  als  .koi»anienne** 
bezeichnet.  Nicht  ersichtlich  i.st  es,  warum  er  diese  (Kultur  eine  prot (»historische  nennt; 
dem  Referenten  wenigstens  ist  bis  daliin  niclits  aufgestossen,  wodurch  irgend  eine  siehere 
Beziehung  der  kobanischcn  (iräberfelder  zu  einem  bestimmten  historischen  Volke  erkennbar 
geworden  wäre. 


1 68  Besprochungen . 

Die  historischo  Zoit  des  Kaukasus  nennt  der  Verfasser  die  scythisch  -  byzantinische 
Epoche.  Sowohl  über  diesen  Namen,  als  auch  über  die  Interpretation  der  Pnnde,  als  diese 
Epoche  anj^ehörig,  lässt  sich  streiten.  Sicherlich  erstrecken  sich  manche  Gräberfelder,  z.  B. 
das  von  Komunta,  wie  wir  es  ausdrücken  würden,  zugleich  über  prähistorische  und  über 
historische  Zeiträume,  aber  es  wird  eine  feste  Ansicht  darüber,  sowie  über  die  Frage,  ob  das- 
selbe Volk  während  der  ganzen  Zeit  seine  Todten  an  dieser  Stelle  begraben,  ob  also  nur  die 
Cultur  oder  das  Volk  selbst  gewechselt  hat.  sich  wohl  nicht  eher  gewinnen  lassen,  als  bis 
mehr  systematische  Ausgrabungen  gemacht  worden  sind.  Die  Auffassungen  des  alten  Bayern 
hatten  häufig  etwas  Phantastisches,  aber  seine  Methode  der  Ausgrabungen  war  eine  sehr  genaue 
und  umsichtige.  Ihm  speciell  verdanken  wir  die  genaue  Scheidung  der  Gräberin  Samthawro. 
Aber  er  würde  nicht  wenig  erstaunt  gewesen  sein,  die  oberen  Gräber  von  Samthawro  einer 
scythobyzantinischen  Epoche  zugeschrieben  zu  sehen.  Was  haben  die  Scythen  mit  Trans- 
kaukasien  zu  thun  ?  Und  wie  will  man  es  rechtfertigen,  den  Einfluss  der  Römer,  die  doch 
bis  hierher  kamen,  und  den  noch  frühereu  der  Griechen  dem  der  Byzantiner  unterzuordnen  y 
Der  Mangel,  welcher  hier  hervortritt,  würde  wahrscheinlich  vennieden  sein,  wenn  der 
Verfasser  selbst  Ausgrabungen  auf  einer  grösseren  Zahl  von  Gräberfeldern  dieser  ..Epoche" 
vorgenommen  hätte.  So  ist  er  liäufig  auf  die  Angaben  zweifelhafter  Gewährsmänner 
beschränkt,  welche  durch  Bestimmtheit  der  Aussagen  ergänzen,  was  ihnen  an  wirklicher 
Kenntniss  der  Verhältnisse  abgeht.  Hier  wird  die  künftige  Forschung  stark  zu  sichten 
haben.  Trotzdem  ist  es  ein  Gewinn,  wenigstens  eine  Uebersicht  des  Materials  zu  haben. 
Darin  sind  ja  die  Fingerzeige  für  die  mehr  kritische  Nachforschung  gegeben. 

Dasselbe  dürfte  zum  Theil  ffir  die  craniologischen  Mittheilungen  des  Verfassers  gelten. 
Wie  schwer  es  ist,  für  Schädel,  die  man  nicht  selbst  ausgegraben  hat,  sichere  Angaben 
zu  erhalten,  und  noch  mehr,  wie  fast  unmöglich  es  ist,  für  jeden  Schädel,  den  man  in 
einer  Höhle  oder  einem  Beinhause  findet,  seine  chronologisclie  und  ethnologische  Zu- 
gehörigkeit zu  bestinmien,  das  weiss  jeder,  der  sich  mit  Craniologie  beschäftigt.  Ich 
betone  diess  namentlich  in  Betreff  des  mir  genau  bekannten  Friedhofes  bei  Unter -Koban, 
den  der  Verfasser  abgesucht  hat  und  den  er  den  Tschetschenen  zuschreibt  Ich  habe 
über  denselben  in  meiner  Monographie  über  Koban  S.  5  das  an  Ort  und  Stelle  von  mir 
Ennittolte  zusammengestellt:  darnach  habe  ich  nicht  den  mindesten  Zweifel  daran,  dass  es 
ein  ossetischer  Bestattungsplatz  ist.  Auch  tritt  bei  der  Schädelmessung  die  immer  noch 
fortbestehende  Differenz  der  französischen  und  deutschen  Methode  recht  störend  hervor. 
Wer  noch  nicht  überzeugt  ist,  dass  die  deutsche  Horizontale  der  französischen  vorzuziehen 
ist,  der  wird  es  durch  die  Betrachtung  der  im  Uebrigen  vortrefflich  gezeichneten  Schädel 
werden.  Man  vergleiche  z.  B.  das  den  defonnirten  Schädeln  gewidmete  Uebersichtsblatt 
in  T.  II.  p.  124,  welches  die  Phantasie  auf  ganz  umnögliche  Vorstellungen  von  dem  Aus- 
sehen der  Leute  im  Leben  hinleit«'t.  Bei  den  Messungen  ergeben  sich  die  Incongruenzen 
in  der  Zusammenstelhmg  der  Resultate  des  Verfassers  mit  denen  des  Generals  v.  Er  c kort, 
die  er  in  grosser  Ausdehnung  und  mit  allem  Detail  heranzieht,  (ilücklicherweise  sind  die 
anthropologischen  (Charaktere  dieser  Stämme  so  ausgesprochene,  dass  nicht  zu  viel  darauf 
ankommt,  ob  diese  oder  jene  Methode  angewendet  ist,  wenigstens  so  lange  nicht,  als  man 
nicht  in  der  Forscliung  näher  an  den  Zusammenhang  und  die  Urspriinge  der  Stämme 
heranriickt,  als  es  der  Verfassi'r  gethan  hat.  Der  Fleiss,  sowohl  in  der  Erhebung  der 
Zahlen,  als  in  der  Bearbeitung  ilersell)en,  tritt  auch  hier  überall  in  bewundemswerther 
Weise  hervor :  man  muss  selbst  in  diesen  Dingen  gearbeitet  haben,  um  zu  ermessen,  welche 
Fülle  von  Arbeit  in  di«*s('n  Mittheilungen  verborgen  ist. 

Wir  können  also  zum  Schlüsse  nur  noch  einmal  die  Freude  darüber  ausdrücken,  dass 
es  dem  Verfasser  besrbieden  gewesen  ist,  ein  so  grosses  Werk  zu  Ende  zu  führen.  Zweifel- 
los wird  sein  Hucli  für  die  Folgezeit  in  nicht  minder  dauenider  Erinnerung  bleiben,  wie 
das  von  Dubois  de  Montj>ereux,  mit  dem  es  sich  in  so  vielen  Beziehungen  begegnet. 
Es  wird  holfentlirh  sehr  viel  dazu  betragen,  die  ausschweifenden  und  haltlosen  Schwär- 
mereien vieler  (Jelehrten  über  kaukasische  Anthropologie  und  Archäologie  zu  unterdrücken 
und  Vorstelluniren,  welclie  auf  das  Stn<liuni  der  wirklieben  Verbältnisse  gegründet  sind, 
an  deren  Stelle  zu  setzen.  Hi:i>.  Viuciiow. 


V. 

Culturelle  und  Rassenunterschiede  in  Bezug  auf  die 

Wundkrankheiten. 

Von 

Dr.  MAX  BARTELS'). 


Wundfieber  und  Blut-  und  Eitervergiftung,  die  sogenannten  acciden- 
tellen  Wundkrankheiten,  sind  auch  dem  Nichtmediciner  ganz  bekannte 
Begriffe.  Letztere  pflegten  nicht  selten  den  schwereren  Verletzungen  zu 
folgen,  w&hrend  das  erstere  als  eine  so  sichere  und  gewöhnliche  Begleit- 
erscheinung selbst  auch  nur  leichter  Verwundungen  betrachtet  wurde,  dass 
man  bei  solchen  mit  unbedingter  Zuversicht  auf  den  Eintritt  des  Wund- 
fiebers rechnete.  Den  letzten  zwei  Jahrzehnten  war  es  vorbehalten,  den 
Beweis  zu  liefern,  dass  die  genannten  Erkrankungen,  wie  so  viele  andere, 
durch  das  Eindringen  specifischer,  mikroskopisch  kleiner  Keime,  der 
sogenannten  Sepsis-  oder  Fäulniss- Erreger,  in  den  Organismus  bedingt 
würden,  deren  Fortpflanzung  und  enorme  Vermehrung  im  Inneren  der  Gewebe 
des  Körpers  alle  diese  Krankheitserscheinungen  hervorriefen. 

Die  moderne  Chirurgie  hat  es  unter  JOSEPH  LiSTER's  Vorgange 
bekanntlich  gelernt,  durch  ihre  antiseptische  Methode  mit  fast  absoluter 
Sicherheit  den  Verletzten  vor  dem  Eindringen  dieser  septischen  Keime  zu 
bewahren,  und  dadurch  seine  Wundheilung  zu  einer  schnellen,  fieberfreien 
und  gefahrlosen  zu  gestalten. 

Das  war  nun  aber,  wie  gesagt,  ganz  anders  vor  noch  nicht  gar  zu 
langer  Zeit,  und  für  ganz  besonders  gefahrbringend  galten  alle  tieferen, 
unregelmässigen,  gerissenen  und  gestochenen  Wunden,  alle  Verwundungen, 
bei  denen  gleichzeitig  auch  die  Knochen  mit  verletzt  waren,  alle  Eröff- 
nungen der  grossen  Körperhöhlen  und  Gelenke  und  alle  Läsionen  der  blut- 
reichen Theile  des  männlichen  und  weiblichen  Genitalapparates. 

Wenn  wir  nun  einerseits  die  soeben  erwähnten  Gefahren  kennen, 
welche  bei  den  Culturvölkem  trotz  der  grössten  Vorsicht  und  sorgfältigsten 
Pflege  sich  nicht  vermeiden  und  ausschliessen  Hessen,  und  wenn  wir  anderer- 
seits von  schweren  Verletzungen  und  von  operativen  Kingriffen  gefahrlichster 
Art    hören,    welche    die    auf  niederer  Culturstufe  sich  befindenden  Völker 

1)   Nftch  einem  in  der  Freien  Vereinigung  der  Chirurgen  Berlins  am  10.  Januar  1887 
gehaltenen  Vortrage. 

Z«ittehrill  für  Bthnologi«.    Jahrf.  1889.  12 


160  ^  QufiDEHFBLDT:  Eintheüung  und  Verbreitung  der  BerberbeTölkerung  in  Marokko. 

umher.  Bis  er  durch  eine  hervorragend  kühne  That  die  Schmach  ab- 
gewaschen hat,  wird  er  mit  Hohn  und  Spott  überhäuft.  Bei  einigen  Stämmen 
wird  der  Feigling  von  den  Frauen  mit  Hennabrei  beworfen,  ein  symbolisches 
Zeitshen,  dass  man  ihn  einem  Weibe  gleichachtet.  ^)  Gewöhnlich  zwingt 
man  ihn  auch,  nach  allen  Anderen  aus  der  gemeinsamen  Schüssel  zu  essen, 
indem  man  sagt:  „Wer  nicht  der  Erste  im  Kampfe  war,  soll  auch  nicht 
der  Erste  in  der  Schüssel  sein."  In  der  That  giebt  es  wenige  Männer 
unter  den  Breber,  welche  nicht  eine  oder  mehrere  Verwundungen  auf- 
zuweisen hätten. 


1)   Vergl  meine  Mittheil,  in  den  Verhandl.  dieser  Zeitschr.,  Jahrg.  1886,  S.  677. 


Besprechungen. 


KdwaRD  M.  CüRR.  Tho  Australian  Raco:  its  ()rij2;in,  languago,  oiistoins, 
place  of  landing  in  Aii8tralia  and  tho  roiitcs  by  whicb  it  8]>roa<rit8olf 
ovor  that  continont.  Molboume,  tl.  Forros.  an<l  London,  Tröbnor. 
188<)  — 7().  Vol.  I  — III  in  8  mit  Abbildungen,  Vol.  IV  gr.  Folio  mit 
einer  Karte. 

Das  uinfangroirhe,  auf  Kosten  der  lle^erung  der  (Kolonie  Victoria  pednickt^»  Werk 
enthält  wühl  die  vollständigste  Darstellung  der  his  jetzt  bekannt  gewordenen  wilden 
St&mine  Australiens  und  vielleicht  auch  die  am  sorgfältigsten  gearbeitete.  Der  Verfasser 
erhebt  gegen  seine  Vorgänger  starke  Vorwürfe  wegen  ihrer  Irrthümer,  so  namentlich  gegen 
Mr.  K.  Brough  Smyth  (1.237),  aus  dessen  Buche  er  übrigens  fast  alle  seine  Ab- 
bildungen entnommen  hat,  da  dasselbe  gleichfalls  auf  Kosten  der  Kegiemng  publicirt  ist. 
Den  grossten  Theil  des  vorliegenden  Werkes  nehmen  Detailberichte  zahlreicher  Local- 
beol»achter  über  die  einzelnen  Stämme  ein,  welche  fast  ganz  Australien,  so  weit  es  schon 
colonisirt  ist,  umfassen  und  in  welchen  insbesondere  die  Vocabularien  eine  grosse  Rolle 
spielen.  Aus  b^tzteren  hat  der  Verfasser  ein  vergleichendes  Vocabular  zusammengestellt, 
welches  die  Foliolisten  des  1.  Bandes  füllt  und  den  zahlreichen  linguistischen  Betrach- 
tungen, welche  er  anstellt,  zur  Grundlage  dient.  Leider  scheinen  dem  Verfasser 
tiefere  grammatikalische  Kenntnisse  zu  fehlen,  um  weitergehende  Erörterungen  über  den 
inneren  Bau  der  Sprache  und  ihrer  Dialekte  zu  veranstalten. 

Das  erste  Buch,  9  Capitel  umfassend,  bringt  die  allgemeinen  Betrachtungen  des  Ver- 
fassers nebst  seinen  Conclusionen  über  Abstammung  und  Ausbreitung  der  Eingebomen. 
Kr  hält  sich,  hau])tsächlic*h  auf  Grund  linguistischer  Analogien,  für  berechtigt,  die  Australier, 
die  er  als  eine  einheitliche  Rasse  betrachtet,  von  den  Negern  Afrikas  abzuleiten,  freilich 
in  einer  sehr  frühen  Zeit,  als  diese  weder  Bogen  und  Pfeile,  noch  die  Buchstaben  f  und  s 
kannten.  Sonderbarerweise  kommt  er  dabei  auf  die  „fossilen"  Ueberreste  von  Menschen 
in  Australien  und  auf  den  Dingo  nicht  zu  sprechen.  Soweit  ersichtlich,  nimmt  er  die 
jetzige  gecdogische  Beschaffenheit  von  Australien  schon  als  abgeschlossen  an,  als  die  erste 
Einwanderung  von  Afrika  aus  erfolgte,  wie  er  denn  auch  die  weite  Meeresfläche  nebst 
ihren  Inseln  sich  in  ihrer  heutigen  Gestalt  vorstellt.  Freilich  erkennt  er  an,  dass  die 
physische  Beschaffenheit  der  jetzigen  Australier  von  der  jedes  bekannten  Negerstammes 
abweicht,  und  dass  auch  ihre  Sprache  nähere  Verwandtschaft  zu  irgend  einer  bekannten 
Negersprache  nicht  darbietet.  Letzteres  erklärt  er  aus  der  Länge  der  verfl(>ssenen  Zeit, 
während  welcher  die  afrikanischen  Sprachen  sich  weiter  entwickelten,  die  australischen 
<]agegen  in  einem  Beharrungszustande  blieben,  in  dem  sie  n(»ch  jetzt  geeignet  seien,  ein 
Bild  von  der  Ursprache  der  afrikanischen  Nejjer  zu  liefeni.  Die  physische  Differenz  glaubt 
er  aus  einer  .Mischung  mit  frenuien  Elementen  während  der  Ueberwanderung  ableiten  zu 
dürfen,  w«'nngleich  er  nicht  anzugeben  vermag,  welche  Elemente  diess  gewesen  sein  könnten. 
Di(*ss  ist  wohl  der  schwächste  Punkt  seiner  Darstellung,  um  so  schwächer,  als  er  auch  die 
Papuas  von  N«*u-<fuinea  aus  einer  Mischung  eingewandert^T  afrikanischer  Neger  mit 
Zukömmlingen  entgehen  lässt,  und  als  er  deren  Einwanderung  in  eine  ungleich  spätere 
Zeit  verlegt,  als  die  der  Australier.  Den  Gedanken,  dass  die  Einflüsse  des  neuen  Vater- 
landes, insbesondere  Klima  und  Lebensweise,  den  physischen  ('harakter  der  Einwan<lerer 
verändert  haben  möchten,  beriihrt  er  kurz,  um  ihn  definitiv  abzuweisen,  obwohl  sich  dafür 
doch  Mancherlei  sagen  Hesse.  Dagegen  ist  ihm  der  andere  (redanke  nicht  gekommen, 
wie  es  zugegangen  sei,  da^s  die  Einwanderer  nach  einer  so  langen  Meerfahrt,  die  nicht 
•>inmal  in  einem  Zuge  ausgeführt  sein   soll,   plötzlich   in  so  ausgemachte  Landratten  yer- 


162  Be8pr«c]iiiiigeiL- 

wandelt  worden  tdnd,  dass  sie  alle  weiteren  Seefahrten  aufgegeben  haben.  Die  BescIiafTen* 
heit  des  Landes  könnt«  ihnen  doch  kaum  so  verführerisch  erscheinen. 

Mit  Entschiedenheit  erklärt  sich  Verfasser  ffir  die  Einwanderung  einer  einzigen  Gesell- 
schaft (party)  oder  höchstens  einiger,  die  unmittelbar  verschmolzen.  Als  Platz  der  Landung 
sieht  er  die  Gegend  von  Caniden  Harbour,  124°  30'  L.,  an  der  Nordküste  an,  von  wo  im  Laufe 
der  Zeit  drei  verschiedene  Ströme  von  Wanderungen  ausgegangen  seien:  eine  westliche, 
eine  östliche  und  eine  centrale.  Indem  die  ersteren  sich  längs  der  Küste,  die  letztere 
quer  durch  den  Continent  verbreiteten,  stiessen  sie  endlich  an  der  Südküste  auf  einander. 
Hier  findet  er  in  der  Gegend  zwischen  Lacepede  Bay  und  Streakj  Bay  die  KüstenstÄmme 
durch  Abzweigungen  der  centralen  unterbrochen.  Eine  grosse  Karte  erläutert,  die  Ver- 
hältnisse in  anschaulicher  Weise.  Die  Hauj»tunterschiede  der  Stämme  je  nach  den  drei 
verschiedenen  Strömen,  zu  denen  sie  gehören,  liegen  nach  ihm  darin,  dass  die  östlichen 
ihre  Sprachen  nach  negativen  Adverbien  benennen  und  weder  Circumcision,  noch  jene 
bekannte  Spaltung  der  Urethra  bei  Männern,  welche  Verfasser  den  terrible  rite  nennt, 
ausüben,  während  diess  bei  den  centralen  geschieht,  die  jedoch  ihre  Sprachen  nicht  nach 
den  negativen  Adverbien  benennen,  und  die  westlichen  weder  Circumcision,  noch  den 
terrible  rite,  noch  die  Benennung  der  Sprachen  nach  negativen  Adverbien  kennen.  Für 
eine  solche  Wanderung  von  Norden  her  sprächen  auch  die  Traditionen  der  Stämme  und 
die  Verschiedenheit  der  Dialekte  unter  nahe  benachbarten  Stämmen  der  Südküste.  Nur 
Cap  York  erhielt  seine  Bevölkerung  von  Süden  her,  der  sich  später  von  Norden  her  eine 
papuanische  Einwanderung  zumischte. 

Es  wird  vorzugsweise  eine  Aufgabe  der  nationalen  Kritik  in  Australien  sein,  die  Richtig- 
keit der  Localangaben  und  der  daraus  abgeleiteten  Schlussfolgerungen  zu  prüfen.  Der 
Standpunkt  des  Verfasers  ist  unverkennbar,  wie  es  sich  bei  einem  so  grossen  anthro- 
pologischen Problem  geziemt,  ein  sehr  hoher,  und  mancher  Local- Widerspruch  wird  für 
diejenigen,  welche  ihm  beitreten,  verschwinden.  Aber  es  wird  doch  einer  sehr  eingehenden 
linguistischen  Prüfung,  auch  Seitens  der  fremden  Philologen,  bedürfen,  um  die  Descendenz 
und  das  relative  Alter  der  einzelnen  StAuimessprachen  festzustellen.  Die  Mittheilungen 
des  Verfassers  über  die  antliropologische  BeschalTenheit  der  Australier  (L  37)  sind  an 
sich  sehr  mager  und  ohne  tieferes  Verständuiss,  namentlich  berühren  sie  die  Frage  von 
etwaigen  Stammesunterschieden  gar  nicht,  während  darüber  doch  wissenschaftliches 
Material  in  Fülle  vorliegt.  Nach  seinem  Literatur\'erzoichnisse  zu  urtheilen,  kennt  Verfasser 
nur  solche  Scliriften,  die  in  englischer  Sprache  geschrieben  sind,  und  selbst  unter  diesen 
scheint  ihm  Alles  fremd  zu  sein,  was  in  eingehender,  wissenschaftlicher  Weise  die  körijer- 
lichen  Eigenschaften  seiner  wilden  Landsleute  schildert.  Um  so  rückhaltloser  dürfen  wir 
dem  Verfasser  imsere  Anerkennung  zollen  über  den  grossen  Fleiss  und  die  Sorgfalt,  mit 
welcher  er  das  Material  zur  Kenntniss  der  Gebräuche  und  socialen  Verhältnisse  in  den 
einzelnen  noch  vorliandenen  Stänmion  gesammelt  hat.  Dieses  Material  wird  vielleicht  tiir 
alle  Zeiten  die  hauptsächliche  Fundgnibe  der  Ethnologen  und  Linguisten  in  Bezug  auf 
die  jetzt  aussterbenden  Urbewohner  des  grossen  südlichen  Continents  sein. 

RUD.  VlBCUOW. 


LitMit.-G(»n.  Pitt  Rivers.    Kxcavations  in  Crjinborno  Chase.    Vol.  L  1887. 
PrinttMl  privately.     (Jr.  4.     254  S.  mit  74  Tafeln. 

Der  in  der  archäologischen  Welt  seit  langen  .lahren  unter  dem  Namen  des  Col.  Lane 
Fox  rühmlichst  bekannte  Verfasser  erzählt  in  seiner  Vorrede,  wie  er  im  Jahre  188()  die 
Itivers  estates  erbte  und  in  F(»lgc  davon  genötbigt  war,  seinen  Namen  zu  wechseln.  Aber 
gerade  diese  Erbschaft  setzte  ihn  in  den  V(dlbesitz  des  Landes,  auf  welchem  er  seitdem 
in  der  erfolgreichsten  Weise  Ausgrabungen  gemacht  hat.  und  gai»  ihm  zugleich  die  Mittel, 
eine  so  stolze  Publikation  auf  eigene  Kosten  zu  veröftentlichen,  wie  es  die  vorliegende 
ist.  Cranbonie  ('hase  ist  ein  grosses  Jagdrevier  in  der  Nähe  von  Rushmore,  auf  der 
Grenze  von  Dorset  und  Wilts,  welches  seit  alten  Zeiten  unberührt  geblieben  ist  und  in 
meinem  Schoosse  zahlreiche  Anlagen  und  Gräber,  namentlich  aus  romisch -britischer  Zeit, 
bewalirt  hat    Oeneral  Pitt  Rivers   hat   die   systematische   Erforschung   dieses  Gebietes 


Bcsprochunpren.  1 63 

hogonnon,  und  indoiii  er  persönlich  alle  Hauptoporationon  h^itolo,  das  Andere  aber  durch 
einen  Stab  wissenschaftlich  pesrlmlter  MAnnor  beaufsirhtijjen  und  sputer  bearbeiten  Hess, 
ein  ebenso  reiches,  als  mit  skrupulöser  <jenani^keit  fresanimeltes  Material  von  Altor- 
thüint^ni  zusaniin<'n^n>brnrht.  Seine  Specialfundlist^n  (Relic  Tablcs)  nehmen  allein  GT)  Seiten 
(p,  IS'.»  — 2r)4'J  •'in.  Da  die  Fortsetzung  der  Arbeiten  beschlossen,  wahrscheinlich  sof^r 
zum  Theil  l»«'w«'rkst*dlij?t  ist,  so  wird  hier  für  <lie  britische  IiOcalforsrhun<j  ein  AVerk  vrm 
jjanz  hervorrav:ender  He<leutuniEr  geboten,  dessen  Werth  auch  für  die  allfremeine  Forschung 
pM-ht  hoch  vfranschlajrt  werden  darf.  Denn  die  Kest<j  der  alt^n  Ansi«*d<dunjjen,  welche 
tJontTul  ritt  Hivers  blossj^olejft  hat,  jrehörten  Briten  aus  der  letzten  Zeit  der  römischen 
n<Trs(baft  odrr  kurz  nachher  an,  von  denen  man  bish«*r  sehr  weni^r  weiss.  Er  fand  die 
tiiTipp«'  dit\s«T  Leute  in  zusammenji^edrangter  Stellung  in  bnmnenartigen  Gruben  (pits): 
sie  p'hörten  einer  kleinen  Hasse  an,  deren  Männer  etwa  5  Fuss  2fi  Zoll,  die  Weil»er  4  Fuss 
*2<M)  Zoll  lang  waren  und  welche  ausgesprochen  dolicho-  und  selbst  hvperdcdicho- 
cephale  Srluldel  besass,  also  Achnliclikeit  mit  der  neolit bischen  Hasse  der  Langgräber 
;long  barrows)  zeigt.  Dieser  ferne  AVinkel  des  Landes,  der  mit  dichten  \Valdung(>n  bedeckt 
war,  diente  den  alten  Bevölkerungen  als  ein  Asyl  v(>r  den  mancherlei  Kindringlingen  und 
Firobereni,  welche  das  übrige  England  überzogen.  Noch  jetzt  ist  hier,  wie  Dr.  Beddoe 
gezeigt  hat,  die  (Jrenze,  wo  die  kleine  dunkelhaarige  und  dunkelfarbige  Rasse  des  Westens 
»•insetzt.  Die  zahln'ichen  Funde,  wohl  bezeichnet,  sind  nunmehr  in  einem  besonderen 
Museum  in  der  Nähe  des  Dorfes  Famham,  Dorset,  gesammelt  und  der  öffentlichen 
Besrhauung  zugänglich  gemacht  worden.  Die  dem  vorliegenden,  höchst  glänzend  aus- 
gestatteten Werke  beigegebenen  Karten  und  Tafeln  erläutern  diese  Funde,  welche  nach 
der  Heihenfolge  der  Abbildungen  ausführlich  beschriel»en  und  in  ihrer  Besonderheit 
besprochen  werden.  Wie  wir  das  schöne  Werk  mit  grosser  Freude  begrüssen,  so  wünschen 
wir  ihm  au<h  ungehinderten  Fortgang  und  dem  Verfasser,  der  seine  erschütterte  Gesund- 
heit als  (inind  seiner  Zurückgezogenheit  angiebt,  noch  lange  Jahre  glücklicher  Forschung. 

RUD.  ViRCHOW. 


A.  Iils.SAUER.  Die  prähistorischen  Denknuller  der  Provinz  Westpreussen 
un<l  <ler  angrenzenden  (lebiete.  Leipzig  1887.  Kl.  Fol.,  110  S.  mit 
einer  prähistorischen  Karte  in  4  Blättern  und  5  Taftdn. 

Der  durch  Fleiss  und  <relehrsamkeit  gleich  ausgezeichnete  Verfasser,  der  so  lange 
Jahre  hindurch  die  archäologischen  Bestrebungen  der  Provinz  Westpreussen  in  seiner 
Person  vereinigt  hat  und  dessen  Thätigkeit  vorzugsweise  das  schnelle  Aufblühen  des  Dan- 
ziger  Museums  zu  danken  ist,  sclireibt  die  Anregung  zu  der  vorliegenden  Arbeit  in  erster 
Linie  dem  Vorgehen  der  Deutschen  anthropologischen  Gesellschaft,  deren  kartographische 
Commission  ihn  zu  ihrem  Mitgliede  erwählt  hatte,  zu.  Die  Schwierigkeit,  eine  gemein- 
same archäologische  Karte  für  ganz  Deutschland  zu  schaffen,  ist  jetzt  wohl  allgemein 
anerkannt,  nnd  es  ist  nur  zu  billigen,  wenn  zunächst  für  einzelne  grössere  Territ^jrien 
die  entsprechenden  Karten  hergestellt  werden,  wie  es  zuerst  für  Schlesien  und  neuerlich 
für  eine  ganze  Reihe  süddeutscher  Gebiete  geschehen  ist.  Aber  der  Verfasser  ist  auch 
in  der  anderen  Beziehung  den  Erfahrungen  gefolgt,  welche  die  praktische  Ausführung 
gelehrt  hat:  er  giel»t  zunächst  für  jede  der  grösseren  (-ulturperioden  besondere  Karten, 
webhe  das  Bild  der  Vertheilung  und  Ansiedelung  der  Bevölkerung  in  ungetriibter  Klar- 
heit bieten.  Diesen  Karten  sind  die  wichtigsten  Fimdobjekte  in  anschaulichen  Abbildungen 
beigefügt  Bis  zum  Ende  des  Jahres  188<J  waren  auf  dem  in  Angriff  genommenen  Fund- 
gelfiete  srlion  l.Vn»  Fundort»»  constatirt.  Ein  ausführlicher,  beschreibender  Katalog  bringt 
eine  übersieht  liehe  Zusammenstellung  aller  Funde  unter  Beigabe  der  Fundberichtc  und 
der  dazu  gehörigen  <'itate.  Für  jede  <^ulturej>o('he  ist  ein  zusammenfassendes  Bild  der 
I^eliens-  und  Gesellschaftsverhältnisse  der  Bevölk«'rung  vorangeschickt,  so  dass  auch  der 
noch  nicht  geschulte  Leser  aus  dem  Studium  des  Werkes  zugleich  diejenigen  Kenntnisse 
schöpfen  kann,  welche  für  das  Verständniss  erforderlich  sind  und  welche  zugleich  den 
Anreiz  zu  eigener  Forschung  gewähren.  Sowohl  die  Anordnung  des  Stoffes,  als  die  Aus- 
führung  könutMi   als   mustergültig   bezeichnet  werden.    Möge  das  schöne  Vorbild  la  ^«lill 


164  Besprechungen. 

Deutschland  und  namentlich  in  den  Provinzen  des  preussischen  Staates  rege  Nacheiferung 
linden.  Die  Herausgabe  des  vortrefflich  ausgestatteten  Werkes  ist,  mit  Unterstützung  des 
westpreuBsischen  Landtages,  von  der  Naturforschenden  Gesellschaft  zu  Danzig  besorgt 
worden.  Rud.  Virchow. 


J.  G.  FrazeR.      Totemism.      Edinburgh,   Adam  &  Charles  Black.      1887. 
12.     96  Seiten. 

Die  kleine  Schrift  bringt  in  gedrängter  Form,  aber  mit  allem  möglichen  Detail  das 
literarische  Material  über  eine  der  dunkelsten  Seiten  des  Volksglaubens,  welche  in  zahl- 
reichen Erscheinungen  des  religiösen  und  socialen  Lebens  zu  Tage  tritt.  Der  Verfasser, 
seinen  Studien  nach  Rechtsgelehrter,  hat,  gleich  so  vielen  berühmten  Forschem  seines 
Vaterlandes,  ein  culturgeschichtliches  Problem  zum  Gegenstande  seiner  Untersuchung 
gemacht,  das  seiner  weiten  Verbreitung  über  fast  die  ganze  Erdoberfläche  wegen  ein  grund- 
legendes Princip  für  die  Entwickelung  der  Menschheit  enthalten  muss.  Die  Herausgeber 
der  neuen  Ausgabe  der  Encyclopedia  Britanuica  hatten  ihn  mit  der  Abfassung  des  Artikels 
Totemism  betraut,  aber  das  Material  wuchs  ihm  unter  den  Händen,  so  dass  er  es  in  dem 
Artikel  nicht  unterbringen  konnte,  und  er  übergiebt  es  nun  in  bester  Ordnung. und  unter 
genauestem  Hinweis  auf  seine  Quellen  in  einer  Art  von  Handbüchlein  dem  Publikum. 
Indess  hat  er  sich  auch  hier  darauf  bescliränkt,  die  Einzelheiten  des  Totemglaubens  bei 
den  wilden  Völkern  zu  studiren;  er  hofft  jedoch,  nach  weiteren  Ermittelungen  auch  die 
Spuren  desselben  bei  den  civilisirten  Rassen  des  Alterthums  nachweisen  zu  können.  Zum 
Verständnisse  mag  her\'orgehoben  werden,  dass  nach  seinen  Mittheilungen  das  Wort  Totem 
(toodaim,  dodaiim,  ododam)  aus  der  Spra<!he  der  Ojibwajs  oder  Cliippeways  hergenommen 
ist,  wo  es  auf  eine  Wurzel  ote,  possess.  otem  =  Familie  oder  St^mm,  zurückführt.  Der 
Verfasser  definirt  es  als  eine  Klasse  materieller  Gegenstände,  welche  ein  Wilder  mit 
abergläubischer  Ehrfurcht  betrachtet,  weil  er  annimmt,  dass  zwischen  ihm  selbst  und 
jedem  Einzelnen  (mcmber)  dieser  Klasse  ein  inneres  und  zugleich  specielles  Verhältniss 
besteht.  Der  Totem  unterscheidet  sich  von  einem  Fetisch,  insofern  er  niemals  ein  einzelnes 
Individuum,  sondern  stets  eine  Klasse,  und  zwar  meist  von  belebten  Wesen,  viel  seltener 
eine  Klasse  von  unbelebten  Naturobjekten,  am  seltensten  eine  Klasse  von  künstlich  her- 
gestellten Gegenständen  bedeutet.  Der  Verfasser  unt^jrscheidet  3  Hauptformen  davon:  den 
Totem  des  Clans,  den  des  Geschlechts  (sex)  und  den  des  Individuums,  aber  er  erkennt  an, 
dass  damit  die  vorkommenden  Einzelfälle  nicht  erschöpft  sind,  indem  es  auch  Totems 
ganzer  Stämme  (tribes)  giebt  und  zwischen  den  Stammestotems  und  den  Clantotems  noch 
eine  dritte  Unterabtheilung  existirt,  die  er  nach  dem  Vorgange  von  L.  H.  Morgan  als 
Totems  einer  Phratrie  bezeichnet  Die  Phratrie  ist  die  exogamische  Abtheilung  innerhalb 
eines  Stammes,  welche  mehrere  Clans  umfasst  (p.  GO).  Er  bespricht  dann  in  Verbindung 
mit  den  (Clantotems  die  religiöse,  in  Verbindimg  mit  den  individuellen  Totems  die  sociale 
Seite  des  Dogmas,  und  zeigt  schliesslich,  wie  die  Totems  sich  im  Laufe  der  Zeit  überall 
da  in  anthropomorphische  Götter  mit  thierischen  Attributen  umgewandelt  haben,  wo  das 
Volk  zu  dauernder  Sesshaftigkeit  und  zu  wirklicher  l^lxirung  der  Glaubenssätze  gelangte. 
So  findet  er  die  locale  Ausgestaltung  des  Totem -Glaubens  am  auffälligsten  in  Polynesien, 
wo  die  Beschränkung  der  Stämme  auf  einzelne  Inseln  oder  Inselgruppen  weitere  Ver- 
schiebungen und  Umgestaltungen  des  einmal  iixirten  Aberglaubens  hinderte.  Hier,  z.  B.  in 
Samoa,  entstand  in  der  That  eine  Annäherung  an  einen  Totem -Olympos  (p.  88).  Sonder- 
barerweise will  es  dem  Verfasser  nicht  gelingen,  eine  annelmibare  Erklärung  des  Ursprunges 
des  Totem -Glaubens  zu  finden  (p.  95).  Er  übersieht,  dass  sich  darin  das  dunkle  Gefühl 
des  Darwinismus  äussert,  welches  eine  vi»n^'andtschaftliche  Beziehimg,  ja  eine  Gemeinsam- 
keit der  Abstanunung  für  verschiedene  Klassen  der  lebendigen  Welt  aufsucht,  um  die 
vorausgesetzte  Einheit  der  bewegenden  Kräfte  in  ahnungsvollen  Bildern  darzustellen.  Wie 
der  Mensch  sein  Verhältniss  zu  Gott  oder  zu  Götteni  anthrupomorpliisch  construirt,  so 
gelangt  er  ganz  natürlich  dahin,  sein  Verhältniss  zu  d(>r  belebten  Natur  theromor])hisch 
aufzubauen.    Sobald  er  dieses  Verhältniss  personilicirt,  so  hat  er  seinen  Totem. 

Rud.  Virchow. 


Bosprechungen.  165 

(i.  XeI'MAYEK.  A'iilcMtuiiji:  zu  wi8w»ii8rhaftliohoii  Kooliaehtuii^on  auf  Reisen, 
in  Kinzel- Abhandlungen  vorfaast  von  l\  AsdlKKSON,  A.  HasTIAN, 
(-.  BoRliEN,  11.  »OI.AN,  0.  DKUDE,  (.1.  FRIT^SCH,  A.  GÄKTNER, 
A.  (lERSTÄCKER,  A.  (JÜNTllER,  J.  llANN,  G.  llARTLAUB,  U.  IlARTMANN, 

\\  lIoFFMANN,  w.  Jordan,  0.  Krü3imel,  M.  Lindemann,  Ritter 
V.  Lorenz- LiRrRNAr,  v.  Martens,  a.  Meitzen,  K.  Mobius,  G.  Neu- 

MAYER,  A.  ORTH,  f.  V.  Uli  HTHOFEN,  IL  Sc^HURERT,  <i.  SCUWEINFURTII, 
IL  STEINTHAL,  F.  TiET.IEN,  R.  VlRCHOW,  K.  WEISS,  U.  WlLD,  L.  WlTT- 
MA('K.  Zweite,  völli«^  umgearbeitete  und  vermehrte  Au8gab(^  Berlin, 
R.  ()])])enheim.  2  Hände  in  8  mit  zahlreichen  Holzschnitten  und  2 
lithogr.  Tafeln,  655  und  627  Seiten. 

Dil»  orste  Aiisffal>t»  »los  vorliojj^etnion.  in  wo8ontlich  veränderter  Gestalt  ersrheinenden 
Werkes  hatte  zum  ersten  Mal«*  in  Deutschland  eine  ^o^cre  Anzahl  von  anerkannten 
Speeialforschern  vereiniget,  um  dem  Reisenden  und  zwar  dem  wissenschaftlichen  Reisenden 
die  praktischen  (lesichtspunkte  für  eine  g:enaue  Beobachtung  und  Sammlung  der  ihm  vor- 
k(»mmenden  Erscheinungen  zu  geben.  Die  Publikation  fiel  zusammen  mit  dem  Zeitpunkte, 
wo  das  wissenschaftliche  lieisen  selbst,  welches  bisher  vorzugsweise  auf  Entdeckungen 
gerichtet  war,  zum  Mittel  der  Forschung  werden  musste.  Aeussere  Umstände  haben  es 
gefügt,  dass  gerade  in  dieser  Periode  auch  der  erneute  Trieb  der  Völker  nach  Gewinnung 
V(m  Cohmien  erwacht  ist  Das  Handbuch  hat  allen  diesen  Richtungen  in  befriedigender 
Weise  geholfen,  und  die  neue  Bearbeitung  wird  sicherlich  einem  verstärkten  Be<lfirfniss 
begegnen.  Man  wird  freilich  auch  ihr  entgegenhalten,  was  nicht  einmal  in  gleichem  Maasse 
der  ersten  Ausgabe  vorgeworfen  werden  konnte,  dass  sie  zu  gross  sei  und  dass  sie  die  Tendenz 
habe,  fast  für  jede  Specialität  eine  Art  von  gedrängtem  Lehrbuch  zu  liefern.  Etwas  Wahres 
ist  an  der  Sache.  Der  Reisende  kann  nicht  in  jedem  Augenblicke  ein  so  umfangreiches 
Buch  zu  Rathe  zieh<*n.  Obwohl  die  Trennung  in  zwei  Bände,  vcm  denen  der  eine  die  mehr 
physikalische  Seite  der  Forschung,  der  andere  die  organische  Welt  im  Auge  hat,  eine 
b'iihtere  Benutzung  ermöglicht,  so  ist  doch  jeder  Band  so  voluminös  geblieben,  dass  es 
nicht  wohl  möghch  ist,  ihn  als  Taschenbuch  zu  führen.  Es  musste  also  noch  wieder  der 
Versuch  gemacht  werden,  aus  dem  grossen  Werke  einen  gedrängten  Auszug  nacrh  Art  der 
englischen  Anleitungen  herzustellen.  Oder  es  Hesse  sich  eine  Ausgabe  veranstalten,  welche 
die  Einzel -.\bhandlungen  in  Fonn  getrennter  Hefte  brächte,  die  man  je  nach  Bedürfniss 
in  ganze  Bände  vereinigen  oder  einzeln  für  den  täglichen  Gebrauch  auslösen  könnte. 
Wir  möchten  namentlich  den  letzteren  Vorschlag  zu  geneigter  Erwägung  geben.  Jeden- 
falls begriissen  wir  die  n<'ue  Ausgabe,  wie  wohl  lUe  Mehrzahl  <ler  Reisenden  thun  winl, 
als  ein  neues  Zeichen,  dass  die  deutsche  \N  isseuschaft  sorgsam  bemüht  ist,  den  Bedürfnissen 
<ler  Nation  rechtzeitig  zu  genügen.  RuD.  Vikchow. 


Otto  Keller.  Thiere  des  classisohen  Alterthums  in  cultur<i:e8chi<ditli('lier 
Heziehunjjf.  Innsbruck,  Wa^^nersche  Universität» -Buchliandlunj^.  1887. 
8.  488  Seiten  mit  ;")<)  AbbiMunj^^en. 

Der  Verfasser  hat  ein  sehr  fleissiges  und  in  vieler  Beziehung  nutzbares  Werk  zusammen- 
tretragen, welches  über  28  Thiere  (24  Säugethiere  und  4  Vögel)  ausführliche  literarische 
Nacbwi'ise  liefert.  Die  Auswahl  dieser  Thiere  wird  allerdings  viele  überraschen,  welche 
das  Buch  in  die  Hand  nehmen;  wenigstens  wir  Naturforscher  haben  uns  daran  gewöhnt, 
und  V.  Hehn's  klassisches  Buch  hat  uns  ein  noch  grös8<'res  Recht  darauf  gegeben,  unter 
..Thieren  in  culturgeschichtlicher  Beziehung-  in  erster  Linie  die  llausthiere  zn  verstehen. 
Davon  ist  abtT  bei  dem  Verfasser  wenig  zu  finden.  Wenn  man  von  Kameel,  Büffel, 
Yak,  Zebu,  Gans  absieht,  so  findet  man  lauter  wilde  Thiere,  von  denen  gelegentlich  ein 
oder   das  andere  I-Jiemplar  gezähmt  sein  mag,   die  aber  doch  im  Ganzen  mit  der  Cultus- 


166  Besprechungen. 

geschichte  recht  wenig  zu  than  haben.  Hand  und  Katze,  Pferd  und  Esel,  Schaf  und  Ziege, 
Rind  und  Schwein,  ja  selbst  das  Huhn  müssen  sich  getrösten,  bis  bei  einer  in  Aussicht 
genommenen  Fortsetzung  die  Reihe  an  sie  kommen  wird.  Wenn  der  Verfasser  sagt,  die 
gelehrte  Welt  sei  darüber  einig,  dass  ,ein  branchbares  Buch  über  die  Thierwelt  des  Alter- 
thums  ein  wirkliches  Bedürfniss  der  gegenwärtigen  wissenschaftlichen  Forschung  sei**, 
so  fühlt  er  doch  selbst,  dass  sein  Buch  nur  ein  Anfang  zu  dem  ersehnten  Buche  sei. 
Aber  auch  abgesehen  von  der  sonderbaren  Auswahl  der  Thiere,  dürfte  die  Methode  der 
Darstellung  manche  Enttäuschung  bringen.  Der  Verfasser  häuft  eine  ungeheure  Fülle 
von  Citaten,  welche  nachzuschlagen  ein  starkes  Stück  Arbeit  sein  würde,  aber  er  erleichtert 
dem  Leser  die  Aufgabe  nicht  einmal  dadurch,  dass  er  wenigstens  die  Stellen  der  Haupt- 
autoren wörtlich  wiedergiebt  und  erörtert.  Wie  es  uns  scheint,  sollen  Bücher  dieser 
Art  belehrend  und  unterstützend  wirken  nach  zwei  Richtungen:  einerseits  indem  sie  dem 
Philologen  das  zoologische  Wissen  näher  bringen,  andererseits  indem  sie  dem  Zoologen 
das  philologische  Handwerkszeug  zur  Verfügung  stellen.  Diess  ist  offenbar  nicht  erreicht 
worden.  Wir  wollen  nicht  von  so  ostensiblen  Irrthümem  sprechen,  wie  der  auf  S.  137, 
wo  der  Verfasser  von  dem  Gott  der  Liebe  redet,  ,.den  ein  pompejanischer  Künstler  sehr 
glücklich  als  auf  einem  gezäumten  Tiger  reitend  dargestellt  hat*";  in  seiner  Anmerkung 75 
auf  Seite  388  erwähnt  er  selbst,  dass  Andere  darin  den  bacchischen  Genius  Akratos  gesehen 
haben,  „den  man  hier  auf  dem  „Löwen**  reitend  hat  finden  wollen**.  Wie  jemand,  der 
auf  diese  Weise  gewarnt  worden  ist,  in  dem  lang  bemähnten  Thier  einen  Tiger  erkennen 
kann,  das  ist  in  der  Zeit  der  zoologischen  Gärten  einfach  unverständlich»  Aber  dass  er 
für  die  Erörterung  (i<^  Verhältnisses  von  Bos  primigenius  und  Bison,  dessen  deutschen 
Namen  er  mit  einem  e,  Wiesent,  schreibt,  auf  die  ganze  grosse  wissenschaftliche  Literatur  über 
diesen  Gegenstand  verzichtet  und  nur  einige  populäre  zoologische  Schriftsteller  heran- 
zieht, das  beweist  doch,  dass  er  sich  die  Bedeutung  des  ersehnten  „brauchbaren**  Buches 
nicht  ganz  klar  gemacht  hat.  Wir  wollen  mit  diesen  Ausstellungen  nicht  gesagt  haben, 
dass  die  Arbeit  des  Verfassers  eine  werthlose  sei ;  im  Gegentheil  erkennen  wir  an,  dass 
manche  Abschnitto  einen  recht  umfassenden  Blick  in  die  Vorstellungen  der  Alten  von 
gewissen  Thieren  gestatten.  Um  so  mehr  schien  es  uns  aber  erforderlich,  den  Verfasser 
vor  den  Abwegen  zu  warnen,  die  auf  diesem  schwierigen  Gebiete  in  so  grosser  Zahl  vor- 
handen sind  und  die  zugleich  so  nahe  liegen.  Rud.  Virchow. 


ERNEST  CHANTRE.     Rochorches  anthropologiques  daiis  lo  Caucaso.     Paris 
ot  Lyon,    Ri^inwald  et  Henri  (loorg.     1885  —  87.     Kl.  Fol.    mit   zahl- 
roic'hen  Tafeln,  Karten  und  Holzschnitten. 
T.    I:     Periode  prehistorique,  avec  une  carte  et  6  Planches. 
„    II:     Periode»   protohistorique.     Texte»  avec  184  gravures.     Atlas  iU^ 

()7  Planches. 
„  III:     P«'»riode  historiquc».    Texte  avec  4(1  gravures.    Athis  de  "28  PI. 
„  IV:     Po])ulation8  actuelles  avec  44  gravur<?s.     Atlas  <le  81  PI.  av(»c 
une  carte  (»thnologique  du  Caucase. 

Schon  die  blosse  Aufzählung  der  einzelnen  Abtheilungen  dieser  reich  ausgestatteten 
Publikation  zeigt,  dass  wir  eines  der  umfangreichsten  anthropologiscrhen  Werke  vor  uns 
haben,  welche  überhaupt  erschienen  sind.  Der  Verfasser  ist  seit  langen  .Fahren  bekannt 
durch  die  glänzende  und  doch  durchaus  sachlicb  gehaltene  Ausstattung  seiner  archäo- 
logischen Schriften,  und  zugleich  durch  das  hohe  Maass  von  Zuverlässigkeit  und  Originalität, 
welches  seine  Arbeiten  auszeichnet.  Keine  von  allen  unifasst  aber  ein  so  grosses  und 
zugleich  so  wenig  bekanntes  Gebiet,  un<l  nieuutls  zuvor  hat  der  Verfasser  in  so  über- 
raschender Weise  sein  Talent  gezeigt,  das  vorhandene  Material  aufzniinden  imd  zu  einem 
Gesammtbilde  zusammenzufassen.  Die  Bedeutung  eines  solchen  Werkes  für  die  vergleichende 
Archäologie  und  .A.ntliropologie  vrird  erhöht  durch  die  vurtretTlicheu  Abbildungen,   welche 


Besprechungen.  167 

mit  einer  Suiiherkeit  und  (tenauigkeit  (^t"zei(*hii(*t  sind,  dass  sii>  den  Mangel  der  Oripnale 
für  viele  Forseher  ersetzen  können.  Der  Referent,  der  sich  selbst  auf  diesem  schwierigen 
4f(>hi»*te  versucht  hat  und  der  mit  Dank  anerkennt,  dass  der  Verfasser  die  Monographie 
über  das  (iräherfeld  von  Kohan  mit  Wanne  beurtheilt,  empfindet  doppelt  stark,  dass  ein 
so  grosses  l'nteniehmen  in  dem  engen  Kabinen  einer  Besjirechung  nicht  genügend 
gesebiblert  werden  kann.  Der  wirkliche  Forscher  muss  sich  scUist  an  das  Studium 
maehen:  hier  krmnen  nur  gewisse  Hinweise  gegeben  werden  auf  die  Hauptergebnisse  und 
Ilauptgegenstilnde  der  Darstellung. 

Was  die  ersteren  anbetrifft,  so  sieht  sich  der  Keferent  meist  in  wesentlicher  Ueber- 
einstimuumg  mit  dem  Verfasser.  In  der  Monographie  über  Koban  hat  er  selbst  den  Nach- 
weis versucht,  dass  «1er  Kaukasus  mit  Unrecht  als  die  Wiege  der  sogenannten  kaukasischen 
Itasse  angesehen  sei,  und  dass  ebenso  die  alte  ('ultur  des  Lan<les  fem  davon  ist,  die  Ori- 
ginalität zu  besitzen,  welche  man  bei  ihr  vorausgesetzt  hatt^.  (lanz  besonders  gilt  dies  von 
der  .Metallrultur,  deren  Anfänge  gerade  v«m  Lamlsleuten  des  Verfassers  mit  einer  Sicher- 
heit in  das  kaukasische  (lebiet  versetzt  worden  sind,  welche  auf  den  Nichtkenner  einen 
imponirenden  Kindruck  machen  musste.  Hr.  Chantre  erkennt  an,  was  Ueferent  durch 
eine  Reihe  Yon  Xachforschungen  schon  vtirher  sichergestellt  hatte,  dass  in  diesem  ganzen 
(lebiete  keine  natürliche  I.agerstätte  eines  Zinnerzes  aufgefunden  ist.  Freilich  bringt  er 
CV.  II.  Atlas  PI.  XXX.  Fig.  1')  et  20^  zwei  verzierte  Metallscheiben  «von  Zinn**  aus  Koban, 
aber  ohne  weiteren  Nachweis  der  Natur  des  Metalls.  Ks  sind  offenbar  dieselben,  welche 
Hr.  Olshausen  (Verhandl.  der  Berliner  anthrop.  Gesellsch.  18S3,  S.  M)  erwähnt  hat, 
und  von  denen  Referent  es  wahrscheinli<'h  zu  ma<*hen  suchte,  dass  sie  aus  Antimon 
bt'stehen.  Seit<lem  sind  im  Wiener  Uofnmsenm  derartige  Schmuckstücke  aus  Koban  auf- 
gefunden Worden,  welche  in  der  That  aus  Antimon  gefertigt  sind  (Verhandl.  1887,  S.  .''»öy). 

Der  Verfasser  scheint  mit  dem  Nachweise  des  Antimons  in  den  Zierstücken  des  Kau- 
kasus nicht  einverstanden  zu  sein.  In  der  Schilderung  der  Funde  von  Redkin- Lager 
jredenkt  er  zuerst  der  Bronze,  dann  des  Eisens:  darauf  fährt  er  fort:  un  autre  metal, 
l'antimoine  (?)  aurait  6te  rencontre  par  Bayern  (T.  II.  Texts  p.  172).  Dieser  Passus  wäre 
wobl  nicht  geschrieben  worden,  wenn  der  Verfasser  nicht  mit  einer  auffälligen  Beharrlich- 
keit die  Verhandlungen  der  Berliner  anthropologiseben  (iesellschaft  b<'i  Seite  liegen  liesse, 
<lie  doch  seit  einer  Reihe  von  Jahren  die  kaukasische  Anthropologie  und  Archäologie  in 
immer  neuer  Weise  behandelt  haben.  Abgesehen  davon,  dass  darin  ganz  werthvolle  Mit- 
theilungen  über  Steingeräthe,  Bronzen,  Völker  und  Schä<lel  enthalten  sind,  deren  Erwäh- 
nung das  grosse  Werk  nicht  verunziert  haben  würde,  so  hätte  der  Verfasser  darin  auch 
die  Beweise  finden  können,  dass  das  fragliche  Metall  Antimon  ist,  und  er  hätte  zugleich 
«Tsehen  können,  warum  Bayern,  obwohl  er  die  (iegenstände  fand,  <loch  nicht  erkannte, 
dass  sie  aus  Antimon  bestehen. 

Diese  Anführung  könnte  zu  lang  für  den  vorliegenden  Zweck  erscheinen,  aber  sie 
<'harakterisirt  zugleich  das  sonderbare  Verhältniss,  in  welchem  sich  die  deutsche  periodische 
Literatur  zu  der  französischen  Wissenschaft  brfindet  Die  Gelegenheit,  wo  eine  so 
bedeutungsvolle  Arbeit  eines  so  gewissenhaften  Forschers  zur  Besprechung  vorliegt,  ist 
eine  so  seltene  und  zugleich  so  lehrreiche,  dass  Referent  sich  nicht  enthalten  konnte,  diesen 
(»ffen  daliegenden  Schaden  auch  einmal  öffentli<'h  lu  bezeichnen. 

Der  Verfasser  kommt  auch  darin  zu  einem  ähnlichen  Ergebniss,  wie  es  der  Referent 
seiner  Zeit  dargelegt  hatte,  <lass  er  die  kaukasische  Metallcultur  weder  von  Norden,  noch 
Von  Westen  ableitet,  dass  er  vielmehr  auf  südliche  und  südöstliche  Wege  des  Imports  hin- 
weist. Wenn  er  <labei  in  dem  herkömmlichen  Schema  zuletzt  bis  nach  Indien  gelangt, 
so  widerstreitet  das  allerdings  der  Auffassung  des  Referenten,  der  sich  bis  jetzt  vergeblich 
bemüht  hat,  irgend  welche  ausreichenden  Beweise  für  die  Ableitung  der  Bronze  aus  dem 
(iangesgebiete  aufzufinden.  Eine  nahe  Verwandtschaft  der  kaukasischen  Gräberfelder  der 
Bronze-  und  beginnenden  Eisenzeit  mit  der  Hallstattcultur  nimmt  der  Verfasser  an,  aber 
er  gesteht  auch  die  Bt'sonderheit  der  kaukiLsischen  ('ultur  zu,  die  er  als  ..kobanienne"* 
bezeichnet.  Nicht  ersichtlich  \M  es,  warum  er  diese  (Jultur  eine  protohistorische  nennt; 
dem  Referenten  wenigstens  ist  l»is  dahin  nichts  aufgesto.<sen,  wodurch  irgend  eine  si<'here 
Beziehung  der  kobanischen  (fräbiTfelder  zu  einem  bestimmten  historischen  Volke  erkennbar 
geworden  wäre. 


168  Besprechungen. 

Die  historischo  Zeit  des  Kaukasus  nennt  der  Verfasser  die  scythisch  -  byzantinische 
Epoche.  Sowohl  über  diesen  Namen,  als  auch  über  die  Interpretation  der  Funde,  als  diese 
Epoche  angehörig,  lässt  sich  streiten.  Sicherlich  erstrecken  sich  manche  Gräberfelder,  z.  B. 
das  von  Komunt*,  wie  wir  es  ausdrücken  würden,  zugleich  über  prähistorische  und  über 
historische  Zeiträume,  aber  es  wird  eine  feste  Ansicht  darüber,  sowie  über  die  Frage,  ob  das- 
selbe Volk  während  der  ganzen  Zeit  seine  Todten  an  dieser  Stelle  begraben,  ob  also  nur  die 
Cultur  oder  das  Volk  selbst  gewechselt  hat,  sich  wohl  nicht  eher  gewinnen  lassen,  als  bis 
mehr  systematische  Ausgrabungen  gemacht  worden  sind.  Die  Auffassungen  des  alten  Bayern 
hatten  häniig  etwas  Phantastisches,  aber  seine  Methode  der  Ausgrabungen  war  eine  sehr  genaue 
und  umsichtige.  Ihm  speciell  verdanken  wir  die  genaue  Scheidung  der  Gräber -in  Samthawro. 
Aber  er  würde  nicht  wenig  erstaunt  gewesen  sein,  die  oberen  Gräber  von  Samthawro  einer 
scythobyzautinischen  Epoche  zugeschrieben  zu  sehen.  Was  haben  die  Scythen  mit  Trans- 
kankasien  zu  thun?  Und  wie  will  man  es  rechtfertigen,  den  Einfluss  der  Römer,  die  doch 
bis  hierher  kamen,  und  den  noch  früheren  der  Griechen  dem  der  Byzantiner  unterzuordnen  V 
Der  Mangel,  welcher  hier  hervortritt,  würde  wahrscheinlich  vennieden  sein,  wenn  der 
Verfasser  selbst  Ausgrabungen  auf  einer  grösseren  Zahl  von  Gräberfeldern  dieser  ^Epoche** 
vorgenommen  hätte.  So  ist  er  häufig  auf  die  Angaben  zweifelhafter  Gewährsmänner 
beschränkt,  welche  durch  Bestimmtheit  der  Aussagen  ergänzen,  was  ihnen  an  wirklicher 
Kenntniss  der  Verhältnisse  abgeht.  Hier  wird  die  künftige  Forschung  stark  zu  sichten 
haben.  Trotzdem  ist  es  ein  Gewinn,  wenigstens  eine  Uebersicht  des  Materials  zu  haben. 
Darin  sind  ja  die  Fingerzeige  für  die  mehr  kritische  Nachforschung  gegeben. 

Dasselbe  dürfte  zum  Theil  für  die  craniologischen  Mittheilungen  des  Verfassers  gelten. 
Wie  schwer  es  ist,  für  Schädel,  die  man  nicht  selbst  ausgegraben  hat,  sichere  Angaben 
zu  erhalten,  und  noch  mehr,  wie  fast  unmöglich  es  ist,  für  jeden  Schädel,  den  man  in 
einer  Höhle  oder  einem  Beinhause  findet,  seine  chronologische  und  ethnologische  Zu- 
gehörigkeit zu  bestimmen,  das  weiss  jeder,  der  sich  mit  Craniologie  beschäftigt.  Ich 
betone  diess  namentlich  in  Betreff  des  mir  genau  bekannten  tMedhofes  bei  Unter -Koban, 
den  der  Verfasser  abgesucht  hat  und  den  er  den  Tschetschenen  zuschreibt.  Ich  habe 
über  denselben  in  meiner  Monographie  über  Koban  S.  5  das  an  Ort  und  Stelle  von  mir 
Ermittelte  zusanmiengestellt:  darnach  habe  ich  nicht  den  mindesten  Zweifel  daran,  dass  es 
ein  ossetischer  Bestattungsplatz  ist.  Auch  tritt  bei  der  Schädelmessung  die  inmier  noch 
fortbestehende  Differenz  der  französischen  und  deutschen  Methode  recht  störend  hervor. 
Wer  noch  nicht  ül)erzeugt  ist,  dass  die  deutsche  Horizontale  der  französischen  vorzuziehen 
ist,  der  wird  es  durch  die  Betrachtung  der  im  Uebrigen  vortreflFlich  gezeichneten  Schädel 
werden.  Man  vergleiche  z.  B.  das  den  defonnirt<»n  Schädeln  gewidmete  Uebersichtsblatt 
in  T.  II.  p.  124,  welches  die  Phantasie  auf  ganz  unmögliche  Vorstellungen  von  dem  Aus- 
scheu der  Leute  im  Leben  hinleitet.  Bei  den  Messungen  ergeben  sich  die  Incongruenzen 
in  der  Zusammenstelhmg  der  Resultate  des  Verfassers  mit  denen  des  Generals  v.  Er c kort, 
die  er  in  grosser  Ausdehnung  und  mit  allem  Detail  heranzieht.  Glücklicherweise  sind  die 
anthropologischen  C'haraktere  dieser  Stämme  so  ausgesprochene,  dass  nicht  zu  viel  darauf 
ankommt,  ob  diese  oder  jene  Methode  angewendet  ist,  wenigstens  so  lange  nicht,  als  man 
nicht  in  der  Forschung  näher  an  den  Zusammenhang  und  die  Ursprünge  der  Stämme 
heranriickt,  als  es  der  Verfasser  gethan  hat.  Der  Fleiss,  sowohl  in  der  Erhebung  der 
Zahlen,  als  in  der  Bearbeitung  derselben,  tritt  auch  hier  überall  in  bewundemswerther 
Weise  hervor :  man  muss  selbst  in  diesen  Dingen  gearbeitet  haben,  um  zu  ermessen,  welche 
F^lle  von  Arbeit  in  diesen  Mittheiluugen  verborgen  ist. 

Wir  können  also  zum  Schlüsse  nur  noch  einmal  die  Freude  dariiber  ausdrücken,  dass 
es  dem  Verfasser  besrhieden  gewesen  ist,  ein  so  grosses  Werk  zu  Ende  zu  führen.  Zweifel- 
los wird  sein  Buch  für  die  Folgezeit  in  nicht  minder  dauernder  Erinnerung  bleiben,  wie 
das  von  Dubois  de  Montpereux.  mit  dem  es  sich  in  so  vielen  Beziehungen  begegnet. 
Es  wird  hofT^ntlich  sehr  viel  dazu  betragen,  *die  ausschweifenden  und  haltlosen  Schwär- 
mereien vieler  <jelehrten  über  kaukasische  Anthropologie  und  Archäologie  zu  unterdrücken 
und  Vorstellungen,  welche  auf  das  Studium  dor  wirklirbon  Verhältnisse  gegrunclet  sind, 
an  deren  Stelle  zu  setzen.  Run.  ViKCirow. 


V. 

Culturelle  und  Rassenunterschiede  in  Bezug  auf  die 

Wundkrankheiten. 

Von 

Dr.  MAX  BARTELS!). 


Wundfiebor  und  Blut-  und  Eitervergiftung,  die  sogenannten  acciden- 
tellen  Wundkrankheiten,  sind  auch  dem  Nichtmediciner  ganz  bekannte 
Begriffe.  Letztere  pflegten  nicht  selten  den  schwereren  Verletzungen  zu 
folgen,  während  das  erstere  als  eine  so  sichere  und  gewöhnliche  Begleit- 
erscheinung selbst  auch  nur  leichter  Verwundungen  betrachtet  wurde,  dass 
man  bei  solchen  mit  unbedingter  Zuversicht  auf  den  Eintritt  des  Wund- 
fiebers rechnete.  Den  letzten  zwei  Jahrzehnten  war  es  vorbehalten,  den 
Beweis  zu  liefern,  dass  die  genannten  Erkrankungen,  wie  so  viele  andere, 
durch  das  Eindringen  specifischer,  mikroskopisch  kleiner  Keime,  der 
sogenannten  Sepsis-  oder  Fäulniss- Erreger,  in  den  Organismus  bedingt 
würden,  deren  Fortpflanzung  und  enorme  Vermehrung  im  Inneren  der  Gewebe 
des  Körpers  alle  diese  Krankheitserscheinungen  hervorriefen. 

Die  moderne  Chirurgie  hat  es  unter  JOSEPH  LiSTER's  Vorgange 
bekanntlich  gelernt,  durch  ihre  antiseptische  Methode  mit  fast  absoluter 
Sicherheit  den  Verletzten  vor  dem  Eindringen  dieser  septischen  Keime  zu 
bewahren,  und  dadurch  seine  Wundheilung  zu  einer  schnellen,  fieberfreien 
und  gefahrlosen  zu  gestalten. 

Das  war  nun  aber,  wie  gesagt,  ganz  anders  vor  noch  nicht  gar  zu 
langer  Zeit,  und  für  ganz  besonders  gefahrbringend  galten  alle  tieferen, 
unregelmässigen,  gerissenen  und  gestochenen  Wunden,  alle  Verwundungen, 
bei  denen  gleichzeitig  auch  die  Knochen  mit  verletzt  waren,  alle  Eröff- 
nungen <ler  grossen  Körperhöhlen  und  Gelenke  und  alle  Läsionen  der  blut- 
reichen Theile  des  männlichen  und  weiblichen  Genitalapparates. 

Wenn  wir  nun  einerseits  die  soeben  erwähnten  Gefahren  kennen, 
welche  bei  den  Culturvölkern  trotz  der  grössten  Vorsicht  und  sorgfältigsten 
Pflege  sich  nicht  vermeiden  und  ausschliessen  Hessen,  und  wenn  wir  anderer- 
seits von  schweren  Verletzungen  und  von  operativen  Kingriffen  gefährlichster 
Art    hören,    welche    die    auf  niederer  Culturstufe  sich  befindenden  Völker 

1)   Nach  ein«m  in  der  Freien  Vereinigung  der  Chirurgen  Berlins  am  10.  Jannar  1887 
gehaltenen  Vortrage. 

Z«itMhrift  (ür  Bthnolofi«.    Jahrg.  1M8.  12 


170  Max  Bartels: 

mit  staunonswerther  Schnelligkeit  und  Leichtigkeit  überstehen,  obgleich 
doch  sowohl  die  Körper  der  Verletzten,  als  auch  die  Hände  ihrer  Operateure 
und  deren  primitive  Instrumente  sehr  weit  von  den  Anforderungen  modemer 
Antisepsis  entfernt  sind,  so  können  wir  wohl  nicht  umhin,  an  ethnologische 
Verschiedenheiten  in  der  Ertragungsfähigkeit  operativer  und  traumatischer 
Eingriffe  glauben  zu  müssen.  Die  folgenden  Zeilen  sind  bestimmt,  einige 
Belege  hierfür  herbeizubringen. 

Bekanntlich  haben  PRUNIftRES  0  und  PAUL  BROCA^)  über  prähisto- 
rische, der  sogenannten  jüngeren  Steinzeit  angehörige  Schädel  berichtet, 
welche  sich  an  verschiedenen  Punkten  Frankreichs  gefunden  hatten  und 
welche  grosse,  regelmässig  gestaltete  Knochendefekte  im  Bereiche  des 
behaarten  Kopfes  zeigten.  TiLLMANNS')  hat  diese  Veröffentlichungen 
kürzlich  in  LanGENBECK's  Archiv  besprochen  und  ihre  Abbildungen 
zusammengestellt.  Diese  Defekte  sind  von  einer  solchen  Regelmässigkeit 
in  der  Form,  dass  sie  ohne  allen  Zweifel  absichtlich  angelegt  worden  sind. 
Deutliche  Reactionserscheinungen  an  den  Rändern  beweisen,  dass  diese 
operativen  Eingriffe  an  Lebenden  ausgeführt  wurden  und  dass  sie  viele 
Jahre  überlebt  worden  sind.  BROCA  glaubt,  dass  diese  Leute  bereits  in 
ihrer  Kindheit  operirt  wurden.  Als  schneidende  Instrumente  besassen  die 
Menschen  der  neolithischen  Periode  bekanntlich  nichts  anderes  als  Feuer- 
steinmesser, also  immerhin  doch  nur  recht  primitive  chirurgische  Werkzeuge. 

üeber  ganz  analoge  Trepanationen  der  Uvea-Insulaner  (Loyalitäts- 
Inseln),  die  sich  noch  heute  auf  der  Culturstufe  der  neolithischen  Periode 
befinden,  berichtet  der  Missionar  Rev.  SAMUEL  ElLA^):  „Eine  wahrhaft 
überraschende  Operation  wird  auf  der  zu  der  Loyalitäts-Gruppe  gehörigen 
Insel  Uvea  ausgeführt.  Hier  herrscht  die  Ansicht,  dass  Kopfschmerz, 
Neuralgie,  Schwindel  und  andere  Gehirnaffectionen  durch  einen  Spalt  im 
Kopfe  oder  durch  Druck  des  Schädels  auf  das  Gehirn  verursacht  würden. 
Das  Heilmittel  hierfür  besteht  darin,  dass  sie  die  Weichtheile  des  Kopfes 
mit  einem  +-  oder  T- Schnitt  durchtrennen  und  mit  einem  Stück  Glas 
den  Schädel  sorgfaltig  und  behutsam  schaben,  bis  sie  in  den  Knochen, 
in  ungefährer  Ausdehnung  eines  Kronenstückes,  ein  Loch  bis  auf  die 
Dura  mater  gemacht  haben.  Manchmal  wird  die  Schabe -Operation  durch 
einen    ungeschickten  Operateur    oder  in  Folge  der  Ungeduld  der  Freunde 


1)  PRUKii»E8:  Deox  nouveaux  cas  de  tr^panation  chimrgicale  n^oiithique.  Bull,  de 
la  soc.  d'Anthrop.  de  Paris.    Tome  IX.  II  me  Sörie.    Paris  1876,  p.  5öl. 

2)  Broca:  Sur  les  tr^panations  pr^hist^riques.  Bull,  de  la  soc.  d'Anthrop.  de  Paris. 
Tome  IX.  Urne  S6rie.  Paris  1876,  p.  236  et  431.  -Derselbe:  Sur  Tage  des  sujets  soumis 
a  la  tripanation  chirurgicale  nöolithique.  1.  c.  Tome  IX.  Urne  S6rie,  p.  573.  —  Derselbe: 
Sur  les  tr^panations  prehistoriques.    1.  c.  Paris  1874,  p.  542. 

3)  H.  Tillmanns  :  üeber  prähistorische  Chirurgie.  B.  v.  Lanoenbeck's  Archiv  für 
klinische  Chirurgie,  Bd.  XXVHI.  S.  775,  BerUn  1883. 

4)  Rev.  Samuel  Ella:  Native  medicine  and  surgery  in  the  South -Sea  Islands.  Tlie 
Medical  Times  and  Gazette,  Vol.  I.  for.  1874,  p.  50,  London  1874. 


Culturelle  und  Rassenimterschiede  in  Benig  aaf  die  Wuudkrankhciten.  171 

bis  auf  die  Pia  Tnateir  ausg^edehnt  und  dann  ist  der  Tod  des  Patienten  die 
Folge.  Im  besten  Falle  stirbt  di<»  Hälfte  von  d(»nen,  die  sich  dieser 
Operation  unterziehen;  jc^doch  ist  aus  Aberglauben  und  Sitte  dieser  bar- 
barisch«» fiebrauch  so  herrschend  gewonlen,  dass  nur  sehr  wenig  erwachsene 
Männer  ohne  «lieses  Loch  im  Schädel  sind.  Es  ist  mir  beri<'htet  worden, 
dasK  bisweih^n  dt»r  Versuch  gemacht  wurde,  die  so  exponirten  Membranen 
im  Schädel  durch  das  Einsetzen  eines  Stückes  Cocosnussschale  unter  die 
Kopfhaut  zu  decken.  Für  diesen  Zweck  wählen  sie  ein  sehr  dauerhaftes 
un<l  hartes  Stück  der  Schale,  von  dem  sie  die  weichen  Theile  abschaben 
und  es  ganz  glatt  schleifen,  und  sie  bringen  dann  eine  Platte  hiervon 
zwischen  die  Kopfhaut  und  den  Schädel.  Früher  war  das  Trepanations- 
instrument einfach  ein  Haifischzahn,  jetzt  wird  aber  ein  Stück  zerbrochenes 
Glas  für  geeigneter  angesehen.  Die  für  gewöhnlich  gewählte  Stelle  des 
Schädels  ist  die  Gegend,  wo  die  Sagittalnaht  mit  der  Kranznaht  sich  ver- 
einigt, oder  etwas  weiter  oben,  gemäss  der  Annahme,  dass  hier  ein  Schädel- 
bruch bestehe." 

Wir  hören  also,  dass  trotz  dieser  primitiven  Methode  doch  noch  un- 
geföhr  die  Hälfte  der  Operirten  mit  dem  Leben  davon  kommt.  Das  ist 
immer  noch  ein  sehr  günstiges  Resultat.  Ich  erinnere  hier  an  den  Aus- 
spruch DiefFENBACH's'):  „Seit  vielen  Jahren  habe  ich  die  Trepanation 
mehr  gescheuet,  als  die  Kopfverletzungen,  welche  mir  vorkamen;  sie  ist 
mir  in  den  meisten  Fällen  als  ein  sicheres  Mittel  erschienen,  den  Kranken 
umzubringen,  und  unter  den  vielen  Hunderten  von  Kopfverletzungen,  bei 
welchen  ich  nicht  trepanirte,  wäre  der  Ausgang,  während  ich  so  nur  ver- 
hältnissmässig  wenige  Kranke  verlor,  wahrscheinlich  bei  einer  grösseren 
Zahl  ungünstig  gewesen,  wenn  ich  in  der  Trepanation  ein  Heilmittel  zu 
finden  geglaubt  hätte.  In  früheren  Jahren,  wo  ich  nach  empfangenen 
Grundsätzen  vielfältig  trepanirte,  war  der  Tod  bei  weitem  in  der  Mehr- 
zahl der  Fälle  der  Ausgang.  ** 

Tiefe  Wunden  der  Weichtheile  bringen  sich  allerlei  Völker  bei.  So 
berichtete  kürzlich  QüEDENFELDT^),  dass  die  Vertreter  der  Hamadscha- 
S<*kte  in  Marokko  sich  bei  dem  Mulüd-Feste  mit  eisernen  Instrumenten, 
die  man  am  besten  als  kurzgestielte  Hellebarden  bezeichnen  könnte,  der- 
artig auf  den  Kopf  schlagen,  wobei  sie  mit  einer  wippenden  Bewegung 
des  Kopfes  dem  Beile  entgegenkommen,  dass  sie  buchstäblich  mit  Blut 
überströmt  waren.  Aehnliches  hören  wir  von  dem  Möharremfest  der 
schiitischen  Tataren  zu  Schuscha  in  Karabagh'):  Der  grossen  Pro- 


1)  Johann  Friedrich  DuBFFENBACn:  Die  operative  Chirurgie.    Leiptig  1846—1848, 
Bd.  II.  S.  17. 

2)  M.  Qcedenteldt:   AbergUabe   nnd  h&lhreligiöRe  Bmderschaften  bei  den  Marok- 
kanem.    Zeitschr.  f.  Ethnol.,  Bd  XTIII:  Verhandl.  d.  Berl.  mathrop.  Gesellscb.,  8.  688—690. 

B     Das   Möharremfest    bei   den   schiitisrhen   Tataren   zu   Schuscha   in   Karabagh. 
Globus,  Bd.  XVI.  8. 1B4,  Braunschweig  1869. 


172  Max  Babtbus: 

Zession  voran  „ziehen  die  Geschrammten,  mehrere  Hundert  an  der  Zahl, 
zumeist  zu  je  zweien  nebeneinander.  Jeder  hat  in  der  Hand  einen  Säbel, 
dessen  Schärfe  Gesicht  und  Stirn  berührt.  Die  Kopfhaut  dieser  Fanatiker 
ist  mit  Narben  bedeckt,  aus  welchen  Blut  herabträufelt,  das  theils  im 
Gesichte  zu  Klimipen  geronnen  ist,  theils  auf  ein  gestärktes  grosses  Lein- 
wandtuch herabträufelt,  denn  die  Kleider  sollen  nicht  geröthet  werden. 
Unter  dem  blutigen  Hautüberzuge,  der  einer  braunrothen  Maske  gleicht, 
sieht  man  nichts  Weisses,  als  das  der  Augen  und  das  der  Zähne." 

Am  Rumpfe  und  an  den  Extremitäten  verletzen  sich  viele  Indianer, 
theils  um  ihre  Kaltblütigkeit  zu  beweisen,  theils  als  Zeichen  der  Trauer. 
Turner 0  verband  einen  Dacotah- Häuptling,  der  zum  Zeichen  der  Trauer 
um  den  Tod  seines  Bruders  sich  die  Aussenseite  der  Beine  von  den 
Knöcheln  bis  auf  die  Hüften  mit  tiefen  Einschnitten  überdeckt  hatte, 
welche  nur  wenige  Zoll,  von  einander  abstanden.  Mehrere  Tage  und  Nächte 
hatte  er  ohne  Schlaf  und  Nahrung  zugebracht,  bis  er  die  Hilfe  TüRNER's 
aufsuchte. 

Aehnliches  findet  sich  nach  den  Angaben  PlNART's^)  bei  den 
Koloschen  Nordwest-Americas.  Er  konnte  als  Augenzeuge  über 
Geisselungen  berichten,  welche  die  jungen  Männer  durchzumachen  hatten, 
um  den  Titel  „Tapferer"  zu  erwerben.  Hierfür  wird  stets  ein  möglichst 
kalter  Wintermorgen  gewählt,  an  dem  sich  die  zu  Prüfenden  in  dem  eis- 
kalten Wasser  baden  und  dann  herauskommen,  um  von  einem  alten  Manne 
mit  Kuthen  gepeitscht  zu  werden.  „Les  plus  braves  d'entre  les  baigneurs, 
aprfes  cette  flagellation,  prennent  des  pierres  aiguös  et  se  dechiront  la 
poitrine  et  les  mains  jusqu'au  sang,  se  blessant  quelqnefois  memo  assez 
profondement;  ils  se  jettent  de  nouveau  ä  la  mer  et  ainsi  de  suite,  jusqu' 
ä  ce  qu'ils  aient  perdu  connaissance.  On  les  enlfeve  alors  et  on  les  porte 
dans  leur  yourte,  oü  on  les  enveloppe  de  peaux  ou  de  couvertures  en  les 
plaQant  auprös  du  feu." 

Noch  um  vieles  intensiver  und  wahrhaft  schauerlich  sind  die  Verletz- 
ungen und  die  Martern,  welchen  sich  nach  CaTLIN's  ')  Angaben  die  jungen 
Krieger  der  jetzt  ausgerotteten  Mandan-Indianer  an  dem  0-kie-pa- 
Feste  unterwerfen  mussten.  „Alle  zum  Martern  bestimmten  jungen  Männer 
waren  durch  3^tägiges  Fasten  und  die  ebenso  lange  Schlaflosigkeit  matt 
geworden  und  lagen  abgemagert  an  den  Wänden  der  Medicinhütte  umher. 
In  der  Mitte  des  Tempels  standen  zwei  Männer;  der  Eine  trug  ein  grosses 


1)  Bei  H.  C.  Yarrow:  A  further  contribution  to  the  study  of  tho  inortuary  customs 
of  the  North  -  American  Indians.  In  J.  W.  Powell:  First  annual  report  of  the  Bnrean 
of  Ethnology  to  the  secretary  of  the  Smithsonian  Institution  1879  —  80.    Washinj,^on  1881. 

2)  Alph.  Pinart:  Not^s  sur  les  Koloches.  Bulletins  de  la  soci^te  d'Anthropologie 
de  Paris,    tome  VII.  Ueme  s^rie,  ann^e  1872,  p.  791,  Paris  1872. 

8)  Ausrottung  der  Indianer  in  Nord -America.  Ein  Blick  auf  das  Volk  der  Mandanen. 
Globus,  Bd.  XYI.  S.  17,  Braunschweig  1869. 


Culturelle  und  R«88<'nunter8chiedo  in  Bezog  auf  dio  Wundkrsnkheiten.  17H 

zugespitztoH  Messi^r  mit  ausgezackter  Klingis  so  dass  joder  Einschnitt  ins 
Fh*i8cii  den  grösstmögliehen  Schmerz  verursaciien  musste;  der  Andere  hatte 
zugespitzte  llolzpflöcke  von  der  Dicke  eines  Fingers,  welche  sofort  in  die 
durch  das  Messer  verursachten  Einschnitte  geschoben  wurden.  Jetzt  erhob 
sich  ein  Jung(*r  Mann  und  schleppte  sich  mühsam  zu  den  Beiden  hin.  Der 
Messerniaun  befühlte  ihm  mit  Daumen  und  Zeigefinger  Haut  und  Fleisch 
des  Vonler-  und  Oberarmes,  der  Schenkel,  die  Kniegegend  und  die  Waden, 
in  wtdche  alh»  er  Einschnitte  machte;  zuletzt  kamen  die  Brust  und  die 
Schultern  an  die  Reihe.  Mehrere  junge  Leute  bedeuteten  Herrn  CaTLIN, 
<lass  er  sie  betasten  und  genau  untersuchen  möge,  bevor  der  Messermann 
seine  Operationen  an  ihnen  beginne.  Si(^  Hessen  dieselben  an  sich  vor- 
nehmen, ohne  dass  an  ihnen  auch  nur  ein  Muskel  gezuckt  hätte.  Dabei 
lächelten  sie  dem  weissen  Manne  zu,  der  seinerseits  zusammenschauderte, 
wenn  er  sah,  wie  das  Messer  ins  Fleisch  fuhr  und  das  Blut  hervorspritzte. 
Als  die  Einschnitte  gemacht  und  mit  den  Holzpflöckeu,  man  kann  wohl 
sagen,  gespickt  waren,  wurde  von  oben  ein  Lederstrick  herabgelassen  und 
an  den  Holzpflöckeu  der  Brust  oder  auch  der  Schulterblätter  befestigt. 
Jeder  Gemarterte  hielt  in  der  linken  Hand  einen  Medicinbeutel,  sein  Schild 
wurde  ihm  an  die  Pflöcke  des  rechten  Armes  gehängt;  an  jene  des  Vorder- 
armes und  der  Beine  wurden  Büifelschädel  befestigt,  welche  an  Stricken 
herabhingen.  Darauf  wurden  die  jungen  Männer  in  die  Höhe  gezogen, 
bis  die  Büffelköpfe  die  Erde  nicht  mehr  berührten,  und  nun  wurden  die 
Aufgehängten  von  einem  bemalten  Indianer  im  Kreise  herumgewirbelt. 
Diese  Bewegung  im  Kreise  war  anfangs  langsam,  wurde  jedoch  immer 
schneller  und  zuletzt  so  rasch,  dass  der  hängende  und  gewirbelte  Jüngling 
jedes  Bewusstsein  verlor.  Da  baumelten  nun  die  Gemarterten  regungslos, 
mit  dem  Kopfe  nach  vornüber,  die  Zunge  hing  weit  aus  dem  Munde  her- 
vor; sie  sahen  aus  wie  Leichen.  Als  die  Umstehenden  mehrmals  das  Wort 
„todt*"  wiederholten,  wurde  das  Seil  niedergelassen.  Diese  Marter  in  der 
Luft  hatte  15 — 20  Minuten  gedauert.  Und  jeder  Krieger  unter  den  Man- 
dauen  hatte  dieselbe  erlitten  und  überstanden.  Wenn  dann  die  blut- 
triefenden Körper  regungslos  am  Boden  lagen,  kam  ein  Mann  und  zog  die 
Pflöcke,  an  welchen  die  Seile  befestigt  waren,  heraus,  aber  die  übrigen 
Hess  er  im  Fleische.  Nach  einiger  Zeit  erhoben  sich  die  Gemarterten  und 
schleppten  sich  zu  einem  als  Büfiel  maskirten  Manne,  der  ihnen  dem  auf 
einen  Block  gelegten  kleinen  Finger  der  linken  Hand  mit  einem  Beile 
abhackte.  Das  Abhacken  des  Fingers  schien  den  Leuten  keine  besondere 
Qual  zu  bereiten  und  hatte  weder  viel  Blutverlust,  noch  Entzündung  im 
Gefolge.  Darauf  wurden  sie  mit  den  noch  an  den  Pflöcken  hängenden 
Büflelköpfen  aus  <ler  Tempelhütte  gefüiurt  und  wurdtai  dann  von  starken 
Männern  gepackt  und  so  wild  als  möglich  in  einem  Kreistanze  herum- 
geschleppt, so  dass  die  Büffelköpfe  mid  der  Schild  und  alles  andere,  an 
den  Pflöcken    befestigte   auf-   und    niedersprang.     Die  Gemarterten  waren 


174  ^^^  BarteuS: 

80  entsetzlich  matt  und  mitgenommen,  dass  sie  alles  Bewusstsein  verloren, 
ehe  sie  auch  nur  den  halben  Kreis  durchgemacht  hatten.  Einige  lagen 
platt  auf  dem  Bauche,  mit  dem  Gesicht  im  Schmutze,  wurden  aber  trotz- 
dem noch  weitergeschleift,  und  dann  riss  man  ihnen  alles,  was  an  den 
Pflöcken  befestigt  war,  mit  Gewalt  ab.  Nach  einiger  Zeit  erhoben  sie 
sich  und  gingen,  so  gut  sie  konnten,  nach  ihrem  Wigwam,  wo  man  die 
Wunden  verband.  ** 

An  diese  Anpflockung  erinnern  auch  Gebräuche,  wie  sie  bei  dem  oben 
bereits  erwähnten  Möharremfesto  der  schiitischen  Tataren  zu  Schu- 
scha  in  Karabagh  vorkommen.  Es  heisst  dort  von  der  Festprocession : 
„Inmitten  der  Geschrammten  oder  neben  diesen  Narbenmännem  gehen  die 
Helden  des  Tages  einher;  sie  gehen  halbnackt  und  bringen  sich  blutige 
Wunden  vermittelst  scharfer  Gegenstände  bei,  mit  welchen  sie  Schrammen 
in  das  Fleisch  einschneiden.  In  die  Kopfhaut  befestigen  sie  spitze  Zacken 
von  Holz;  an  manchen  anderen  Zacken  und  Marterwerkzeugen  haben  sie 
kleine  Ketten  und  bewegliche  Spiegel  befestigt.  Manche  haben  derartige 
Spiegel  auch  an  den  Händen,  auf  der  Brust  und  dem  Magen;  dieselben 
sind  vermittelst  messingener  Haken  in  der  Haut  befestigt.  Auf  Brust  und 
Rücken  bilden  die  Spitzen  zweier  grosser  Dolchmesser  ein  Kreuz,  und 
dieselben  sind  derart  gestellt,  dass  sie  bei  jeder  Bewegung  des  Mannes  ihm 
das  Fleisch  ritzen.  Auch  an  den  Seiten  kreuzen  sich  zwei  Schwerter. 
An  diesen  Waffen  hängen  kupferne  oder  auch  eiserne  Ketten,  sie  sind  um 
80  schwerer,  je  eifriger  in  seiner  Frömmigkeit  der  Märtyrer  ist.  Auf  dem 
Leibe  haben  sie  kleine  Stäbe  von  Holz  oder  Eisen,  mehr  oder  weniger 
dicht  neben  einander;  diese  bilden  eine  Art  von  Panzer,  welche  ein  allzu 
heftiges  Schmerzen  verhindern  sollen." 

In  ähnlicher  Weise,  wie  die  Mandan-Indianer,  wurden  bekanntlich 
früher  in  Indien  fromme  Schwärmer  zur  Ehre  der  Gottheit  an  einem 
durch  ihr  Rückenfleisch  getriebenen  Haken  mit  Hülfe  eines  Seiles  an  einem 
Pfahle  aufgehisst  und  in  der  Luft  herumgewirbelt.  Wenn  man  sich  nun 
vergegenwärtigt,  wie  wonig  diese  Haken,  Messer,  Pflöcke  u.  s.  w.  den 
Anforderungen  aseptischer  Sauberkeit  entsprechen,  so  wird  man  zugeben 
müssen,  dass  derartige  Verletzungen  früher  bei  uns  nicht  ohne  schwere 
Unterhautbindegewebs- Entzündungen  und  ausgedehnteste  Eiterungen  ver- 
laufen sein  imd  viele  Menschenleben  gekostet  haben  würden.  Trotzdem 
hören  wir  bei  den  genannten  Völkern  nichts  von  schweren  Erscheinungen, 
geschweige  denn  von  Todesfällen,  und  von  den  Mandan-Indianern  wird 
uns  sogar  direkt  berichtet:  „So  unempfindlich  ist  das  Körpersystem  des 
Indianers  und  so  stark  sind  seine  Nerven,  dass  man  seit  Menschengedenken 
sich  nur  eines  einzigen  tödtlichen  Ausganges  zu  erinnern  wusste." 

Ausser  den  vorher  erwähnten  Trepanationen  haben  wir  auch  von  einer 
Reihe  anderer  chirurgischer  Operationen  bei  niederen  Völkerrassen  Kennt- 
nJ88    erhalten.     Dass  die  Medicinmänner  hierbei  nicht  immer  sehr  zart  zu 


Calturclle  und  lUssenunterschiede  in  Bezag  auf  die  Wiuidkrankheiten.  175 

Werke  gehen,  lehrt  die  photographische  Aufnahme  eines  Mannes  vom  Volke 
der  Bavaenda  im  nördlichen  Transvaal,  welche  Herr  Missionar  BeUSTEU 
au8  Ha  Tscliewasse  mir  freundlichst  überschickt  hat.  Weil  der  Kranke 
an  Zaiiuscimierzen  litt  wollte  ihm  der  Medicinmann  den  kranken  Zahn 
luTausmeisseln.  Bei  diesem  Untemeluuen  brach  er  aber  fast  den  ganzen 
lH>rizontah*n  Unterkieferast  der  einen  Seite  aus  seinen  Verbindungen  heraus 
und  trieb  ihn  durch  die  Weichtheile  der  Wange  nach  aussen,  sodass  er 
liier  frei  zu  Tage  lag.  Soweit  die  Photographie  lehrt,  scheint  der  Patient 
diesen  Eingriff  gut  überstanden  zu  haben. 

Ein  ausserordentlich  reiches  Feld  für  chirurgische  Eingriffe  bieten  die 
(ieschlechtstheile  dar,  die  männlichen  sowohl  als  auch  die  weiblichen. 
Wir  haben  hierbei  ein  wenig  zu  verweilen.  Bekannt  ist  ja  die  weite  Ver- 
breitung, welche  die  Entfernung  der  Vorhaut  gefunden  hat.  Dieselbe  ist 
wohl  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  als  eine  nicht  gefährliche  Operation  an- 
zusehen. Anders  verhält  sich  dieses  nun  allerdings  mit  der  auf  der  Insel 
Serang  im  malayischen  Archipel  geübten  Methode,  über  die  uns  RIEDEL*) 
Ausführliches  berichtet  Ein  alter  Mann  zieht  dem  zu  beschneidenden 
Jünglinge  das  Präputium  so  weit  wie  möglich  vor,  und  schiebt  ein  Stück 
Holz  in  die  Oe£Fnmig  hinein.  Darauf  setzt  er  ein  Messer  in  der  Längs- 
richtung auf  die  Vorhaut  und  schlägt  auf  dieses  mit  einem  anderen  Stück 
Holz,  sodass  das  Präputium  der  Länge  nach  gespalten  wird.  Dann  folgt 
eine  höchst  absonderliche  Verbandsmethode,  welche  wir  nicht  gerade  als 
(»ine  aseptische  zu  bezeichnen  vermögen.  Der  frisch  beschnittene  Jüng- 
ling eilt  nämlich  sofort  und  noch  blutend  zu  seinem  auserwählten  Mädchen, 
und  birgt  seinen  blutenden  Penis  in  ihrer  Vagina.  In  dieser  Stellung  ver- 
harrt er  volle  zwei  Tage.  Ist  ihre  Vagina  noch  zu  eng,  so  bittet  sie  eine 
Freundin,  welche  bereits  geboren  hat,  ihre  Stelle  zu  vertreten.  Es  ist  das 
ein  Liebesdienst    der  unter  keinen  Umständen  abgeschlagen  werden  darf. 

Quere  Durchbohrungen  der  Eichel  und  des  Gliedes  nehmen  die 
Dajaken  auf  Borneo  und  die  Eingebomen  des  nördlichen  Celebes  vor. 
Sie  tragen  in  denselben  bekanntlich  feine  Metallstäbe,  au  deren  Enden 
Knöpfchen,  Bürstchen  oder  Sporenrädchen  angebracht  sind,  um  bei  dem 
Coitus  stärker  zu  reizen.  Ampallang  heissen  diese  Listrumente.  Man  hat 
bis  zu  8  Stück  an  einem  Penis  gefunden. 

Eine  Aufschlitzung  der  Pars  pendula  der  Harnröhre  in  der  ganzen 
Ausdehnung  des  männlichen  Gliedes  führen  die  Central-  und  Süd- 
Australier  miter  dem  Namen  der  Mika -Operation  aus.  Diese  Spaltung 
geschieht  nach  VON  MIKLUCHO-MACLAY^),  durch  den  wir  genauere  Nach- 
richten über  dieselbe  empfangen  haben,  mit  einem  Feuersteinsplitter,  und 

1)  .FoHANN  Gerhabd  FRIEDRICH  RiEDEL:   De   sliük-en   kroesharige  Kassen    tuschen 
Selebcs  *>n  Fapua.    s'Graveniiage  1886. 

2)  VON  Mikluciio-Maclay:  Ueher  die  Mika -Operation  in  Ceutral-Aiuitralien.    Zeit- 
schrift für  Kthnulogie,  Bd.  XII.    Yerhaudl.  d.  BerL  antiiropol.  «lesellsch.,  S.  85.    Berlin  1880. 


176  Max  Bartels: 

68  wird  darauf  ein  Stück  Rinde  in  die  Wunde  gelegt,  um  ein  Wieder- 
verheilen der  Wundränder  mit  einander  zu  verhindern.  Der  Zweck  der 
Mika- Operation  ist  bekanntlich  der,  die  Nachkommenschaft  zu  vermindern. 

Es  schliessen  sich  hier  die  Castrationen  an,  die,  wie  Jeder  weiss,  von 
Alters  her  im  Orient  geübt  wurden.  Wir  können  über  sie  kein  Urtheil 
fallen,  weil  wir  über  ihre  Sterblichkeitsziffer  nicht  unterrichtet  sind. 

Bei  dem  weiblichen  Geschlechte  werden  im  südlichen  und  westlichen 
Asien  und  im  nördlichen  Afrika  an  den  Genitalien  operative  Eingriffe 
vorgenommen,  welche  unter  dem  Namen  der  Exci^on  und  der  Infibulation 
bekannt  sind.  Von  alten  Weibern  wird  hierbei  mit  schlechten  Kasirmessem 
die  Clitoris  und  ein  Stück  vom  Schamberge,  nebst  den  kleinen  Scham- 
lippen herausgeschnitten.  Es  wird  dann  eine  blutige  Naht  angelegt,  oder 
das  Mädchen  bleibt  mit  geschlossenen  Beinen  liegen,  bis  die  Wunde  ver- 
heilt ist.  Für  die  Verheirathung  wird  die  Wunde  je  nach  Bedürfniss,  für 
die  Entbindung  vollständig  wieder  aufgeschnitten.  Nach  dem  Abschlüsse 
des  Wochenbettes  wird  die  Unglückliche  dann  von  neuem  vernäht.  Aus- 
führliches über  diesen  Gegenstand  habe  ich  in  meiner  Bearbeitung  des 
Werkes  von  PlosS:  „Das  Weib  in  der  Natur-  und  Völkerkunde**,*) 
zusanunengestellt. 

Selbst  an  das  Herausschneiden  der  Eierstöcke,  an  die  bei  uns  bis  vor 
Kurzem  noch  so  gefürchtete  Ovariotomie,  wagen  sich  die  Wilden  heran. 
Derartige  Fälle  sind  aus  Indien  und  von  verschiedenen  Punkten  Austra- 
liens bekannt.  In  dem  letzteren  Lande  wird  auch  diese  Operation  mit 
einem  rohen  Steinmesser  ausgeführt.  Freilich  wissen  wir  auch  hier  nichts 
Genaueres  über  die  Sterblichkeit,  aber  derartig  castrirte,  lebende  Mädchen 
sind  von  ROBERTS,  ROTSH  und  MAX  GiLLIVRAY  gesehen  und  beschrieben 
worden.^) 

Es  ist  dem  Leser  vielleicht  nicht  unbekannt,  mit  welchen  grossen 
Gefahren  die  Verletzungen  der  Extremitätenknochen  bei  dem  gleichzeitigen 
Bestehen  einer  mit  ihnen  communicirenden  Weichtheil wunde  verbunden 
waren.  „Jede  offene  Fractur  eines  grösseren  Extremitätenknochens",  sagt 
Billroth, ^)  Ja  [selbst  unter.  Umständen  eines  Fingerknöchelchens  kann 
eine  schwere,  leider  noch  immer  zu  häufig  tödtliche  Krankheit  anregen.'' 
Und  V.  PlTHA^)  tritt  dem  Gebrauche  entgegen,  bei  derartigen  Verletzungen 
sofort  die  primäre  Amputation  des  verletzten  Glieder  auszuführen:  „Die 
Erfahrung   berechtigt  daher  und  verpflichtet  uns  zu  der  humanen,    mühe- 


1)  Dr.  H.  Ploss:  Das  Weib  in  der  Natur-  und  Völkerkundo.  Anthropologische  Stu- 
dien. Zweite  stark  vermehrte  Auflage.  Nach  dem  Tode  des  Verfassers  herausgegeben 
von  Dr.  Max  Bartels.    Bd.  I.  S.  145—163.    Leipzig  1887. 

2)  Ploss -Bartels;   Das  Weib.    Bd.  I.  S.  178. 

3)  Theodor  Billrotr:  Die  allgemeine  chirurgische  •  Pathologie  und  Therapie. 
BerUn  1869.    S.  210. 

4)  Franz  Ritter  von  Pitha:   Die  Krankheiten  der  Extremitäten.    Erlangen.    S.  808. 


Cultnrelle  und  RaAsenant^rschiedo  in  Bezug  auf  die  Wundkrankheiten.  177 

vollen  Bostrebung,  die  Heilung  oline  die  Amputation  herbeizuführen,  wenn- 
gIoi<'h  dieselbe  nicht  8(dten  fehlscidägt  sodass  das  mühsam  und  oft  qual- 
voll gepflegte  Glie<l  endlich  dennoch  der  secundären  Amputation  vorfällt, 
zuw(*ileu  selbst  diese  Auskunft  durch  Pyaemie  oder  Erschöpfung  vereitelt 
wird.** 

Wie  müssen  wir  nun  bei  solcher  hochgradigen  Gefährlichkeit  dieser 
Verletzungen  staunen,  wenn  wir  durch  R<»v.  SAMUEL  ELLA  erfahren,  dass 
die  bereits  obenerwähnten  Uvea-Insulaner  (Loyalitäts-Inseln)  w^egen 
ganz  unbedeutender  Lcdden  sich  derartige  Verwundungen  beibringen  lassen. 
,,I)i(»se8  Mittel  der  Knochenanschabuug  wird  bei  dem  alten  Volke  in  ähn- 
licher Weise  bei  Rheumatismus  angewendet.  Die  Haut  wird  in  der  Längs- 
richtung eingeschnitten  und  darauf  wird  die  Mitte  der  Ulna  oder  des  Schien- 
beines blossgelegt.  Dann  wird  die  Oberfläche  des  Knochens  mit  ülas 
geschabt,  bis  ein  grosses  Stück  der  äusseren  Lamelle  entfernt  ist."*  Wäh- 
rend nun  also,  wie  wir  gesehen  haben,  bei  uns  Europäern  ein  solches  Vor- 
gehen mit  <len  grössten  Lebensgefahren  verbunden  sein  würde,  so  fährt 
Ella  nur  in  seinem  Berichte  fort:  „Ich  habe  niemals  Jemanden  gefunden, 
der  sich  dieser  Operation  unterzogen  hatte,  der  angegeben  hätte,  dass  sie 
in  der  angestrebten  Absicht  wirksam  gewesen  wäre.  Sie  waren  rheumatisch 
geblieben  und  litten  ausserdem  noch  grosse  Pein  durch  die  im  Verlaufe 
<les  Vernarb ungsprocesses  zn  Stande  kommende  Fixirung  der  Haut  an  den 
Knochen.  "* 

Lassen  wir  noch  einmal  die  auf  den  vorigen  Seiten  geschilderton  Ver- 
letzungen und  operativen  Eingriffe  an  unserem  Geiste  vorüberziehen,  so 
ist  es  gar  keinem  Zweifel  unterworfen,  dass  dieselben  bei  uns  in  der  Zeit, 
bevor  die  antiseptische  Wundbehandlung  bekannt  geworden  war,  in  den 
meisten  Fällen  zu  recht  schweren  s(*ptischen  Processen,  respective  zum 
Tode  geführt  haben  würden.  Wie  kommt  es  nun  also,  müssen  wir  uns 
fragen,  dass  diese  Eingriffe  von  den  genannten  Völkern  so  sehr  viel  besser 
ertragen  werden,  als  von  den  Europäern?  Ohne  Zweifel  werden  doch  auch 
bei  ihnen  die  Fäulnisserreger  ebenso  gut  vorkommen,  als  bei  uns,  und 
wir  können  dann  nicht  umhin,  anzunehmen,  dass  diese  wilden  Menschen 
(*inen  gewissen  Grad  von  Immmutät  gegen  die  septischen  Keime  besitzen. 
Man  könnte  auf  den  Gedanken  kommen,  die  Ursache  dieser  Immunität 
in  dem  Klima  suchen  zu  wollen.  Eine  solche  Annahmt*  müssen  wir  jedoch 
ablehnen;  denn  einerstdts  leben  die  Stämme,  von  dcuum  ich  berichten 
konnte,  in  den  allerverschiedensten  Klimaten,  und  andererseits  wissen  wir, 
<lass  gerad(»  in  den  Tropen  bei  den  Europäern  Verletzungen  einen  sehr 
g«*fährli(hen  und  schleppenden  Verlauf  zu  nehmen  pflegen.  An  den  sep- 
tischen Keim«»n  fehlt  es  also  dort  kein(»sweg8.     LEIPOLDT')  sagt:  „In  der 

1)  (lUSTAV  Leipoldt:  l)ie  J.cidon  des  Europäers  im  afrikanischen  Tropenklima  und 
ilie  Mittel  zu  deren  Abwehr.  Ein  Beitrag  xur  Förderung  der  deutschen  ( -olonisutious- 
bestrebunj^en.     lieipzig.  1887.    8. 44. 


178  Max  Bartels  : 

Tropenzone  nehmen  äusserliche,  oft  sehr  unbedeutende  Verletzungen  durch 
Stoss  oder  Druck,  ja  selbst  Stiche  von  Domen,  besonders  in  der  feuchten 
Jahreszeit  leicht  einen  ausserordentlich  entzündlichen  und  gefährlichen 
Charakter  an.  Man  hat  also  Grund  genug,  jede  Wunde,  wie  klein  sie  auch 
sei,  mit  Sorgfalt  zu  behandeln.'' 

In  dem  grossen  Werke  von  BRüüGH-SmiTH^)  über  Australien 
befindet  sich  folgende  Angabe  eines  Herrn  THOMAS  über  die  Eingebomen 
von  Victoria:  „W^unden,  welcher  Art  auch  immer,  heilen,  wenn  sie  nicht 
ein  vitales  Organ  betreflfen,  in  viel  schnellerer  Zeit,  als  bei  der  weissen 
Bevölkerung.  Ich  habe  die  verzweifeltsten  Wunden,  die  ihnen  mit  ihren 
W^affen  beigebracht  waren  und  welche  Europäern  ein  monatelanges  Kranken- 
lager verursacht  hätten,  in  unglaublich  kurzer  Zeit  zum  Erstaunen  der 
Aerzte  heilen  sehen.  "* 

Auch  von  den  Kirgisen  des  Distriktes  von  Semiretschensk  wird 
uns  von  dem  dortigen  Chefarzte  Dr.  SEELAND  ^)  ganz  Aehnliches  berichtet. 
Er  sagt:  „Leur  extreme  vitalite  se  montre  surtout  dans  la  maniere  dont 
ils  supportent  les  blessures:  de  grandes  blessures,  meme  Celles  du  crane, 
se  guerissent  souvent  sans  fievre,  ni  perte  d'appetit,  les  membres  amputes 
dans  la  continuite  des  os  ou  dans  les  articulations  se  couvrent  rapidement 
de  granulations  sans  laisser  d'ulcerations,  de  caries  etc.^ 

Es  bleibt  uns  also  somit  nur  übrig,  die  relative  Immunität  gegen  die 
Fäulnisserreger  als  eine  Eigenthümlichkeit  der  nichteuropäischen  Kassen 
anzuseilen.  Für  eine  solche  Annahme  muss  auch  die  ausserordentliche 
Seltenheit  des  Kindbettfiebers  bei  wilden  Völkern,  trotz  jeglichen  Mangels 
einer  W^ochenbettpflege,  sprechen,  während  bei  uns  vor  Kurzem  MAX  BOEHK 
noch  nachzuweisen  vermochte,  dass  das  Kindbettfieber  mehr  Opfer  fordere, 
ab  selbst  die  Cholera. 

Aber  auch  unter  den  aussereuropäischen  Völkern  worden  wir  bei 
fortschreitender  Kenntniss  der  Verhältnisse  in  Bezug  auf  die  Immunität 
gegen  septische  Keime  vielleicht  noch  mancherlei  graduelle  Unterschiede 
anerkennen  müssen.  So  sagt  z.  B.  TlBTANY^):  „Schwarze  ertragen 
grosse  Operationen  besser  als  Weisse,  ab(^r  sie  neigen  trotz  Antiseptik 
mehr  zur  Eiterung,  heilen  somit  langsamer.^ 

Und  HyadEö*)  erhielt  von  dem  Missionsdirector  T.  BriüGES  in 
Uchuaja  über  die  Feuerländer  die  jNachricht,  dass  bei  ihnen  eine 
epidemic    of    bloodpoisoning    grosse  Verheerungen    mache:    „La    moindre 

1)  The  aborigines  of  Victoria  etc.,  compiled  from  various  sources  for  tlie  (iovemmeut 
of  Victoria     II.  Vol.    London  1878. 

2)  Nicolas  Seeland:    Les  Kirghis.    Revue  d' Anthropologie,   XVeine  annee,    Illenie 
S^rie,  Tome  I,  Taris  1886,  p.  58. 

3)  Tifpany:    Surgical   diseases    of  the   white    and   colored   races    compared.     Nacli 
E.  FisCHBR's  Referat  im  Centralblatt  für  Chirurgie,  Bd.  XIV.  S.  850,  Leipzig  1887. 

4)  Hyades:   Les  epidemies  chez  les  Fu^giens.    Bulletins  de  lu  societe  d'Antliropologie 
de  Paris,  Tome  IX.  III  eme  Serie,  Paris  1886,  p.  '203. 


OulturcUe  and  Rassonanterschiede  in  Beiug  auf  die  Wundkrankheit ("n.  179 

blessure  devonait  une  cause  de  Buppuratioii  et  se  terminait  par  la  gangröne. 
Souvent  la  mort  surveuait  subiteinent.  Comiue  symptomes  dominants  de  la 
maladie  oii  observait  <Io8  vertiges,  des  maux  de  tete  affreux.  Oii  peut  dire 
ijue  la  moitif'*  de  la  population  a  ete  ainsi  onlevee  de  1863  a  1870.  Les 
))auYre8  survivants  soiit  frequeniment  malades,  se  plaignent  de  souffrir  de 
la  poitriue  et  de  Festoinac.  Piasieurs  presentent  <le8  deformations  de  la 
hauche  cousecutives  \\  des  nmladies  internes.  Le  chiifre  des  deees  depasse 
celui  des  naissances."^  lieber  diese  Blutvergiftung  sagt  HYADES:  ^Je 
croirais  volontiers  que  c'est  simplemeut  une  infectiou  purulente  so 
developpant  rapidimient  chez  des  sujets  fortement  debilites  par  une  yw 
des  plus  miserables,  et  si  Ton  adniet  le  microbe  de  Tinfection  purulente, 
on  ne  sera  pas  surpris  de  voir  le  Directeur  de  la  mission  d'Ouchouaya 
en  faire  une  epidemie  de  nature  special.*' 

Es  hat  im  ersten  Augenblicke  etwas  Befremdendes,  annehmen  zu  sollen, 
dass  diese  pathogenen,  Krankheiten  erregenden  Keime  nicht  in  allen 
menschlichen  Kassen  in  gleicher  Weise  ihren  Nährboden  finden  sollen. 
Wir  sind  aber  im  Stande,  den  Nachweis  zu  liefeni,  dass  wirklich  für  ver- 
schiedenartige pathogene  Keime  die  Empfänglichkeit  der  Menschenrassen 
<nne  verschiedene  ist.  Allerdings  kommt  dabei  die  weisse  Kasse  gewöhn- 
lich am  schlechtesten  fort.  Die  grössere  Empfänglichkeit  der  Weissen  für 
die  Malaria  ist  wohl  hinreichend  bekannt,  und  wir  können  sie  daher  au 
dieser  Stelle  übergehen.  Auch  für  das  gelbe  Fieber  ist  die  weisse  Kasse 
wesentlich  empfänglicher,  wenigstens  als  die  schwarze,  welche  letztere 
nach  HIR8CII*),  wie  es  scheint,  eine  fast  absolute  Immunität  gegen  das- 
selbe besitzt  In  schweren  Gelbfieber- Epidemien  in  Britisch  Guyana 
und  Mexico,  welche  die  Weissen  fast  decimirten,  w^urde  unter  Tausenden 
von  Schwarzen  kein  einziger  Erkrankungsfall  beobachtet.  Interessant 
ist  es  aber,  zu  erfahren,  dass  einige  Mulatten  von  dieser  Krankheit 
befallen  wurden.  Die  Syphilis  ist  ebenfalls  eine  Erkrankung,  unter 
welcher  die  weisse  Kasse  viel  schwerer  zu  leiden  hat  als  <lie  Farbigen. 
Von  den  Haida-Indianerinnen  im  nordwestlichen  Amerika  berichtet 
<ler  Capitan  JaCOBSEN^),  dass  sie  allsommerlich  Prostitutionsreisen  in  die 
Städte  der  Weissen  unternehmen,  und  dass  man  trotzdem  keine  schweren 
syphilitischen  Erscheinungen  bei  ihnen  sieht  Allerdings  glaubt  er,  dass 
hieran  der  (iebrauch  einer  warmen  Heilquelle  Schuld  sei,  welche  sie  in 
ihrem  Lande  besitzen.  Aber  auch  vou  den  Chinesen  wissen  wir  durch 
SMART*)  und  MARTIN*),    dass    die  Syphilis    bei    ihnen    nur  ganz  leichte 

1,  Ar(;u8T  Hirsch:  Acclimatisation  und  Colonisation.   Zeitschr.  f.  Ethnol.,  Bd.  XVIII. 
Verhandl   d.  Rerl.  anthropol.  Gesellsch.,  S.  lf>9.     Berlin  1886. 

2.  AiorsT  WoLDT.    Capit&n    Jacobsen's    Roise    an    der    Nordwestküste    Amerikas. 
Leipzig  l^^. 

B)    Smakt:   The  Lancet     1861. 

4)   Maktik  :    Etüde  nur  U  Prostitution  en  Chine.    Qasette  hebdomadaire  de  m^decine, 
l'aris  1872,  p.  802. 


180  Max  Bartels: 

Erkrankungen  verursacht,  während  jeder  Weisse,  der  sich  bei  ihnen  inficirt, 
von  den  allerschwersten  Formen  befallen  wird.  Es  heisst  bei  MARTIN: 
„II  nous  ä  ete  prouve  que  le  sujet  chinois  ayaut  donne  la  syphilis  ä  un 
sujet  europeen  ue  presentait  pas  de  signes  exterieurs  bien  serieux,  tandis 
que  le  sujet  contamine  voyait  son  aifection  parcourir  toutes  ses  phases,  et 
que  ces  accidents  eussent  revetu  uu  caractere  grave  sans  Fintervention 
d'une  medication  appropriee.  —  La  race  jaune  possede  une  aptitude 
moindre  ä  la  syphilis  que  la  race  blanche."* 

Auch  LiVINGSTONE  behauptet,  unter  seinen  afrikanischen  Völkern 
niemals  schwere  Formen  von  Syphilis  gesehen  zu  haben.  Dieses  gilt  aber 
nur  für  die  Leute  von  reiner  Rasse.  Sobald  es  sich  um  Mischlinge  mit 
Weissen  handelte,  so  fanden  sich  auch  die  ernsten  Symptome,  mid  zwar 
um    so    stärker,   je    mehr    weisses  Blut  in  den  Adern  des  Patienten  floss. 

In  hohem  Grade  beachtenswerth  ist  das  Verhalten  der  verschiedenen 
Rassen  gegen  die  ursächlichen  Keime  der  acuten  Exantheme:  der  Blat- 
tern, des  Scharlachs  und  der  Masern.  Während  nehmlich  ein  Rassen- 
unterschied in  der  Ertragungsfähigkeit  der  Blattern  sich  nicht  constatireu 
lässt,  während  diese  fürchterliche  Krankheit  die  gleichen  Verwüstungen 
im  Innern  von  Afrika,  in  Indien,  in  dem  malayischen  Archipel 
u.  s.  w.  anrichtet,  wie  sie  dieses  vor  der  Einführung  der  Impfung  in 
Europa  gethan  hat,  so  lässt  sich  wiederum  für  den  Scharlach  eine 
deutliche  Differenz  zu  Ungunsten  der  weissen  Rasse  keineswegs  ver- 
kennen. Was  für  die  letztere  der  Scharlach  für  eine  Geissei  bildet,  dürfte 
wohl  in  hinreichender  Weise  bekannt  sein.  AUGUST  IllKSCH*)  äussert  sich 
hierüber  folgendermaassen:  „Dem  bei  weitem  grössten  Verbreitungsgebiete 
von  Scharlach  begegnen  wir  auf  europäischem  Boden.  In  Deutsch- 
land, Frankreich,  den  Niederlanden,  England  und  den  skandina- 
vischen Reichen  bildet  die  Krankheit  einen  Hauptfactor  in  der  Mor- 
biditäts-  und  Mortalitätsstatistik;  ebenso  scheint  Scharlach  in  Russland 
ziemlich  allgemein  verbreitet  zu  herrschen,  und  dafür,  dass  auch  die  nörd- 
lichsten und  südlichsten  Landstriche  dieses  Erdtheiles  sich  keiner  wesent- 
lichen Immunität  von  der  Seuche  erfreuen,  sprechen  die  Berichte  von 
SCHLEIöNEK  aus  Island  einerseits,  von  MENIS  und  DE  RENZI  aus  Ober- 
und  Ünter-Italien,  von  OPPENHEIM  und  RlGLER  aus  der  Türkei,  von 
Olym1*IOS  aus  Griechenland,  von  MORlö  aus  der  Insel  Sardinien,  von 
ZULATl  und  JeNMEK  aus  den  ionischen  Inseln  und  Malta  audererseits."" 

Fast  gänzlich  unbekannt  oder  nur  in  milden  Epidemien  auftretend, 
ist    dagegen    die  Krankheit  in  Asien,    in  Afrika  und  in  Oceanion.     In 


1)   August  Hirsch:   Handbuch   der  historisch  -  geographischen   Pathologie.     Abthei- 
lung I:    Die    allgemeinen    acuten    Infectionskrankheiten    vom    historisch  -  geographischen 
Standpunkte    und   mit    besonderer   Berücksichtigung   der  Aetiologie.    Zweite,    vollständig 
neae  Bearbeitung,    Stuttgart  1881. 


Cnltarelle  nnd  Rasaennnienchiede  in  Benifr  ftnf  die  Wnndkrankheiteii.  181 

Amorika  sind  aber  neuerdings  schwere  Epidemien  sowohl  im  Norden,  als 
auch  im  Rüden  beobachtet  worden. 

Bei  den  Masern  gestaltet  sich  die  Rache  nun  gerade  umgekehrt:  hier 
habon  di«»  farbigen  Rassen  entschieden  viel  schwerer  zu  leiden,  als  die 
Weissen.  Den  Beweis  für  diese  Behauptung  „bieten  die  Epidemien  von 
1749  unter  den  Eingebomen  an  den  Ufeni  des  Amazonenstromes,  wo 
die  Zahl  «ier  der  Reuche  Erlegenen  auf  30  000  veranschlagt  wird  und  ganze 
Tribus  hinweggerafft  wurden,  ferner  1829  in  Astaria,  wo  fast  die  Hälfte 
der  Eingebornen  zum  Opfer  fiel,  ebenso  1846  unter  den  Indianern  der 
Hudsonbay-Länder.  1852  unter  den  Hottentotten  im  Caplande, 
1854  und  1861  unter  den  Eingebomen  von  Tasmania  und  1874  auf  Mau- 
ritius und  auf  (hm  Fidschi-Inseln"  (HlBSCH^)).  Auch  die  Peuer- 
1  ander  sind  nach  IlYADES*)  in  den  letzten  Jahren  durch  eine  Masera- 
epidemie  decimirt  worden:  „L'epidemie  s'est  etendue  rapidement,  aucun 
des  indigenes  residant  pr^s  de  la  mission  anglaise  n'a  ete  epargnö." 

Von  den  tuberculösen  Prozessen  behauptet  TiFFANY'),  dass  sie 
bei  den  Negern  um  Vieles  schneller  und  bösartiger  verlaufen,  als  bei  den 
Weissen. 

Wenn  nun  auch  nach  meiner  üeberzeugung  für  die  grössere  oder 
geringere  Ertragungsfahigkeit  traumatischer  Eingriffe  oder,  was  dasselbe 
sagen  will,  für  die  höhere  oder  geringere  Immunitat  gegen  die  pathogenen 
Keime  der  accidentellen  Wundkrankheiten  in  erster  Linie  nnd  haupt- 
sächlich die  Rasse  verantwortlich  gemacht  werden  muss,  so  können 
wir  sie  doch,  wie  ich  glaube,  nicht  als  die  ausschliessliche  Ursache  für 
diese  Dinge  betrachten.  Denn  auch  innerhalb  der  weissen  Rasse  finden 
wir  ganz  zweifellos  sehr  verschiedene  Grade  der  Toleranz  gegen  Ver- 
letzungen. Schon  die  vorher  erwähnten  Menschen  der  neolithischen  Periode 
sprecluMi  dafür.  Denn  wir  haben  keinerlei  Ursache,  anzunehmen,  dass  sie 
nicht  der  sogenannten  kaukasischen  Rasse  angehört  hätten.  Auch  die 
in  Russland  so  weit  verbreitete  Skopzensekte  beweist  es.  Diese 
wunderbaren  Heiligen,  über  die  wir  durch  VON  PELIKAN*)  amtliche 
B(Tichte  besitzen,  schneiden  sich  bekanntlich  den  Hodensack  oder  den 
P<»ni8,  oder  beides  zugleich  ab:  auch  excidiren  sie  di<»  Weiber,  ähnlich 
wi«»  die  Nord-Afrikaner,  und  amputiren  ihnen  die  Brüste.  —  alles  zur 
höheren  Ehre  Gottes.  Ihre  chirurgischen  Instrumente  sind  schartige  Messer, 
Scherben  oder  Blechstücke,  und  doch  hat  man  einen  tödtliclien  Ausgang 
oder  den  Eintritt  schwerer  Erscheinungen  nur  in  den  seltensten  Fällen 
nachweisen    können.     Als  ich  kurz  nach  der  polnischen  Insurrection  im 

1)  AuGCST  Hirsch:   Hist.-geogr.  pathol.  Abth.  I.  S.  120. 

2)  Hyades:   I.e.  p.  202. 

3)  TirrANY:   I.e. 

4)  K.  VON  Pelikan:  Gerichtlich  roediciniHche  Untersuchungon  Qber  das  Skopzenthum 
in  Rnssluid.    Uebersetit  yod  N.  Iwanoff.    Giessen  und  St  Petersburg  1876. 


182  Max  Bartels: 

Jahre  1864  einige  Wochen  in  Masuren  an  der  russischen  Grenze  zu- 
brachte, waren  die  Leute,  auch  die  Aerzte,  noch  voll  von  den  colossalen 
Verletzungen,  welche  einige  Kosaken  davongetragen  hatten.  Man  hatte 
sie  für  absolut  verloren  gehalten,  und  trotzdem  waren  sie  in  relativ  kurzer 
Zeit  wieder  hergestellt.  Einige  ähnliche  staunenswerthe  Fälle  wurden  von 
Hans  SCHMID')  aus  dem  serbischen  Feldzuge  berichtet.  Das  üeber- 
einstimmende  in  allen  diesen  Fällen  können  wir  nun  nur  in  dem  einen 
Umstände  finden,  dass  es  sich  hierbei  stets  um  solche  Leute  handelte, 
welche,  obgleich  der  kaukasischen  Rasse  angehörig,  sich  dennoch  auf  einer 
sehr  niedrigen  Culturstufe  befanden.  Auch  die  bekaimten  Erfahrungen 
von  PlROÖOFF^)  finden  zum  Theil  wohl  hierdurch  ihre  Erklärung.  Er 
sagt:  „Die  glücklichsten  Resultate  meiner  chirurgischen  Praxis  habe  ich 
auf  dem  Lande  in  Po  doli  en  gewonnen.  Nach  ein  paar  Hundert  bedeu- 
tenden Operationen  —  habe  ich  nicht  ein  cnnziges  Mal  Erysipel  und 
purulente  Diathese  beobachtet,  und  habe  nur  einen  meiner  Operirten  ver- 
loren. Allen  diesen  Operirten  folgte  nur  sehr  selten  eine  sorgfaltige  Nach- 
behandlung. (Sie  lagen  in  dem  gemeinsamen  Wohn-  und  Schlafraume  mit 
den  Bauern  zusammen.)  Die  Patienten  gehörten  keineswegs  zu  den  Mit- 
gliedern der  Bauernfamilien.  Sie  waren  grösstentheils  fremde,  von  weit- 
her gekommene  Leute,  die  für  Obdach  und  Kost  zahlen  mussten.  Sie 
behielten  meistens  wochenlang  die  mit  Blut  und  Eiter  beschmutzte  Wäsche 
und  die  aus  leinenen  Hosen  und  aus  einem  Rocke  oder  Schafpelze 
bestehenden  Kleidungsstucke  auf  dem  Körper.  Bedenke  ich  femer,  dass 
beinahe  alle  von  mir  auf  dem  Lande  gemacliten  Operationen  zu  solchen 
gehörten,  die  selbst  in  sogenannten  salnbren  Hospitälern  meist  von  Ery- 
sipelen und  Pyämie  gefolgt  werden,  so  kann  ich  diese  Diiferenz  der 
Resultate  mir  nur  einigermaassen  dadurch  erklären,  dass  meine  Operirten 
auf  dem  Lande  nicht  in  einem  Räume  zusammen,  sondern  vereinzelt, 
einer  vom  anderen  vollkommen  abgesondert  lagen."  Ich  möchte  hier  wohl 
noch  hinzufügen:  „und  dass  sie  den  niedersten  und  in  einer  Art  von  Halb- 
cultur  lebenden  Schichten  der  russischen  Bevölkerung  angehört  haben". 
Das  uns  bis  heute  zu  (lebote  stehende  Material  liefert  also  den 
uuumstösslichen  Beweis,  dass  traumatische  und  chirurgische  Eingriife,  wohl 
verstanden,  olme  die  Cautelen  der  antiseptischen  Wundbehandlung,  nicht 
von  allen  Menschen  in  gleicher  Weise  ertragen  werden,  und  wenn  wir 
auch  den  eigentlichen  Grund  für  diese  Thatsache  fürs  erste  nocli  nicht 
einzusehen  vermögen,  so  können  wir  doch  nicht  umhin,  dem  höheren  oder 
geringeren  Grade  der  Civilisation  eine  wichtige  Rolle  für  dieses  Verhalten 
zuzusprechen.     Vielleicht    haben    wir   uns    die    Sache    in    cler  Weise    vor- 

1)  Hans   Sciimid:    Aus    den    serbischen    Kriej^fslazarethon.     Vortrag,    gehalten    am 
3.  März  1886  in  der  Berliner  medicinischen  Gesellschaft. 

2)  N.  Pirügopf:    Grundzfige    der  allgemeinen  Kriegschiriu*gie.    Nach  Reminiscenzen 
aus  dem  Kriege  in  der  Krim  und  im  Kaukasus  und  aus  der  Hospitalpraxis.    Leipzig  1864. 


Coltorelle  und  Rassenantenchiede  in  Beiug  auf  die  Wondkrankheiten.  183 

zustoUoiK  da88  bei  den  unter  primitiven  Verhältnissen  lebenden  Menschen 
durrh  diejenige  Umbildung  in  dem  Haushalte  des  Organismus,  welche  wir 
gemeinhin  mit  dem  Namen  der  Abhilrtung  zu  bezeichnen  pflegen,  der 
Stoffwechsel  beschleunigt  und  gesteigert  wird,  und  dass  sie  hierdurch  die 
Befähigung  erlangen,  Fäulnisserreger,  welche  in  ihre  Wunden  eingedrungen 
sind,  mit  grosser  Geschwindigkeit  wieder  aus  ihrem  Körper  auszusch(*iden 
und  dadurch  natilrlich  an  ihrer  schädigenden  Weiterentwicklung  zu  ver- 
hindern. Jedenfalls  aber  liaben  wir  die  Berechtigung,  über  die  Ertragungs- 
fähigkeit, die  Toleranz  gegen  die  traumatischen  und  chirurgischen  Eingriffe 
den  folgenden  Satz  für  bewiesen  zu  halten:  Je  höher  die  Kasse,  desto 
geringer  ist  die  Toleranz,  und  je  niederer  innerhalb  der  gleichen 
Rasse  der  Culturzustand  ist,  desto  grösser  ist  die  Toleranz. 

Es  bleibt  uns  daher  nichts  anderes  übrig,  als  der  Civilisation  eine 
Steigerung  in  der  Empfänglichkeit  für  die  Mikroorganismen  der  Wund- 
krankheiten zuzusprechen.  Allerdings  müssen  wir  dann  die  Frage  auf- 
werfen, ob  die  in  <len  obigen  Auseinandersetzungen  festgestellten  Unter- 
schiede als  ächte  Rassendifferenzen  aufgefasst  werden  dürfen,  d.  h.  als 
solche  Eigeuthümlichkeiten,  welche  immer  und  unter  allen  Umständen 
der  betreffenden  Rasse  anhaften,  oder  ob  sie  vielleicht  nur  scheinbare 
sind,  ob  sie  ebenfalls  nur  durch  den  Umstand  hervorgerufen  werden,  dass 
die  betreffenden  Farbigen  noch  in  einem  Zustande  von  relativer  Wildheit 
ihr  Leben  führen,  und  dass  sie  diese,  sie  vor  dem  weissen  Manne  aus- 
zeichnende Eigenschaft  verlieren  würden,  wenn  es  gelänge,  sie  in  einen 
Zustand  hoher  Culturentwicklung  überzuführen.  Leider  vermögen  wir 
diese  interessante  Frage  nicht  zu  entscheiden,  denn  es  liegen,  soweit  mir 
bekannt  ist,  hierfür  keine  beweiskräftigen  Beobachtungen  vor.  Immerhin 
ist  es  aber  beachtenswerth,  dass  von  den  Japanern  sowohl,  als  auch  von 
den  Chinesen  nicht  berichtet  wird,  dass  sie  Verletzungen  besser  vertrügen, 
als  die  Leute  der  weissen  Rasse. 


VI. 

Eintheilung  und  Verbreitung  der  Berberbevölkerung 

in  Marokko. 

Von 

M.  QUBDENPELDT. 

(Hierzu  Tafel  VI.) 
(Fortsetzung  von  Seite  160.) 


Es  ist  selbstverständlich,  dass  die  jederzeit  kampfbereiten  Breber  sich 
nie  von  ihren  Waffen  trennen.  Ihre  Geschickliehkeit  in  der  Handhabung 
derselben  ist  sehr  bedeutend.  Sie  verstehen  es,  bei  anscheinend  friedlicher 
Unterhaltung  mit  einer  Person,  die  sie  tödten  wollen,  ihr  Gewehr  mit  der 
Zehe  abzudrücken  oder  den  Dolch  unbemerkt  aus  der  Scheide  zu  ziehen  ^ ). 
Die  HauptwaflFe  bildet  eine  lange  Flinte  mit  Peuersteinschloss  und  breitem 
Kolben,  von  der  Art,  wie  sie,  als  bei  den  Ruäfa  gebräuchlich,  auf  S.  121 
abgebildet  ist  und  wie  sie  in  dieser  Form  im  ganzen  Lande,  ausser  bei 
den  Schlöh,  vorkommt.  Nur  die  Ait  Bu-Sid  bedienen  sich,  wie  die  letz- 
teren, der  Flinte  mit  schmalem,  stark  verziertem  Kolben;  dieser  Stamm 
trägt  auch  durchgehends  Säbel.  Bei  einigen  Stämmen  im  Gebiete  des 
Muluja,  an  der  algerischen  Grenze,  sind  Doppelflinten  französischen 
Ursprungs  mit  Perkussionsschlössern  nicht  selten  in  Gebrauch.  —  Es  sei 
hier  eingeschaltet,  dass  Feuerwaffen  dieser  Art  von  den  Franzosen  auch 
im  Senegalgebiete  in  grosser  Menge  importirt  werden.  Von  da  aus  haben 
sich  dieselben  durch  die  ganze  westliche»  Sahara  bis  ins  Tekena-  und 
Nün-Gebiet  verbreitet.  Pistolen  trägt  der  Berberi  selten;  für  den  Fern- 
kampf scheinen  sie  ihm  nicht  geeignet,  und  für  den  Nahkainpf  genügt  ilim 
sein  Dolch.  Die  Gewehre  werden  mit  der  höchsten  Sorgfalt  beliandelt 
und  oftmals  mit  bunten  Lederriemen,  SilberbeschlägcMi  u.  s.  w.  verziert. 

Dir  Pulver,  von  sehr  grobkörniger  Beschaffenhc^it,  bereiten  die  Breber 
selbst  aus  im  Lande  gewonnenem  Salpeter,  aus  der  Kohle  vom  Holze  des 
Oleander  und  aus  Schwefel,    welcher  von  Händlern  eingeführt  wird.     Der 

1)   Vergl.  Erckmann  a.  a.  0.  S.  119. 


ltüi,hi:tEtiau,l  BäXxm^ 


Eintheilang  und  Verbreitung  der  BerberbeTölkerung  in  Marokko.  185 

Werth  dio8(»8  wichtigen  Artikels  stiegt  im  ganzen  Lande,  sobald  die  Kunde 
von  einer  schweren  Erkrankung  des  Sultans  oder  von  sonstigen  Umständen 
laut  wird,  die  einen  Thronwechsel  mit  seinen  unvermeidlichen,  kriegerischen 
Wirren  in  nahe  Aussicht  stellen. 

Zur  Aufbewahrung  ihrer  Munition  führen  die  östlich  wohnenden  Stamme, 
wie  ich  im  Lager  des  Sultans  bei  Ssaffi  (1886)  bei  einem  Aufgebot  der 
Ait  Scherroschon  zu  sehen  Gelegenheit  hatte,  sehr  hübsch  aus  Leder  oder 
Thierfellen  gearbeitete  Kugelbeutel  und  Taschen,  oftmals  mit  lang  herab- 
hängenden Lederfran8(Mi  besetzt  —  ein  Ajustement,  welches  unwillkürlich 
an  das  der  nordamerikanischen  Indianer  eriiniort.  Fig.  1  (Taf.  VI)  stellt 
nach  einer  Zeichnung  von  FOUCAULD  (S.  24)  eine  solche  Tasche,  kräb,  dar. 

In  den  Oasen  der  Sahara,  speciell  in  Tafilelt,  Ferkla  u.  s.  w.,  sind 
sehr  kunstvoll  in  Lederstickerei  gearbeitete  Taschen  mit  mehrfachen 
Behältern  in  (lebrauch,  welche  den  Namen  kräb  filali,  d.  h.  aus  Tafilelt, 
führen;  man  bewahrt  auch  Tabak  darin  auf.  Ich  gebe  (Fig.  2)  die  Ab- 
bildung einer  solchen,  von  mir  mitgebrachten  Tasche,  welche  sich  jetzt 
in  der  Sammlung  des  Königl.  Museums  für  Völkerkunde  in  Berlin  befindet  >). 

Die  Pulverflaschen  sind  gleichfalls  geschmackvoll  gearbeitet,  entweder 
rund  mit  Holzschnitzerei  (Fig.  3)  oder  —  bei  einigen  im  Norden  des 
(tebietes  wohnenden  Stammen  —  von  einer  Form,  die  sich  bienenkorb- 
artig wie  ein  kleiner  Hügel  auf  einer  Holzscheibe  präsentirt  (Fig.  4)  und 
die  man  auch  im  Djebel.  zwischen  Tetuan  und  Fäss,  in  Andjera  u.  s.  w. 
schon  findet.  Diese  Pulverflaschen  sind  oftmals  mit  den  blanken  Messing- 
köpfen hineingeschlagener  Nägel  bedeckt. 

Einzelne  Breber-Stämme  im  Südosten,  z.B.  die  Ait 'Ali-u-Brahim, 
tragen  noch,  wenn  gleich  sehr  vereinzelt,  neben  ihren  Gewehren  kurze 
Spiesse,  eine  Bewaffnungsart,  welche  im  übrigen  Marokko,  wie  bereits 
erwähnt,  nirgends  mehr  vorkommt.  Die  lange  Lanze  der  Beduinen  des 
Orients  ist  auch  in  früheren  Zeiten  im  ganzen  Maurib  nicht  heimisch 
gewesen. 

Ausser  tlem  (Jewehr  führen  alle  Brebor  Säbel  oder  Dolche  von  ver- 
schiedener Form.  Meist  sind  tliese  letzteren  Stichwaffen  lang;  kurze, 
m(»sserartige  Dolche  find(»t  man  seltener  bei  ihnen.  Fig.  5  veranschaulicht 
eine  ssebüla,  wie  sie  bei  den  nordwestlichen  Tribus  getragen  wird:  Holz- 
griff, Scheide  gleichfalls  von  Holz  mit  dünnem  Messingblech  belegt.  Fig.  8 
stellt  einen  ziemlich  kurzen,  leicht  gekrümmten  Dolch  dar,  der  am  oberen 
Draa  im  Gebrauche  ist  und  dem  Namen  ^'abad'*  führt.  Der  Griff  ist  von 
Hörn,  die  Scheide  von  Holz  mit  rothem  Leder  überzogen. 

Die  Dolche  sowohl,  als  auch  die  Taschen  für  Munition  variiren  im 
Allgemeinen  in  tler  Form  nicht  sehr;  intlessen  haben  die  westlichen  Stämme 

1)   Mit  Aasnahme   Ton  Fig.  l    siDd   alle   hier  abgebildeteD,   ethnographischen  Gegen- 
stlnde  nach  den  von  mir  mitgebrachten  Originalien  gezeichnet. 

Z«iUcbriri  für  Ktbaolofie.    Jahrg.  IMi».      •  ^ 


Igf;  M.  QUfiDENFELDT: 

doch  andere  Muster  in  Gebrauch,  als  die  in  den  östlichen  Theilen  des 
Gebietes  wohnenden.  In  Fig.  7  ist  eine  Munitionstasche  vom  Pelle  dos 
Herpestes  Ichneumon  L.    abgebildet,    wie    sie    bei   den  Geruän  vorkommt. 

Die  Leute  von  Tadla  tragen  an  Stelle  sonstiger  Stichwaffen  ein  langes 
Bajonnett  an  einer  dicken,  bunten  oder  einfarbig  rothen  Wollenschnur 
(medjdul)  von  der  rechten  Schulter  zur  linken  Hüfte.  In  gleicher  Weise 
wird  in  ganz  Marokko  SäbeL  Dolch  und  Pulverhorn  getragen.  Ein  Spicken 
des  Ijeibgurtes  mit  Stichwaffen,  wie  es  bei  den  Arnauten,  vielen  klein- 
asiatischen Mohammedanern  u.  s.  w.  die  Regel  ist,  habe  ich  dort  nie 
bemerkt.  Nur  bei  den  Ruafa  sali  ich  einige  Mal  Pistolen  in  clem  um 
den  Leib  gewundenen  Shawl  stecken. 

FOUCAULD  erwähnt  (S.  45)  das  Vorkommen  grosser,  säbelartiger  Holz- 
stöcke bei  der  Kabila  Siiian.  Ich  vermuthe,  dass  diese  Holzsäbel  identiscli 
sind  mit  einer  ähnliclu^i  Waffe,  die  ich  im  ganzen  Garb  beobachtet  habe 
und  die  man  dort  „met-el-öt",  d.  h.  „Tödteholz",  nennt,  woraus  die  Spa- 
nier „mataluta"  machen  (Fig.  8).  Mit  di(»ser  Waffe  bringen  sich  die  Land- 
leute in  Schlägereien  oft  schwere  Verwundungen  bei. 

Die  Bekleidung  und  die  Haartracht  der  Breber  wechselt  in  den  ver- 
schiedenen Gegenden  nicht  unc^rheblich.  Im  Norden,  um  Fäss  und  östlich 
davon,  ist  der  „chaidilss",  ein  Bernuss  von  schwarzer  Wolle,  gebräuchlich. 
Die  Semür  und  Sa'ian  im  WesttMi  zeichnen  sich  nach  FOUCAULD  durch 
ihre  primitive  Bekleidung  aus.  Selbst  reiche  Leute  tragen  dort  weder 
Unterhemd  noch  Hosen,  sondern  nur  ein  einfaches  Oberhemd  mit  kurzen 
Aerineln,  „laradjia"  oder  „farasia",  inid  darüber  den  „beniüss*'.  Die  Armen 
tragen  überhaupt  nur  den  letzteren;  auf  dem  Marsche  falten  sie  ihn  zu- 
sammen, leg(»n  ihn  über  die  Schnittern  und  gehen  nackend.  Reiche  tragen 
um  «len  Kopf  einen  Turban  von  weisser  Baumwolle  oder  ein  roth  und 
weisses  Taschentuch;  tlie  Armen  gehen  barhäuptig. 

Die  Kleidung  der  Frauen  ist  \nn  ihnen  gl(»ichfall8  so  (unfach  wie 
möglich.  Sie  besteht  in  einem  rt^chtwinklig  geschnittenen  Stücke  WolhMi- 
oder  auch  Baumwollen  zeug,  «lesscMi  beide  Enden  durch  eine  V(»rtikale  Naht 
verbunden  sind.  Sie  trag(Mi  es  auf  drei  Arten:  je  nachdcmi  sie  ausgehen, 
ausserhalb  des  Zeltes  oder  im  Z(»lte  selbst  arbeiten.  Im  ersten  Falle  wird 
das  Gewand  durch  Spang(Mi  von  Silber  (chellal)  oder  einfache  Knoten 
über  jed(»r  Schulter  gehalt(»n.  Wt^nn  sie  im  Freien  arbeiten,  schürzen  sie 
es  auf  und  lasscm  die  Arnn»  und  Schultern  biz  zum  Busen  frei.  Im  Innern 
des  Zeltes  lassen  sie  den  obenan  Tlieil  h(M*al)fallen,  so  dass  d(»r  Köq)er 
bis  zum  (rürt(d  nackt  bleibt.  Als  (lürtel  dicMit  in  allen  drei  Fällen  ein 
wollenes  Band,  welches  das  kurze,  kaum  über  tue  Knie  herabreichende 
Gewand  oberhalb  der  Ilüft(»n  zusammenhält. 

l)i(»se  Art  der  Bekleidung  findet  sich  ausschliesslich  bei  den 
genannten  zwjm  Stämnu^n.  Schon  die  Frauen  in  (h^m  benachbartcMi  Gebiete 
von  Tadla  tragen,  wie  fast  durchgehentls  im  übrigen  Marokko,  eine  längere, 


Eint  Heilung  und  Verbreitung  der  Berborl)ovftlkerung  in  Marokko.  187 

bis  zum  Knöclu»!  herabfallende  Oewaiuhui«^,  die  stets,  auch  bei  der  Arbeit, 
mit  Fibeln  oder  Knoten  Aber  <len  Schultern  befestij^t  ist.  Die  Form  dos 
Kleidunjj^stuekes  ist  die  «ifleiehe,  rechteckiLce,  währentl  <his  Gewebe  und 
der  Stoff  vielfach  wechseln.  Die  Hreber- Frauen  verschleiern  sich  niemals; 
nur  bei  einzelncMi  Stämmen  ist  es  Sitte,  ein  kleines,  schleierartij^es  Kopf- 
oder Brusttuch  zu  tra«;en. 

In  der  Oase  Krtib  kleiden  sich,  nach  KoHLFS,  die  Weiber  vorzujrs- 
weise  in  (»inen  dunkelblauen  Haik.  ans  «grobem  Kattun  bestehend,  der  von 
England  aus,  meist  über  3fogador,  ein<^efilhrt  wird.  Ihr  Haar  durchflechten 
sie  mit  vielen  Silber-  und  Kupferkc^tten,  tra^^en  aucli  an  den  Armen,  wie 
um  die  Knöchel  schwx^re  Spanji^en  von  diesen  Metallen.  Die  jungen,  nn- 
verheiratheten  Manner  der  Ait  Atta,  wcdcher  Stamm  einen  integrirenden 
Bestandtheil  der  Bevölkerung  der  genannten  Oase  bildet,  tragen  im  recliten 
Ohre  einen  schw^eren  silbernen  King,  der  dasselbe  oft  bis  zur  Schulter 
liinabzieht.  Die  Jünglinge  der  Ait  Isdigg  tragen  einen  Ring  von  Silber 
im  linken  Ohre;  die  Kleidung  besteht  dort  meist  aus  einem  Bernüss  von 
weisser  Wolle,  mit  bunter  Seide  gestickt. 

Das  Tättowiren  (tischerat)  ist  bei  «len  Weibern  der  meisten  Breber- 
Stamme  üblich;  die  Frauen  der  Beni  Mellal,  der  Ait  Atta  Umalu  und 
einiger  anderer  Kabilen  im  Tadla  zeichnen  sich  durcli  einen  übermässigen 
tiebrauch  des  Ilenna-Mehles  aus. 

Fingerringe  sind  bei  beiden  Geschl(»chtern  überall  sehr  beliebt;  den 
Weibern  ist  überhaupt  jede  Art  von  Schmuck,  deren  sie  nur  habhaft  werden 
können,  willkommen:  Halsketten  (taselacht),  Armbänder  (imkiassen),  Ohr- 
ringe (letrak)  u.  s.  w. 

In  Rabat  beschäftigte  Hafenarbeiter  vom  Stamme  der  Geruän  sah  ich 
mit  einer  kaschäba  (kurzes  ärmelloses  Hemd)  von  weisser  Wolle  mit  ein- 
gewebten rothen  Längsstreifen  und  kurzen  Leinwandhosen  bekleidet.  Ein 
in  der  Form  dieser  kaschäba  sehr  ähnelndes,  aber  längeres  Kleidungs- 
stück aus  blauem  Baumwollenzeug  (chent)  wird  von  den  südatlantischen 
Breber  wenig,  hingegen  von  den  Schlöh  in  den  westlichen  Oasen  viel 
getragen. 

Die  Ait  Jahia  und  Ait  Ssedrat  in  Mesgita')  tragen  den  Bernüss  ent- 
weder von  einfarbig  brauner  oder  von  grauer  Ziegenwolle;  im  letzteren 
Falb»  ist  er  mit  feinen  weissen  oder  schwarzen  Längsstreifen  versehen. 
Der  Kopf  wird  bloss  getragen  oder  mit  einem  kleinen  Tuche  turbanartig 
umwunden. 

Im    (lebiete    von    Datles'-')    tragen     die    Mäimer     lange    Bernüss    von 

1)  Mesgita  hat  eine  stark«»,  «^eniischte  Bevölkeninjj  von  BrOber  (Ait  Ssedrät),  Schlöh 
Haratin  und  Arabern  (Schürfa\  weshalb  Kleidung,  Hewalfnunp  u.  s.  w.  viele  Ueberj^änj^e 
aufweisen.  Einzelne  weitere  Mitth(»iliinf>:en  über  die  Oasen  mit  gemischter  Bevölkerung 
werde  ich  im  näch^iten  Abschnitte  bringen. 

2)  Ein»*    der    arabischen     Ausspraclit»     sehr    gut     augepasste.    indessen    incorrecte 


Igg  M.  Quedenfeldt: 

schwarzem  oder  dunkelblauem  Wolleiistoif.  In  Todra  sind  dieselben  meist 
in  „Haik's"  oder  Berniiss  von  weisser  Wolle  gekleidet.  Noch  weiter  öst- 
lich, im  Muluja-Thale,  macht  sich  schon  die  algerische  Sitte  bemerkbar, 
eine  Schnur  von  Kameelwolle,  welche  den  weissen  Haik  so  über  dem 
Kopfe  zusammenhält,  dass  der  Nacken  geschützt  ist,  um  die  Stirn  gewunden 
zu  tragen. 

Bei  vielen  Breber  sieht  man,  ähnlich  wie  bei  den  Arabern  in  den 
Ebenen  des  Westens,  eine  einfache  Schnur  von  brauner  Wolle  um  den 
glatt  rasirten  Schädel  gewunden.  Dies  Rasiren  des  Kopfes  ist  überall  die 
Regel;  bei  verschiedenen  Stämmen  tragen  besonders  die  jüngeren  Leute 
an  einer  Seite  des  Hinterkopfes  einen  Zopf- 

Die  Semilr  und  Saian  haben  die  Sitte,  sich  eine  lange  Locke  ober- 
halb des  Ohres  stehen  zu  lassen,  die  Saian  nur  über  einem,  die  ersteren 
über  beiden  Ohren.  Diese  Locke,  die  den  „nuäder"  ^)  der  marokkanischen 
Juden  oder  den  „Peies"  der  polnischen  entspricht,  bildet  für  die  jungen 
Stutzer  einen  Gegenstand  der  peinlichsten  Sorgfalt.  Man  kämmt  sie,  ölt 
sie  ein  und  flicht  sie  breit  auseinander.  Der  Gebrauch  des  Loekentragens 
besteht  auch  bei  einigen,  an  diese  Breber  grenzenden  Stämmen  in  Schauija; 
ebenso  gefallen  sich  viele  Muchasenia  (Lehnsreiter,  Gensdarmen  u.  s.  w.) 
in  dieser  Haartracht.  Vermuthlich  bezieht  sich  auf  diese  Sitte  die  auch 
von  ROHLFS  (Beiträge  u.  s.  w.  S.  92)  citirte  Stelle  aus  STRABON,  lib.  XVH: 
„sie  kräuseln  sich  sorgfaltig  ihr  Haupthaar  und  ihren  Bart,  und  selten 
wird  man,  wenn  sie  miteinander  spazieren  gehen,  bemerken,  dass  einer 
dem  anderen  zu  nahe  kommt,  aus  Furcht,  die  Frisur  desselben  zu  ver- 
derben." 

Die  heutigen  Breber  schneiden  den  Bart  kurz  und  rasiren  in  ähnlicher 
Weise,  wie  die  Araber,  nur  einzelne  Partieen  desselben.  Der  Bartwuchs 
ist  im  allgemeinen  stärk(»r,  als  bei  den  Arabern.  Die  ilbrigen  behaarten 
Körpertheile  werden  nach  allgemeiner  mohammedanischer  Sitte  rasirt. 
Die  Frau(»n  rasiren  nicht,  sondern  entfernen  die  Haare  durch  Auflegen 
einer  Paste,  dertMi  Hau|)tbestandt1ieil  ungelöschter  Kalk  ist. 

Die  Hanrfarbe  der  Breber  ist  schwarz  od€»r  ein  dunkles  Braun;  blonde 
Individuen  finden  sich  sehr  vereinzelt  darunter.  Nur  die  Bevölkerung  «1er 
im  Gebiete  der  Beni  Mtir  liegenden  Kassba  Agurai  ist  vorwiegend  blond. 
Dieser  Umstand  wird  von  den  umwohnenden  Berbern  und  Arabern  als 
(»twas  ganz  l^xceptionelles  betrachtet  und  dadurch  erklärt,  dass  sie  sagen, 
die  L(»ute  von  A^urfii  seien  Nachkommen  euro)>äisch(»r  Renegaten. 


Schreil)weiso  dieses  Wortes,  >I)alx~,  liinlot  sich  in  dvn  von  Henoi:  j).  h\\))  witMl<'rg»x^»ln'n<*n, 
im  Jahre  1788  von  Vknti:re  gesammelten  Notizen  über  die  Lander  zwiKchj'n  dem  Tad 
Draa  und  dem  Atlantischen  Ocean. 

1)  «Niiader-  sind  dicke  Haarsträhnen,  welche  die  marokkanischen  Jud<Mi  ul>er  jedem 
Ohre  länjJTs  <len  Wang^en  herabhängen  lassen  und  welche  bis  zum  Kinn  oder  bis  auf  die 
Schulter  reichen. 


Etntheilung  und  Verbreitung  der  Berberbevölkerung  in  Marokko.  Ig9 

Die  von  DE8PINE  (Psychologie  imturoUo  I.  p.  103)  und  nach  diesem 
Autor  auch  von  HARTMANN  in  seinem  vortn»fflichen  Werke:  Die Nigritier  * ), 
Th.  I.  S.  262,  erwähnten  blonden  Bewohner  von  Fass  sind,  wie  ich  mich 
selbst  durch  den  Augenschein  in  vielen  Fällen  überzeugen  konnte,  häufig 
Albinos.  Der  Albinismus  scheint  in  dieser  Stadt  mehr  als  anderwärts  in 
Marokko  (er  tritt  dort  überall  nur  sehr  vereinzelt  auf)  vertreten  zusein. 
Einen  besonders  ausgeprägten  Typ  sah  ich  in  der  Kassba  der  Uled  Harris 
(Kassba  Ben  er -Raschid)  in  Schauija,  einen  Fässi,  der  dort  von  dem  sehr 
reichen  Käid  als  Agent  in  allerlei  zweifelhaften  Geschäften  benutzt  wurde. 
Daneben  spielte  dieser  Mensch  die  Rolle  eines  Hofnarren  und  wurde  wegen 
seines  Aussehens  und  komischen  Wesens  fortwährend  gehänselt.  Neben 
allen  sonstigen  charakteristischen  Merkmalen  der  Albinos  hatte  er  auch 
den  eigenthümlich  lichtscheuen  Blick  derselben.  Unter  den  vielfach  sehr 
derben  Scherzen,  welche  mit  dem  Manne  getrieben  wurden,  war  ein  regel- 
mässig wiederkehrender  der,  ihn  als  Europäer  und  Christen  zu  bezeichnen; 
ich  wurde  in  seiner  Gegenwart  scherzweise  gefragt,  ob  ich  ihn  in  Europa 
nicht  schon  irgendwo  gesehen  habe  u.  s.  w.  Auch  aus  diesem  Beispiele 
erhellt  wiederum,  wie  die  Eingeborenen  selbst  geneigt  sind,  jedes  Auf- 
treten von  Hellhaarigkeit  unter  Ihresgleichen  a  priori  als  ein  Zeichen 
europäischer  Abstammung  zu  betrachten. 

üebrigens  ist  die  Thatsache,  dass  gerade»  unter  den  Bewohnern  von 
Fäss  sich  relativ  häufig  Individuen  mit  auffallend  weisser  Hautfarbe 
befinden,  aus  zweierlei  Ursachen  herzuleiten.  Einmal  sind  unter  den 
besseren  Klassen  der  Bevölkerung  zahlreiche  Nachkommen  der  aus  Spanien 
(Beled  el-Andaluss)  vertriebenen  „Mauren",  --  um  mich  dieser  sehr  vagen 
Bezeichnung  hier,  wo  sie  nocli  am  ersten  am  Platze  ist,  einmal  zu  bedienen, 
—  in  deren  Adern  entschieden  christliclies  Blut  rollt.  Neben  Fäss  sind 
es  in*  Marokko  noch  vornehmlich  die  Städte  Rabat  und  Ssela  und  ganz 
besonders  Tetuan,  wohin  sicli  jene  Auswanderer  oder  Flüchtlinge  wandten. 
Diese  maurischen  Familien  sintl  meist  schon  an  ihren  Namen  kenntlich. 
Während  der  Marokkaner  sonst  keinen  Familiennamen  führt,  sondern  sich 
nur  mit  seinem  Vornamen  und  dem  Zusätze  „Sohn  des  und  des**,  allenfalls 
noch    unter  Hinzufügung  seines  Stamm-  oder  Sippennamens-)  bezeichnet, 


1)  Die  Nifn^tier.  Von  R.  Hartmann.  Berlin  187(1.  —  Leider  konnte  dieses  vortreff- 
liche Werk  hei  der  Torliegenden  Arbeit  nur  in  sehr  geiiiigem  Umfange  als  Quelle  benatzt 
werdea,  da  der  Herr  Verfasser  die  Magribiner  aus  Autopsie  nur  wenig  kennt  und  sich  in 
Besog  auf  dieselben  meist  selbst  auf  franzosische  Autoren  stutzt.  Einige  Fragen,  welche 
hier,  als  mittelbar  zum  Thema  gehörig,  nur  gestreift  werden  konnten,  z.  B.  die  der  blonden 
Berber,  des  prähistorischen  Tamhu- Volkes  u.  s.  w.,  sind  von  dem  trefllichen  Anthropologen 
sehr  eingehend  behandelt,  und  ich  erlaube  mir  daher,  zur  Ergänzung  des  in  der  vor- 
liegenden Arbeit  darüber  Gesagten,  auf  Cap.  IX  des  Werkes  hinzuweisen.  Im  folgenden 
Abschnitte  komme  ich  selbst  noch  einmal  auf  dasselbe  zurück. 

2)  Z.  B.  Meludi  Ben  Mohammed  Siaidi  Talbi,  Meludi,  der  Sohn  des  Mohammed,  von 
der  Kabila  Siaida  und  der  Sippe  der  Ulcd  Taleb. 


190  M!.  Quedenpeldt: 

tragen  die  Abkömmlinge  der  spanischen  Mauren  constante  Familiennamen, 
wie  z.  B.  Torres,  Garcia,  ßalmia,  denen  der  mohammedanische  Rufname 
vorangestellt  wird,  beispielsweise  'Abd  el-Kerim  Ralmia. 

Der  zweite  Gnmd  für  die  weisse  Hautfarbe  vieler  Fäss- Leute  liegt 
in  der  Bauart  dieser  Stadt.  Fäss  ist  der  einzige  Ort  im  ganzen  Sultanate, 
welcher  Häuser  von  drei  bis  vier  Stockwerken  in  solcher  Anzald  besitzt, 
dass  sie  ganze  Strassen  bilden;  dabei  sind  diese  letzteren  so  schmal,  dass 
niemals  ein  Sonnenstrahl  hineindringt.  Viele  Einwohner  bringen  also,  bei 
der  Abneigung  der  marokkanischen  Stadtbewohner,  sich  durch  Spazier- 
gänge u.  dergl.  Bewegung  im  Freien  zu  verschfiffen,  fast  ihr  ganzes  lioben 
im  Schatten  der  Häuser  zu.  Abgesehen  vielleicht  von  einer  nothwendigen 
Geschäftsreise  oder  dem  Aufenthalte  gegen  Abend  in  einem  schattigen 
Garten  nahe?  der  Stadt,  kommen  viele  Städter  thatsächlich  niclit  ins  Freie. 
Dieser  Umstand  scheint  also  sehr  wohl  geeignet,  die  fast  krankhaft  zu 
nennende  Weisse  in  der  Färbung  mancher  Fässiin  zu  erklären. 

Der  unvermisohte  Breber- Typus  weicht  von  dem  der  Schlöh  beträcht- 
lich ab  und  weist  auch  DifTerenzen  mit  dem  der  Ruäfa  auf,  obschon  er 
dem  Typ  der  dunklen  Rif- Herber  entschieden  sehr  nahe  steht.  Die 
Breber  nördlich  vom  Atlas  und  in  diesem  Gebirge  selbst  sin«!  (obschon 
natürlich  durch  den  stetigen  Aufenthalt  im  Freien  gebräunt)  von  weisser 
Hautfarbe;  ihre  Statur  übersteigt  häufig  die  Mittelgrösse;  sie  sind  von 
schlankem  Bau  und  ungemein  muskulös.  Die  Form  ihres  Gesichtes  ist 
eine  mehr  längliche,  und  der  Schnitt  desselben  ist  allenfalls  dem  der 
romanischen  Völker  vergleichbar.  Die  typischen  Unterschiede  von  den 
Schlöh  werde  ich  bei  Besprechung  der  letzteren  hervorheben.  Die  südlich 
vom  Atlas  wohnenden  Breber  haben  durchschnittlich  eine  viel  dunklere 
Hautfarbe,  als  ihre  nördlich  dieses  Gebirges  lebenden  Stammesgenossen, 
ohne  aber  da,  wo  sie  nicht  mit  nigritischen  Elementen  durchsetzt  sind, 
ihren  Grundtypus  wesentlich  zu  verändern. 

Wemi  ROHLF8  („Mein  erster  Aufenthalt  in  Marokko"  u.  s.  w.,  S.  ()4) 
Siigt,  dass  gar  keine  oder  nur  ganz  geringe  Unterschi(»de  im  Tyj)us  zwischen 
den  in  Marokko  lebenden  Berbern  (als  Collectivname  gebraucht)  und  den 
dortigen  Aralx'ru  beständen,  so  verhält  sich  dies  nach  meinen  Beobachtungen 
und  Informationen  an(h'rs.  Ich  möchte  allein  unter  <len  Berbern  zum 
mindesten  sieben  von  einander  «leutlich  verschie<lene  Haupttypen  f(»sthalten, 
unter  denen  es  alhu'dings  Ue!)ergänge  und  Vermischungen  der  mannich- 
faltigsten  Art  giebt.  Ueherhnupt  kann  nicht  oft  genug  constatirt  werden, 
dass  eine  strenge  Scli(»idung  drr  verschiedeium,  mohfimmedanischen  Ele- 
mente in  Marokko  nach  Typus,  Sitten,  Sprache  u.  s.  w.  nur  «lami  zulässig 
und  durchführbar  ist,  wenn  man  von  den  UebergängcMi  in  den  Grenz- 
gebieten absieht.  Die  eben  erwähnten  sieben  Haupttypen  wären  etwa,  wie 
folgt,  zu  gruppiren:  1.  blonde,  2.  dunkle  Rif- Berber;  »5.  nordatlantische 
Breber;    4.    Breber    im  Südosten  des  Gebietes;    5.    Schlöh  in  der  Provinz 


Eintheilong  and  Verbreitung  der  Berberbevölkerung  in  Marokko.  191 

Halia  und  im  Atlas;  6.  Schlöli  zwischen  Atlas  und  Antiatlas  (Ssüss  u.  s.  w.); 
7.  llaratin  oder  Draua,  Mischlinge  zwischen  Berbern  und  Negern. 

In  ihrem  Wesen  haben  die  Breber  etwas  viel  Roheres,  Ungeschlach- 
teres als  die  Schlöli.  Die  Letzteren  sind  allgemein  zurückhaltender  und 
weniger  grob,  dafür  aber  auch  weniger  aufrichtig.  Der  Schlöli  hat  ein 
herrorragend  kaufmännisches  Talent,  was  dem  Berlx^ri  vollständig  mangelt. 
Hin«»  Kigenschaft,  welche  die  Breber  entschicvlen  vor  den  Schlöli  voraus- 
haben, ist  ihre  grosse  Gastfreiheit,  während  die  Letzteren  durchgängig 
zum  (teiz  neigen.  Die  Breber  sind  jähzorniger,  aber  auch  vicd  freimuthiger 
und  weniger  fanatisch  in  religiöser  Beziehung  als  die  Schlöli  und  vor  allen 
Dingen  die  Araber.  Ihr  Jlass  gilt  nicht  so  sehr  dem  Christen  als  solchem, 
als  vielmehr  dem  Fremden  überhaupt. 

Ihre  Gleichgültigkeit  in  allen  religiösen  DingcMi  ist  gross.     Sie  halten 
die  Satzungen  des  Islam,    die  Waschungen,    die  Gebetszeiten  u.  s.  w.,    nur 
in  sehr  laxer  Weise  inne,  was  alle  Reisentlen,  die»  mit  ihnen  in  Berührung 
gekommen    sind,    bestätigen,    vor  allem  der  treffliche  Kenner  der  marok- 
kanischen Berber,  GERHARD  ROHLFS.    Hingegen  ist  es  wundi^rbar,  welches 
Ansehen  bei  ihnen  einzelne  Schürfa  odcT  llerabidin  geniessen,  die  im  Rufe 
der  Heiligkeit  stehen.     Der  Kinfluss  dieser  L(»ute  ist  ein  derartig  grosser, 
tlass    die  Breber    sich    bedingungslos  jed(»r  Anordnung  eines  solchen  Hei- 
ligen   fügen,    Fehd(»n    gegen    benachbarte  Stämme    auf   seinen  Befehl  ab- 
brechen   oder    beginnen,    auch    von    diesen  Schürfa    empfohlene  Personen 
auf's  Ausgezeichnetste  behandeln.     Ja,  dieser  Personencultus  wird  so  weit 
getrieben,  dass  selbst  unbedeutende  Gegenstände,  wie  z.  B.  (ROHLFS,  Reise 
durch    Marokko   S.  28)    die    seidene    Tragschnur   von    ROHLFS'    Revolver, 
welche    die  Breber    als  dem  Scherif  von  Uasän  zugehörig  erkannten,    von 
ihnen    als    eine  Art  Talisman    verehrt    werden.     Sie  baten  den  Reisenden 
fortwährend,  <lie  Schnur  mit  den  Händen  oder  Lippen  berühren  zu  dürfen. 
Ausser    dem    erwähnten    Mulai  'Abd  ess-Ssaläm  el-Uasani    und   Ssidi 
Mohammed  el- Arbi  Derkaui,    sowie    dem    Scherif  von  Tamegrut  am  l'ad 
Draa    wird    von   den  Salan   ein  sehr  ])ed(»utender  Scherif,    Mulai  cd-Fetlil, 
hochverehrt.     Bei    den  Breber  um  Fäss  steht  ein  Scherif  aus  der  Familie 
der  Edrissiten,  Namens  Ssidi  er-Rami,  in  grossem  Ansehen,  sowie  Schürfa 
aus    der  Descendenz    des  Ssidi  'Abd  ess-Ssalam  Ben  Meschisch.     Die  Ait 
Messat  haben  einen  in  der  Sauja  Ahanssal  lebenden,  religiösen  Chef,    den 
sehr   einflussreichen   Ssi<li  Ilamnied-u-Hammed,    dessen 'Anäia    von    allen 
Fremden    sehr    begehrt    ist.     Als  Beleg  für  den  b(Ml<»utenden  Einfluss  des 
genannten  Ssidi  Mohammed  Derkaui    scm    erwähnt,    dass    dieser   Fanatiker 
im  Jahre  1881  die  Ait  Atta  un<l  Ait  lafelman  zum  „heiligcMi  Kriege""  gegen 
die  benachbarten  Franzosen  in  der  I^rovinz  Oran  aufrufen  konnte;    später 
gab    er    allerdings    aus    ])ersönlichen    Gründen    Gegenbefehl.      Gerüchten 
zufolge,    welche  vor  kurzem  im  nördlichen  Marokko  circulirten,   beabsich- 
tigte der  Scheeh  der  Derkaua  sogar  in  diesem  Jahre,    den  Sultan,    dessen. 


192  M.  QlTEDENFELDT: 

freundliches  Verhalten  den  Europäern  gegenüber  ihm  schon  lange  ein  Dom 
im  Auge  ist,  mit  Krieg  zu  überziehen.') 

Mit  Ausnahme  der  ervvälmten  Derkaua  haben  die  religiösen  und  halb- 
religiösen Bruderschaften  bei  den  Breber,  im  Gegensatze  zu  den  Arabern 
und  besonders  zu  den  Schlöh,  im  Allgemeinen  keinen  Boden  gefunden. 
Diese  Derkaua  stehen  dagegen  dort  in  solchem  Ausehen,  dass  sie  ohne 
'Anäia  im  ganzen  Gebiete  sich  frei  und  ungehindert  bewegen  können,  was 
für  Andere  unmöglieli  wäre.  Wenn  Jemand  keine  *Anäia  besitzt,  so  muss 
er  auf  den  abgelegensten  Wegen  und  unter  dem  Schutze  der  Nacht  reisen. 

Im  Gebiete  der  Beni  Mgill  befindet  sich  eine  heilige  Quelle,  welcher 
auch  FOÜCAULD  und  SCHAUDT  Erwähnung  thun,  *Ain  el-Luh.  Sie  soll 
zwei  Tagemärsclio  südwestlich  von  Ssefrii  liegen.  Wahrscheinlich  ist  der 
Name  corrumpirt  aus  Ain  helua,  „süsse  Quelle".*)  — 

Ebenso  wie  von  den  Ruafa  behaupten  einzelne  Schriftsteller  (u.  a. 
ROHLFS)  auch  von  den  Breber,  dass  verschiedene  ihrer  Tribus  die 
Beschueidung  nicht  übten.  Nach  meinen  Informationen  ist  die  Mittheilung 
in  dieser  Passung  niclit  zutreffend.  Es  kommt  bei  der  religiösen  Indifferenz 
der  Breber  allerdings  vor,  dass  in  einzelnen  Fällen  die  Beschneidung  des 
Knaben  bis  zum  Eintritt  der  Pubertät  vergessen  wird.  In  sehr  vereinzelten 
Fällen  mag  sie  wohl  auch  ganz  unterbleiben ;  jedenfalls  ist  dies  aber  nicht 
als  Regel  bei  bestimmten  Stämmen  aufzufassen. 

Genügsamkeit  und  Einfachheit  der  Sitten  zeichnen  die  Breber  aus. 
Das  Rauchen  von  Kif  oder  Tabak  ist  bei  den  nordatlantischen  Triben 
streng  verpönt.  Ein  noch  ärgeres  Vergehen  in  den  Augen  dieser  Leut^ 
ist  der  Genuss  des  Branntweins,  el-mahia').  Es  könnte  sich  unter  Um- 
ständen leicht  ereignen,  dass  ein  Berauschter  von  seinen  Familien-  oder 
Stammesangehörigen  in  der  Wuth  über  dieses  Vergehen  getödtet  würde. 

Von  grosser  ürsprünglichkoit  der  Sitten  zeugt  auch  die  Mittheilung 
von  ROHLFS  (Reise  durch  Marokko  S.  31),    welcher  im  Gebiete  der  Beni 


1)  Es  wurde  diese  Mittheilung  mit  dem  erwähnten  grossen  Aufstande  der  Beni  Mgill, 
dessen  der  Sultan  gegenwärtig  durchaus  noch  nicht  Herr  geworden  ist,  in  Verbindung 
gebracht.  In  der  mir  vorliegenden,  zuletzt  hierher  gelangten  Nummer  des  in  Tanger 
erscheinenden  „Koveil  du  Maroc"  (vom  11.  Juli  d.  J.)  wird  die  Lage  des  Sultans  sogar 
als  recht  kritisch  geschildert.  Danach  hätten  am  24.  und  25.  Juni  die  Heni  Mgill  in 
der  Stärke  von  etwa  1*2  000  Mann  (?)  die  Regierungstrui)i)en  angegriffen  und  diesel!)en 
geschlagen.  Officiell  wird  dies  natürlich,  wie  immer,  von  marokkanischer  Seite  abgeleugnet; 
der  Sult-an  hat  sogar  zum  Zeichen  seines  Sieges  einige  abgeschnittene  Köpfe  der  «Kebellen" 
nach  Fäss  und  Miknäss  gesandt,  welche  dort  an  den  Thoren  und  öffentlichen  Plätzen  auf- 
gehängt werden  sollen.  Der  in  diesem  Jahre  projectirte  Besuch  des  Sultans  in  Tanger  — 
es  ist  das  erste  Mal  seit  seinem  Regierungsantritte,  dass  er  diese  Stadt  zu  besuchen 
beabsichtigt  —  dürfte  sich  in  Folge  dieser  ernsten  Ereignisse  sehr  verzögern. 

2)  Nach  ScHAUDT  (1.  c.  S.  409)  ist  mit  dieser  C^uelle  ein  kleiner  Flecken  verbunden, 
der  sich  durch  verschiedene,  dort  etablirte  Verkaufsbu<len  gebildet  hat.  Es  liudet  hier, 
ebenso  wie  in  Asm,  ein  bedeutender  Markt  statt. 

*x\)   el-mahia  entspricht  genau  dem  Wortlaute  des  französischen  eau-de-vie. 


Eintheilung  und  Verbreituiig  der  BerberbevGlkerung  Id  Marokko.  193 

Mgill  Spiele  von  Knaben  und  jungen  Männern  beobaelitete,  wobei  dieselben 
nackt  um  die  Wette  luvten  und  die  Weiber  zusahen,  ohne  Anstoss  daran 
zu  nehmen.  Wie  ROHLFS  bemerkt,  ist  dies  nicht  Schamlosigkeit,  sondern 
vielmehr  ein  roher  Naturzustand.  Unzucht,  Ehebruch  u.  s.  w.  sollen  selten 
bei  ihnen  vorkommen. 

Als  eine  gute  Eigenschaft  ist  noch  bei  <len  Breber  eine  verhältniss- 
niAssig  grosse  Zuverlässigkeit  zu  rühmen,  wie  sie  sich  bei  den  Arabern 
meist  nicht  findet.  Treue  dem  gegebenen  Wort  halten  sie,  wenn  man  von 
ihrem  Verhalten  gegen  die  verachteten  Juden  absieht,  in  den  meisten  Fällen. 
Im  Beled  ess-ssiba  ist  es  nichts  seltenes,  dass  der  Freund  für  den  Freund, 
der  Hausherr  für  seinen  Gast  selbst  das  Leben  in  die  Schanze  schlägt. 
Bei  den  seit  Jahrhunderten  unter  dem  barbarischen  Drucke  ihrer  Käids 
schmachtenden  Stämmen  des  Beled  el-machsin  wird  eine  solche  edle 
Kegung  nur  sehr  vereinzelt  zu  finden  sein. 

Fast  gänzlich  unbekannt  ist  bei  den  Breber  der  von  der  mohamme- 
danischen Religion  sanctionirte  Brauch,  gleichzeitig  mehrere  Frauen  in 
rechtmässiger  Ehe  zu  haben.  Trotzdem  ist  die  Stellung  der  Frau  im  All- 
gemeinen nur  wenig  angesehener  als  bei  den  Arabern.  Der  grössere 
Theil  der  Arbeitslast  fällt  auch  hier,  wie  bei  allen  Mohammedanern,  der 
Frau  zu.  Die  Behandlung  mag,  wie  uns  ROHLPS  und  andere  Autoren 
versichern,  eine  nicht  so  erniedrigende  sein  wie  bei  jenen;  führt  ROHLPS 
doch  sogar  einige  Fälle  an,  wo  Frauen,  Gattinnen  von  Schechs  oder 
Stammeshäuptern,  in  der  Verwaltung  des  Stammes  ein  entscheidendes 
Wort  mitzusprechen  hatten.  Dieser  Reisende  fan<l,  dass  die  Sauia  Karsass, 
eine  ^religiöse  Corporation  und  geistliche  Ober-Behörde"  für  den  ganzen 
Uad  (iir  (Ger),  nicht  von  dem  allerdings  vorhandenen  geistlichen  Chef 
Ssidi  Mohammed  Ben 'Ali  befehligt  wurde,  sondern  dass  seine  Frau,  eine 
gewisse  Lella  Djehleda  (?),  die  religiösen  Angelegenheiten  besorgte*). 
Etwas  derartiges  wäre  allerdings  bei  den  Arabern  undenkbar. 

Nach  <lemsolben  Autor  ist  die  Berberfrau  durchschnittlich  von  grösserer 
Statur  als  die  des  Arabers. 

Trotzdem  die  mohammedanische  Ehe  mit  grosser  Leichtigkeit  getrennt 
wird,  und  schon  aus  diesem  Grunde  ein  inniges  Verstehen  und  Zusammen- 
wirken von  Mann  und  Frau  nicht  in  der  Weise  denkbar  ist,  wie  bei  christ- 
lichen Völkern,  so  ist  doch  die  Liebe  der  Väter'  zu  den  Kindern  eine 
grosse,  namentlich  zu  denen  männlichen  Geschlechts.  Während  die  geschie- 
dene Frau  zu  ihren  Angehörigen  zurückkelurt,  verbleiben  die  Kinder  sämmt- 
lich  bei  dem  Manne. 

Sicher  ist  aber  die  Frau  des  Berbers,  ebenso  wie  die  des  Arabers, 
ToUständig  dem  guten  Willen  ihres  Gatten  anheimgegeben:  er  folgt  auch 
iu   dieser  Beziehung,    wie   in  seinem  ganzen  Privatleben,    lediglich  s(»inem 


1)    Rubins  :    Mein  <*rstf>r  Aufeiitbah  iu  Mar(»kko  u.  8.  v.  8.  G7. 


194  M.  QüEDBNPEijyr: 

eigenen  Gutdünken.  Der  Marokkaner  hat  hierfür  den  sehr  bezeichnenden 
Aus(h'uek:    „Käid"*    oder    „Ssultan  er-rässo'',    d.  i.  wörtlich:    „Herr  seines 

Kopfes«  0- 

Ueber  das  häusliclie  Leben  der  Breber  ist  so  gut  wie  nichts  bekannt; 

es  ist  indessen  wahrscheinlich,  dass  dasselbe  grosse  Analogien  mit  dem 
ihrer  Stammverwandten  in  Algerien  aufweist.  Hierüber  besitzen  wir  aller- 
dings von  französischen  Autoren  eingehende  Berichte.  G.  ROHLFS  muss 
wohl  bei  seiner  Durchquerung  des  Breber- Gebietes  manche  Ueberein- 
stimmung  mit  den  Gebräuchen  der  Kabylie  haben  coustatiren  können;  denn 
er  führt  in  einem,  „Beitrag  zur  Kenntniss  der  Sitten  der  Berber  in 
Marokko"  betitelten,  kurzen  Aufsatze*)  verschiedene  sehr  eigenartige 
Hochzeitsbräuche  als  dort  vorkommend  an,  welche  uns  F^RAUD ')  nur  von 
den  algerischen  Kabylen  überliefert. 

Die  Kabylen  haben  nach  der  Ada  oder  Sitte  ihrer  Vorfahren  zwei 
verschiedene  Arten  der  Verheirathung,  erstens  die  suadj  el-djedi  und 
zweitens  die  suadj  el-ma  tia.  Die  erstere,  „Gaislein-Heirath",  hat  folgendes 
Ceremoniell:  Man  schlachtet  ein  Zicklein  gleichsam  zur  Besiegelung  des 
Paktes,  den  die  Familien  geschlossen  haben.  (Hier  finden  wir  wiederum 
den  schon  mohrfach  bei  den  Breber  erwähnten  Brauch  des  Opfenis. 
Derselbe  reicht  wahrscheinlich  bis  in  die  ältesten  heidnischen  Zeiten,  viel- 
leicht in  die  numidischen  oder  phönizischen,  zurück.)  Der  Mann  ver- 
pflichtet sich,  dem  Vater  seiner  Braut  eine  Summe,  welche  zwischen  175 
und  225  Francs  variirt,  zu  erlegen.  Meist  hat  er  das  Geld  nicht;  er  ver- 
lässt  sich  aber  dann  auf  die  Hilfe  seiner  Freunde.  Am  Hochzeitstage 
stellen  sich  diese  auch  pünktlich  ein  und  steuern.  Jeder  nach  seinen  Kräften, 
bei,  bis  die  vereinbarte  Summe  zusammengekommen  ist.  Es  wird  Musik 
gemacht,  Tänze  und  Spiele  werden  veranstaltet,  und  man  verschwendet 
Unmengen  von  Pulver  im  lab  el-barüd.  Oftmals  bauen  die  Freunde  des 
l^räutigams    sogar    ein    Häuschen    für    das   junge  Paar.     Der  Eine    bringt 


1)  Früher  war  dicso  Bezeichnung  sogar  ein  ofücieller  Titel  am  Hofe  des  SuUads  für 
gewisse,  bei  ihm  schmarotzende  Verwandten,  denen  er  kein  Ami  und  keinen  anderen  Titel 
verleihen  wollte. 

2)  In  dem  Buche:'  Beiträge  zur  Entdeckung  und  Erforschung  AfrikavS.    Leipzig  1876. 

3)  Revue  africaine,  T.  VI.  Alger  1862,  in  dem  Aufsatze :  Moeurs  et  coutumes  kabiles, 
p.  280  u.  f.  —  Feraul),  früher  Interi)retc  militjiire  in  Algerien,  gilt  als  ein  ausgezeichneter 
Kenner  nordafrikanischer  Verhältnisse  und  des  magribinischen  Arabisch;  gegenwärtig 
bekleidet  Hr.  Feraud  den  Posten  eines  französischen  Ministenesidenten  in  Marokko,  und 
ich  lernte  ihn  in  Tanger  im  Jahre  188()  im  Hause  unseres  damaligen  diplomatischen  Ver- 
treters daselbst,  des  Hrn.  Testa,  kennen.  —  Die  Revue  africaine,  die  Zeitschrift  der 
algerischen  historischen  Gesellschaft,  behandelt  nicht  ausschliesslich  die  Verhältnisse  dieser 
französischen  Kolonie,  sondeni  greift  auch  auf  die  Nachbargebiete,  Marokko,  Timis,  ja 
selbst  Tripolis,  hinüber.  Eine  Schöpfung  des  beriihmten  A.  Berbrugüer,  ist  sie  eine  wahre 
Fundgrube  der  interessinit<'sten  Mittheilungen  nicht  nur  für  den  Hist«>nker  und  Archäo- 
logen, sondern  auch  luv  den  Ethnograph<*n.  und  ist  für  das  Studium  der  magribinischen 
Xünder  unentbehrlich. 


Eintheiliing  und  Verbreitung  der  BerberbeYolkerung  in  Marokko.  195 

Holz,  der  Andere  Mörtel,  der  Dritte  vielleicht  „diss"  (Macrochloa  tenaeissinm 
Ktli*)),  eine  Seliilfart  zum  Bedecken  des  Hauses,  herbei.  Durch  die 
(vaislein-Heiratli  winl  die  Frau  nicht  allein  vollstilndig  Eigenthum  des 
Mannes,  sondern  bildet  auch  nach  dessen  Tode  einen  Theil  der  Erbschaft. 

War  der  Mann  aus  irgend  einem  (Jrunde  unzufrieden  mit  seiner  Frau, 
war  sie  vielleicht  frühz(»itig  alt  und  hässlich  geworden,  —  bei  der  furcht- 
baren Arbeit  sind  die  ma?iribinischen  Weiber  meist  schon  vor  dem  30.  .lahre 
vollkommen  abgenutzt,  -  kurz  hatte  sie  von  ihrem  ursprünglichen  Werfln» 
eingebilsst  oder  durch  Unfruchtbarkeit  die  in  sie  g(»setzten  Erwartungen 
nicht  erfüllt,  so  war  der  (Jatte  berechtigt,  sie  zu  ihrer  Familie  zurück- 
zuschicken und  die  volle  von  ihm  bezahlte  Summe  zurückzufor<h»rn.  Der 
Mann  behalt  nuch  die  eventuell  vorhandenen  Kinder. 

Die  andere  Art  der  Heir.ith,  die  ^Heirath  der  gegebenen  Frau'',  ver- 
lief in  folg(»nder  Weise:  War  in  einem  Stamme  ein  Mord  begang(»n  untl 
der  Mörder  von  «ler  Djemma  z.  H.  zu  1000  Francs  Oehlbusse  vt^rurtheilt 
wortlen,  ohne  das  (udtl  zahlen  zu  können,  so  half  er  sich  dadurch,  djiss 
er  ein  MadcJHMi  aus  seiner  Familie  und  noch  einen  geringen  Theil  tler 
Busse,  genannt  hak  el-kefen,  ^Preis  des  Leichentuches'',  einem  Mitgliede 
der  geschadigten  Partei  gab.  IM  dieser  Heirath  wfir  naturgemäss  «lie 
jds  Blutpreis  verschacherte  Tochter  der  Familie  noch  mehr  Sklavin  ihres 
.Mannes,  als  bei  d(»m  vorher  erwähnten  Modus  der  Verheirathung. 

Wenn  beim  Tode»  des  Mannes  die  Angehörigen  desselben  die  Erb- 
sehaft antraten,  so  tiel  die  Wittwe  demjenigen  imter  seinen  mannlich(*n 
Verwandt(»n  zu.  tler  zuerst  seineu  Ilaik  über  ihr  ILiupt  warf. 

War  ein  von  den  Eltern  eines  jungen  Mädchens  abgewiesener  Lieb- 
haber im  Stande,  sich  unbemerkt  an  das  Haus  seiner  Erwählten  schleichen 
und  auf  der  Schwelle  desselben  ein  Zicklein  schlachten  zu  können,  so  war 
sie  seine  (»rklärte  Braut,  und  kein  anderer  Jüngling  des  Stammes  konnte 
um  sie  werben,  ohne  die  Rache  des  aufgedrungen<»n  Bräutigams  fürchten 
zu  müssen.  Solche  Zwistigkeiten  gaben  oft  Veranlassung  zu  Erbfehden 
mit  Parteibildung  (ssof).  Je  (Miiflussreicher  um!  mächtiger  ein  Mann  in 
seiner  Kabila  ist.  desto  zahlreicher  ist  natürlich  auch  sein  Aidiang. 

Auf  dem  Wege  nach  der  Wohnung  ihres  zukünftigen  Gatten  winl  die 
Braut  v(»n  jenem  gell(»nden  Trillern  der  andenMi  Frauen  b<»gl<»itet.  welches 
den  Weibern  in  (dnem  grossen  Theile  der  mohammedanischen  Welt  eigen- 
thümlich    iht.      Interwe^rs    winl    ihr    aus    allen    Behausuniren    eine»   kleine 


r» 


Gabe    an  Lebensmitttdn    zugetragen,    etwa  ein  Korb  voll  Feigen,  Bohnen, 


I  l>»'r  li«'kaiint»T»^  araliische  Name  dii*sor  Pflanz«'  ist  halfa.  Wie  mir  Herr  Professor 
A?»Ciii:i:v)N  L'iitii.'st  inündlirh  inittheilt,  versteht  man  aber  «liirchaiis  nicht  in  allen  (fejr«'n<ien 
N*or<IaI'rika-  *['u-  '»iM-nj^r-nannte  Sp^'cies  unter  «len  erwähnten  «•inheimisrht'n  Naiiu'n,  «iomlem 
auch  i-inz^-In»-  ;in<i«r»*  Art«*n.  Man  kann  daher  sajren.  «las'*  tWo  Worte  .<liss-  nn«l  -halfa" 
in  den  verjichi»«l<*nt*n  Gegenden  mehr  als  CuUectivnamen  an^fweudet  werden,  etwa  wie 
bei  uns  die  Bezeichnungen  , Schilf*  oder  ^Schilfgras*. 


196  M.  QuEDENFEuyr: 

Gerste  u.  dergl.  Die  Braut  nimmt  von  allen  Sachen  eine  Hand  voll,  küsst  sie 
und  wirft  das  Ergriffene  dann  wieder  in  das  Gefass  zurück.  Hinterdrein 
schreitet  eine  ältere  Verwandte,  welche  alle  diese  Gaben  zur  Aussteuer 
für  die  Vermählten  sammelt.  Sobald  der  Zug  sich  der  Wohnung  des 
Gatten  nähert,  wird  die  Braut  von  den  anderen  Frauen  umringt.  Sie 
reichen  ihr  einen  Topf  mit  flüssiger  Butter,  in  die  sie  die  Hände  tauchen 
muss,  zum  Zeichen  des  steten  Ueberflusses  im  Haushalte,  und  femer  ein 
Ei,  welches  sie  zwischen  den  Ohren  ihres  Maulthieres  zerschlägt,  um  da- 
durch Zaubereien  unschädlich  zu  machen.  An  der  Schwelle  des  Hauses 
präsentirt  man  der  Frau  einen  Trunk  Buttermilch,  und  sie  selbst  ergreift 
eine  Hand  voll  Korn  und  Salz,  um  dasselbe,  ebenfalls  als  Symbol  des 
Reichthums  und  Segens,  nach  rechts  und  links  auszustreuen.  Jetzt  ergreift 
der  Mann  Besitz  von  seiner  Braut,  und  zur  Bekräftigung  schiesst  er  in 
unmittelbarer  Nähe  vor  ihren  Füssen  sein  Gewehr  ab.  Er  fasst  sie  an 
der  Hand  und  zieht  sie  ins  Innere  der  Wohnung,  während  die  Hochzeits- 
gäste und  Verwandten  draussen  ihre  Belustigungen  fortsetzen.  Ein  zweiter 
Schuss  innerhalb  der  Behausung  ertönt  als  Zeichen,  dass  die  Heirath  voll- 
zogen ist.  Zum  Beweise,  dass  die  Braut  als  Jungfrau  befunden  wurde, 
reicht  der  Gatte  einer  älteren  Verwandten,  die  inzwischen  schon  vor  der 
Thür  gewartet  hat,  ein  blutbeflecktes  Tuch  heraus,  welches  dann  unter 
der  weiblichen  Hochzeitsgesellschaft  die  Runde  macht.  Stellt  sich  heraus, 
dass  die  Braut  nicht  mehr  Jungfrau  war,  so  hat  der  Mann  das  Recht,  sie 
sofort  zu  ihrer  Familie  zurückzusenden;  bei  den  marokkanischen  Berbern 
kommt  es  vor,  dass  eine  derart  Zurückgewiesene  von  ihren  Verwandten 
getödtet  wird,  wenn  nicht  schon  der  betrogene  Gatte  ihr  in  der  ersten 
Wuth  den  Garaus  macht.  Bei  den  Arabern  wird  diese  Angelegenheit  in 
den  meisten  Fällen  mit  Geld  arrangirt. 

Es  ereignet  sich  öfter,  dass  zwei  Männer  einen  Tausch  mit  ihren 
Frauen  auf  friedliche  Weise  vornehmen.  Derjenige,  der  das  in  Beider 
Augen  hässlichere  oder  weniger  werthvolle  Weib  besitzt,  d.  h.  ein  solches, 
welches  weniger  jung  und  fett  als  das  andere  ist  muss  einiges  Geld 
daraufzahlen. 

Hat  Jemand  seine  Tochter  einem  jungen  Manne  versprochen  und  lässt 
sich  nachher  durch  Habgier  bewegen,  sie  einem  Reicheren  zu  geben,  so 
entsteht  Krieg.  Der  ganze  Stamm  nimmt  alsdann  des  Zurückgesetzten 
Partei  und  sucht  mit  Gewalt  dessen  Ansprüche  geltend  zu  machen.  — 

Neben  ihren  vielen  häuslichen  Arbeiten  finden  die  Breber- Frauen 
mancher  Stämme  noch  Zeit,  sich  mit  der  Anfertigung  recht  hübscher  Hand- 
arbeiten zu  befassen.  Dies  ist  wohl  der  einzige  Anklang  an  eine  gewisse 
Kunstfertigkeit,  der  bei  den  Breber  vorhanden  ist;  sonst  produciren  die- 
selben,^ im  Gegensatz  zu  den  Schlöh,  die  eine  relativ  sehr  hoch  entwickelte 
Industrie  haben,  so  gut  wie  nichts,  was  in  dieses  Gebiet  schlägt.  Die 
Frauen  der  Seniur-Scliilh  weben  Umhängemäntel  mit  Kapuzen  aus  Ziegen- 


Eintheihin^  und  Verhreitunp  der  BerberliovölkorunK  in  Marokko.  197 

iiiul  Krtinei»! wolle  (bermws),  8owi<»  luiiitt»  Deckrn  in  verHcIntMleiuMi  MiiHtern 
(tarlmlt),  und  flerhton  luivh  Matt<MU  tlin  mit  bunter  Wolle  gestickt  wenlen. 
Diene  letzteren,  sowie  die  tarhait  siml  eine  SpecialiUit  <ler  Soinur,  der 
Salan  und  der  Heni  Mgill. 

Auch  die  «^osainnite  Kleidunji;  beider  (lesehleehter,  von  der  nur  einige 
wenige  Bestandtheile  (baumwollene  Hemden  u.  s.  w.)  aus  Kuropa  duroh 
Zwischenlulndler  bis  ins  Breber- Gebiet  importirt  wenlen,  verfertigen  die 
Frauen  selbst. 

Die  wenigen  Thonwaaren,  die  sie  im  Hausbalte  brauchen,  Schüsseln, 
Krüge  u.  s.  w.,  werd(»n  meist  aus  den  benachbarten  Distrikten  des  Beled 
el-machsin  eingeführt,  und  nur  an  wxniigen  Orten  befassen  sich  die  Breber 
selbst  mit  der  Töpferei.  Es  werden  nur  ganz  primitive,  irdene  Geschirre 
ohne  (flasur  hergestellt;  glasirte  Geschirre  werden  überhaupt  in  ganz 
Marokko  nur  an  wenigen  Orten  fabricirt,  speciell  in  Rabat,  in  Fäss,  woher 
auch  die  kostbaren  Majolika -GefäsHe  kommen,  in  Ssafß,  in  Demnät  bei 
Marrakesch  und  an  einigen  andercMi  Plätzen. 

Die  kleine  Stadt  Ssefrii,  südlich  von  Fäss,  hart  an  der  Grenze  des 
Breber -Gebietes  oder  eigentlich  schon  in  demselben  gelegen,  treibt  bedeu- 
tenden Handel  mit  den  umwohnenden  Stämmen,  namentlich  den  Ait  Inssi. 
Im  Gebiete  dieser  letzteren,  wie  auch  in  dem  der  Beni  Mgill  befinden  sich 
noch  riesige,  urwaldartige  Bestände  von  Cedern  (Cedrus  atlanticus  Man.) 
und  Eichen,  welche  im  zukünftigen  Handel  Marokkos  einst  eine  bedeutende 
Rolle  spielen  werden. 

Südlich  vom  Atlas  ist  ein(»r  der  bedeutendsten  Marktplätze  der  Breber 
der  von  Abuam  in  der  Oase  Tafilelt,  wo  u.  a.  mit  aus  England  importirtem, 
grünem  Thee  «»in  beträchtlicher  Handel  getrieben  wird. 

Im  Gebi<»te  der  unabhängigen  Breb(»r  -  ebenso  wie  auch  im  Beled 
el-Machsin  —  wenlen  an  gewissen  Tagten  (h»r  Woche  Märkte  abg(dialten, 
welche  nach  dem  betreff(»nden  Tilge  genainit  \verd(»n,  an  dem  sie  statt- 
finden. So  beisst  z.  B.  der  am  Sonntage  abgehaltene  Markt  Ssok  el-had, 
der  Montagsmarkt  Ssok  el-tnin  u.  s.  w.  Man  stösst  in  ganz  Marokko  beim 
Reisen  oftmals  auf  unbewohnte  Stellen,  in  deren  Nähe  sich  nicht  einmal 
eine  einzelne  Hütte  befind(»t,  die  aber  durch  Reste  von  Kohlenfeuern, 
zusammengetragene  Steini»  u.  «lergl.  den  Anschein  von  kürzlich  verlassenen 
Bivouacplätzen  tlarbieten.  Dies  sind  Localitäten.  wo  mir  an  eint^m  Tage 
iler  Woche  tue  Bevfdkerung  dt»r  ganzen  rmgeg(»nd  auf  meilenweite  Ent- 
fernung zusammenströmt,  um  dort  Markt  abzuhalten.  Dieser  Markt  wird 
<tann  nach  dem  Stamme,  in  dessen  (lebiet  i»r  sich  befin<let,  benannt;  wenn 
man  z.  B.  v(nn  lÜni  der  Semür  spricht,  so  ist  <larunter  <ler  Mittwochsmarkt 
zu  verstehen,  welcher  bei  <liesem  Stamme  stattfindet. 

In  «len  im  Breber -fiebiete  liegenden  Städten,  wie  Debdu,  Kssabi  esch- 
Srhurfa'),   Taniegrut  am  oberen  Drjui  n.  s.  w.,  findet  Handel  und  Wandel 

1;   WörÜich:   KasteUe  der  Schezife.    Kss&bi  =  Plunü  von  Kanb&i 


198  ^-  Qüedenpeldt: 

*i;anz  in  der  gU'iehon  Weise  statt,  wie  in  den  <j;rÖss€M'en  Orten  des  Beled 
el-Machsin.  — 

Die  Breber  sind  tlieils  Nomaden,  tlieils  sind  sie  sesshaft.  Nur  das 
Zelt  bewohnende  Stämme  sind:  Geruan,  Seiinlr,  Sa'ian,  Heni  Mtir  u.  s.  w.; 
ausschliesslich  in  festen  Wohnsitzen  leben  die  Ait  b  Uulli,  Ait  Isdig«;!;,  Ait 
*Aiad.  Die  Ischkeni  haben  eine  Kassba  (Chanifra),  welche  ihnen  lanj^^e 
Zeit  von  den  Saian  streitig  gemacht  wurde.  Die  meisten  der  grossen 
Tribus  aber  vereinig(Mi  beiden  licbensweisen,  indem  sie  tlieils  in  Zelten 
wohnen,  tlieils  feste  Niederlassungen  besitzen.  Es  sind  dies:  Ait  Sseri, 
Beni  Mgill,  Ait  lussi,  Ait  Atta  mit  ihren  zahlreichen  Practioneu,  Ait  Atta 
ümalu  (mit  der  Ortschaft  Uauisert),  Ait'Aiasch  (Praction  der  Ait  lafelman), 
Ait  Ssedrat,  Ait  lahia,  Ait  Mepjrad,  Imiiran,  Ait  Messat  (von  diesen  die  Ait 
Ishak  in  Dörfern,  die  übrigen  in  Zelten),  Ait  Scherroschen  ^)  und  die  Ait 
Hadidu  (vorwiegend  Nomaden). 

Im  Gebiete  von  Tadla  sind  die  bedeutendsten  Kassba's  die  bei  den 
Beni  ^[ellal  befindliche,  auch  Kassba  Bcd- Kusch  genannt,*-)  mit  etwa 
1000  Einwohnern    (nach    ERCKMANN:    FOCOAULD    giebt  .d<»r(»n    8000    an. 


1)  Die  Ait  Scherroscheii  sind  vollständig  den  Merahidin  von  Kncdssa  erproben,  die  in 
ihrem  Gebiete  mehrere  Sauiat  haben  und  mit  denen  die  prrossen  Familien  des  Stammes 
verwandt  zu  sein  angeben.  (Mittheilunjj:  von  Mr.  Pilard,  ehemalijrem  militärischem  Dol- 
metscher, an  FouCAULD.  Siehe  Letzteren  S.  383.)  Wie  ich  auf  S.  130  des  vorij^^en  Ab- 
schnittes erwähnte,  heissen  die  Ait  Scherroschen  auch  Uled  Mulai'Ah  Ben'Amer.  nennen 
sich  wenigstens  selbst  mit  Vorli«d»e  so.  Die  Letzteren  und  die  Merabidin  von  Kncdssa 
haben  eine  gemeinsame  Abstamumng.  Ein  Bewohner  der  Oase  Kncdssa  wird  in  Marokko 
«Kandüssi*^  genannt. 

2)  Diese  auf  die  nigritische  Abstammung  des  Erbauers  oder  der  früheren  Bewohner 
der  Kassba  deutende  Bezeichnung,  welche  im  Osten  (Aegypten)  sich  öfter  findet,  scheint 
im  Magrib  sehr  selten  vorzukommen.  Leo  Afuicanus  (,S.9)  sagt  in  einem  „Vom  Ursprünge 
der  Afrikaner**  handelnden  Abschnitte:  «Ueber  den  Ursprung  der  Afrikaner  herrschet  bey 
unseren  Geschiclitschreibern  krine  geringe  Uneinigkeit.  Einige  sagen,  sie  stammten  von 
den  Philistern  [Pälästinern  |  her,  dio  vor  Zeiten  von  den  Assyreru  [aus  ihrem  Vaterlande] 
vertrieben  und  nach  Afrika  geflohen  wären,  wo  sie  dann,  weil  das  Land  gut  und  frucht- 
bar war,  sich  niedergelassen  hätten.  Andere  meinen,  die  Sabäer,  ein  Volk,  das,  ehe  es 
(wie  gesagt)  von  den  Assyrom  oder  Acthiopiem  vertrieben  wurdf*,  im  glücklichen  Arabien 
wohnte,  seyen  ihre  Vorfahren.  Wieder  Andere  behaupten,  ihre  Stammväter  hätten  in 
anderen  Gegenden  Asiens  gewohnt,  und  erzählen,  was  folget:  (iewisse  Feinde  bekriegten 
sie,  und  zwangen  sie,  sich  nach  Griechenland,  das  damals  unbewobnt  war,  zu  llfichten: 
auch  da  folgten  ihnen  ihre  Feinde  nach,  und  sie  waren  genöthiget,  über  das  Meer  von 
Morea  nach  Afrika  zu  gehen:  hier  blieben  sie,  und  ilire  Feinde  in  Griechenland.  -  Das 
bisher  (iesagte  ist  aber  nur  von  deni  Ursprünge  der  weissen  Afrikaner  oder  von  denen, 
die  in  der  Barbarey  und  in  Xumidien  wohnen,  zu  verstehen.  Die  in  Nigritien  [die  Negern] 
liaben  ihren  Ursprung  von  (.'usch.  einem  Sohne  des  (^hams  und  Enkel  Noachs  zu  ver- 
danken. Folglich  komnii'n  alle  Afrikaner,  der  Unterschied  zwischen  den  Weissen  und 
Schwarzen  [Negern]  mag  so  gross  seyn  als  er  will,  so  zu  reden,  von  <»inem  Stanmie  her. 
Denn,  wenn  sie  von  den  Philistern  herstammen,  so  gehönai  di(»se  zum  (ies<'hlechte  des 
Mizraim,  eines  Sohnes  des  Cus<  li.  oder,  wenn  sie  von  den  Sabäeni  herkommen,  so  war 
ja  Saba  ein  Sohn  des  lihama  und  ein  Enkel  des  Cusch.  —  Es  giebt  noch  vieb'  andere 
Meinungen  über  diesen  Geg<'nstand,  deren  Aufzählung  ich,  weil  Wh  sie  für  unnöthig  halte, 
übergehen  will.- 


Eintlicilung  und  Verbreitung  der  Bcrberbevölkening  in  Marokko.  109 

darunter  80()  Israoliton),  welolie  au  dmn  nach  iUt  Kabila  selbst  benannten 
Djebel  B(»ni  Mellal  liegt,  fern(»r  die  Kassba  der  Ait  Rba  mit  gegen  1500 
Kinwohnern,  darunter  (»twa  100  Juden,  liei  den  Beni  Millal  unterhält  der 
Sultan  zwei  Kaids,  die  aber  ebensowenig  etwas  zu  sagen  liaben,  wie  die 
bei  den  Saian  und  anderwärts  im  Breber-(jr(»biete. 

Gegeiu'iber  der  Kassba  Beni  Millal  befindet  sieh  ein  Detile,  welcht»s 
dureh  dn»i  kh^ne,  den  Ait  Sseri  g(diürige  Kast(dle  vertheidigt  wird. 

Ilauptort  der  Beni  Mgill  ist  Asril,  ein  Platz  von  nudir  als  200  Häusern. 
Die  ländlichen  Ortschaften  werden  in  nmnchen  I)istrikt(Mi  nördlich  vom 
Atlas  Tschar  (l)schar),  sinllich  desselbc»n,  in  d(Mi  Oasen  u.  s.  w.  Kssar 
(Kssor)  geiumnt.  Sie  sind  meist  an  Berghdinen  in  dominirender  Lage  oder 
in  Flussthälern  etal)lirt. 

Das  in  der  alg(»rischen  Kabylie  üblich(»  System,  die  Kui)|)en  aller  nie- 
deren und  mittleren  B(»rge  mit  Xieclerlassungen  zu  besetzen,  wcdches  auch 
in  (»inigcMi  von  Schlöh  bewohnten  Distrikten  (u.  a.  in  der  Provinz  Haha) 
sich  findet,  ist  bei  den  Breber  unbekannt.  — 

Die  Zelte  der  wohlhabenchm  Nomadenstämme  unter  den  Breber,  wie 
der  Ketäia,  der  Semür  u.  s.  w.,  sind  gross,  geräumig  und  aus  chiuerhaften 
Stoffen,  meist  Ziegenwolle,  gewebt.  Aehnlich  wie  bei  den  Arabern  winl 
das  Zelt  entweder  durch  (»inen  Vorh«ing  der  Länge  nach  getheilt  oder  durch 
nbendnander  gestelltes  llausgeräth,  wohl  auch  Kisten,  in  zwei  Theile 
geschieden.  Eine  dieser  Abtheilungen  dient  den  männlichen,  <lie  andere 
den  weiblichen  Mitgliedern  der  Familie  uinl  den  kleinertMi  Kindern  als 
Schlaf-  und  Wohnraum.  Der  allgemeinen  marokkanischen  Sittt»  folgend, 
schlaf(»n  die  Breber  stets  in  ihren  Kleidern;  Männer  wie  Frauen  sind 
überhaupt  wenig  reinlich.  Bei  andc»r(»n  Stämmen  (nach  KOHLFS  z.  B.  bei 
den  Beni  Mtir)  sind  die  Zelte  weder  so  geräumig  noch  so  gut  gearbeitet 
wie  bei  den  Araberstämmen  an  der  algerischen  Grenze,  beis])ielsweise  bei 
den  Uled  Ssidi  esch-Schech;  *)  als  Stoff  <li(»nt  der  Bast  von  Retama-Arten, 
wähnend  <las  algerische  Zelt  aus  dem  Haare  von  Ziegen  oder  Kameelen 
besteht.  In  den  Ebenen  an  der  Westküste  findet  man  neben  wollenen 
Zelten  vorwiegend  solche  aus  dem  Baste  der  Chamaorops  humilis  L.,  welche 
im  limern  des  Breber- (lebietes  nicht  mehr  fortkommt  weil  dies  durch- 
gehends  Ilochgebirgslandschaft  ist.-) 

1)  Kinij^«'  «lieser  iioinadiHirouden  Araberkabileu  an  der  iiiarokkanisrhen  Oat^frenze 
pfl«*«;en  ibre  Z<'lte  über  dem  Kin*»'aDg'e  mit  einem  iiösehel  Straussenfedern  zu  sehmücken. 
Ks  sind  dies  meist  religiöse  Tribus,  Schürfa  oder  Meral»i<lin. 

'2)  In  ^anz  Marokko  kommen  überhaupt  nur  drei  Zeltformen  vor:  1.  das  kaitün  oder 
;^aitün  (j:itün;  j^enannte  Zelt,  2.  die  ehaima  und  3.  die  diosanu.  Nr.  1  ist  ein  kleines  Zelt, 
welfhe.s  nur  -  o  Personen  Kaum  zum  Schlafen  p'wahrt,  \nn  dachförmiger  (iestalt,  aus 
fest«T  (imj)ortirter^  Leinwand  oder  aus  einheimischer  Ziegen  .  Schaf-  oder  Kameelwolle 
^oferti^'t.  Vorn  olTeii.  hinten  p'srhlossen.  mit  kleinen  H<dzpf1öcken  in  der  Erde  befestij^t. 
Oben  im  First  läuft  ein  Brett,  welches  tlas  i^anze  Zelt  hält  und  vorn  und  hinten  durch 
eine   vertikale  Stange  getragen  wird.    Diese  Form  des  Zelten  wird  ausschlicbslich  auf 


200  M.  Qüedenfbldt; 

Im  Gebiete  von  Tadla  limlet  man  anch  Hütten  (agurbi),  welche 
bienenkorbartig  geformt  und  aus  Schilf  oder  Astwerk  hergestellt  sind. 
In  den  Oasen,  beispielsweise  am  oberen  Draa,  findet  man  Hütten  aus 
Palmzweigen. 

Die  Construction  der  Häuser  ist  sehr  einfach  und,  von  gewissen  Aus- 
nahmen abgesehen,  ziemlich  überall  die  gleiche.  Das  Material  ist  gestampfter 
Lehm,  mit  Häcksel  und  kleinen  Steinen  vermischt,  tabia*),  also  ein  sehr 
wenig  dauerhaftes.  Daher  kommt  es,  dass  man  so  viele  Ortschaften  in 
jenen  Gegenden  in  Ruinen  liegen  sieht.  Fenster  fehlen  gänzlich;  die 
meist  niedrige  Thür  gestattet  dem  Rauche  Abzug  und  dient  gleichzeitig  zur 
Erhellung  des  Raumes. 

Reisen,  von  Verkäufern  auf  den  Märkten,  umherziehenden  Quacksalbern  u.  s.  w.  benutzt. 
In  der  Oeffiaung  sitzt  der  Eigenthümer,  hinter  ihm  hegt  sein  schuari  (Doppeltragekorb 
der  Maulthiere  und  Esel  ans  dem  Geflechte  der  Zwergpalme),  welcher  seine  Waaren  birgt 
Nr.  2  ist  das  in  den  Duars  gebräuchliche  Zelt.  Stoff  meist  Wolle  von  einheimischen 
Thieren  oder  Palmettobast,  selten  importirtes  Segeltuch.  Form  etwas  flacher  als  die  des 
gitün;  sehr  beträchtlich  grösser  als  dieses;  der  Stoff  reicht  nicht,  wie  bei  letzterem,  bis 
zur  Erde  und  ist  dort  angepflöckt,  sondern  er  ist  so  hoch  über  dem  Erdboden  gespannt, 
dass  dazwischen  (in  der  warmen  Jahreszeit)  noch  eine  mehrere  Fuss  hohe  Lage  von 
Knüppel-  oder  Strauchholz  Platz  findet.  Gnmd  hierfür  ist  einmal  der,  stets  der  frischen 
Luft  den  Durchgang  zu  gestatten;  zweitens  aber,  dass  die  Enden  des  Stoffes  nicht  leicht 
faulen.  Die  Rückwand  ist  in  gleicherweise  befestigt;  vom  ist  die  chaima  offen.  Getragen 
wird  sie,  ebenso  wie  das  gitün,  durch  ein  oben  in  der  Längsrichtung  laufendes  Brett^ 
welches  zwei  senkrecht  eingerammte  Stangen  halten.  Das  Zelt  ist  in  gleicher  Weise,  wie 
oben  erwähnt,  abgetheilt;  alle  Worthgegenstände  der  Familie  werden  in  einem  Xetze, 
welches  zwischen  den  vertikalen  Pfählen  befestigt  ist,  geborgen.  Ein  Zelt  in  jedem  Duar 
dient  als  „Djemma***,  Kirche  oder  Schule.  Hier  schläft  auch  der  „fkä**  (faki),  der 
Lehrer  der  Dorf  kinder,  falls  er  unverheirathet  ist.  Auch  Reisende,  die  das  Zeltdorf  pas- 
sireu,  nächtigen  dort;  ebenso  erwachsene  Jünglinge,  welche  noch  keine  Frau  und  keine 
eigene  chaima  haben.  Nr.  3  ist  das  ausschliesslich  von  den  Soldaten  benutzte  Zelt. 
Der  Stoff  ist  stets  Leinwand,  meist  blau  und  weiss  gestreift,  niemals  einheimische  Wolle. 
Die  Form  ist  conisch  oder  cylindro- conisch.  Diese  chosäna  wird  durch  einen  einzigen 
in  der  Mitte  aufgerichteten  Pfahl,  der  oben  eine  runde  Holzscheibe  trägt,  gehalten.  Sie 
reicht  ebenfalls  nicht  ganz  bis  zur  Erde  und  ist  angepflöckt,  wird  auch  ausserdem  durch 
6 — 8  in  der  mittleren  Höhe  befestigte  Schnüre  gehalten.  Die  chosaln  (Plur.  von  chosina) 
variiren  sehr  in  der  Grösse  und  führen  dementsprechend  auch  verscliiedene  Bezeichnungen. 
Die  von  conischer  Form  für  die  Soldaten  ('asskeri)  und  niederen  ('bargen  (sähet,  mläsiui, 
käid  el-mia)  bestimmten  heissen:  bukera.  terahia,  resana.  Die  den  hohen  Oflicieren 
(käid  er-rha,  aga)  und  Hofbeamten  reservirten  cylindro- conischen  Zelte  heissen:  kubba 
oder,  wenn  sie  von  oblonger  Gestalt:  Tutäkka.  Der  Zeltcomplex  des  Sultans  führt  den 
Namen  aferrek;  neben  den  zahlreichen  Räumen,  die  dem  Sultan  selbst,  den  Frauen,  der 
Dienerschaft  u.  s.  w.  als  Wohnräume  dienen,  sind  hierbei  ein  Betzelt  und  ein  solches, 
worin  der  Sultan  Audienzen  erthoilt  (ssiuän\  vorhanden.  Die  Zelte  der  höheren  Würden- 
träger tragen  an  der  Spitze  eine  grosse  Messingkugel,  das  des  Sultans  eine  vergoldete. 
Für  Lüftung  dieser  Zelt<^  ist  gleichfalls  gesorgt,  bei  denen  von  conischor  Form  durch  eine 
thürartige  •  Oeffnung,  die  Nachts  mit  einem  vorgehängton  Stück  Leinwand  verschlossen 
wird:  bei  den  cylindro -conischen  lässt  sich  der  durch  Stäbe  von  etwa  1  m  Höhe  getragene 
cylindrische  Theil  nach  Belieben  zurück-  und  aufschlagen,  um  der  frischen  Luft  Zugang 
zu  verschaffen. 

1)  Proben  dieses,  auch  im  ganzen  südlichen  Beled  el-machsin  üblichen  Baumaterials 
habe  ich  mitgebracht;  sie  befinden  sich  in  der  Sammlung  des  Königl.  Musjmuiis  für  Völker- 
kunde zu  Berlin. 


£iiitheiluDg  und  Verbreitung  der  Berberbevölkemng  in  Marokko.  201 

In  den  grösseren  Orten,  Kassba  Beni  Millal,  Bedjäd,  Kassba  Tadia 
u.  8.  w.,  finden  sich  meist  einstöckige  Häuser  von  Pise,  auf  dem  platten 
Lande  dagegen  zerfällt  das  ganze  Haus,  ähnlich  wie  in  der  algerischen 
Kabylie,  oft  nur  in  zwei  ungleich  grosse  Räume,  die  durch  eine  kleine, 
etwa  ^  m  hohe»  Mauer  getrennt  sind.  Der  grössere  Raum  dient  der  Familie 
zum  Aufenthalte,  in  dem  kleineren  ist  das  Vieh  untergebracht;  der  Proviant 
und  die  Küchenvorräthe  sind  auf  der  Zwischenmauer  in  Säcken  und  Kisten 
aufgestapelt. 

Die  Ortschaften  sind  meist  offen,  seltener  von  einer  Vertheidigungs- 
mauer  umgeben,  welche  alsdann  aus  dem  gleichen  Material  wie  die  Häuser 
besteht.     Die  Kassba's  haben,  wie  überall,  einige  Wartthürme. 

Namentlich  im  Tadla- Gebiete,  aber  auch  an  einzelnen  anderen  Orten, 
findet  man,  theils  isolirt,  theils  in  den  Dörfern,  doch  stets  erhöht  angelegt, 
eine  grosse  Anzahl  von  Bauten,  welche  kleinen  Kassba's  ähnlich  sehen. 
Man  nennt  dieselben  „tigrematin**  (sing.:  tigremt).  Ihre  gewöhnliche  Form 
ist  ein  Viereck  mit  einem  Thurm  in  jeder  Ecke;  die  Mauern  sind  aus 
tabia  und  10 — 12  m  hoch  (Fig.  9a  und  b).  Diese  befestigten  Gebäude 
dienen  für  Getreide  und  andere  Vorräthe  als  Aufbewahrungsort.  Jedes 
Dorf,  jede  Fraetion  hat  ein  oder  mehrere  solcher  tigremt's,  und  jeder  ein- 
zelne Bewohner  bringt  dort  auch  in  einem  besonderen  Räume,  zu  dem  er 
allein  den  Schlüssel  besitzt,  die  werthvolle  Habe  seiner  Familie  unter. 
Wächter,  die  von  der  Gemeinschaft  bezahlt  werden,  hüten  jedes  dieser 
Magazine. 

Diese  Einrichtung  der  tijiromt's  findet  sich  nur  in  der  Gegend  des 
Atlas,  welche  von  Kssäbi  esch-Schürfa  und  dem  Gebiete  der  Ait  lussi 
et\^a  bis  zum  Glauadistrikte  reicht,  femer  in  den  Territorien  am  oberen 
Draa  und  am  Uäd  Sis.  Im  Südwesten,  im  Schlöh- Gebiete,  wird  diese 
Einrichtung  durch  eine  andere,  die  der  „igudar**  (si^ig--  agadir)  ersetzt,  auf 
welche  ich  noch  zurückkomme. 

Die  Häuser  der  AitBu-Sid  haben  zwar,  wie  die  anderwärts,  auch  nur 
ein  Geschoss,  aber  sie  sind  nicht  aus  tabia  hergestellt,  sondern  aus  un- 
b(»hauenen  Steinen  gemauert.  Bei  diesem  Stamme  sind  auch  die  Wege 
überall  mit  Steinfassungen  versehen;  manchmal  findet  man  dieselben  auch 
in  den  Fels  eingehauen,  Holzstützen  tragen  sie,  und  über  die  Spalten  sind 
Brücken  gelegt.  Die  AitBu-Sid  haben  auch  einen  eigenartigen  Gebrauch, 
«ler  sich  unter  allen  marokkanischen  Berbern  nur  noch  bei  den  Schlöh  von 
Haha,  zwischen  Mogador  und  Agadir -Ijier,  findet.  Sie  siedeln  sich  nehmlich 
nicht  gemeinsam  in  Dörfern  an,  sondern  verlegen  ihre  Behausungen  ein- 
zeln in  die  Mitte  ihrer  Culturen.  In  ihrem  Gebiete  sieht  man  nur  solche 
isolirte  Wohnhäuser  ohne  Ordnung  auf  den  Abhängen  der  Berge  verstreut. 

Am  oberen  Draa  (Mesgita  mit  der  Hauptstadt  Tamnugalt)  zeichnen 
sich  die  Kssar's  durch  eine  eigenthümliche  und  geschmackvolle  Bauart 
aus.    Die  Mauern   sind   alle   mit  Gesimsen   und  Arabesken  verziert   und 

Z«itoehrlfl  für  Ettanologl«.    Jahrg.  1888.  X4 


202  M.  Quedenfeldt: 

haben  geweisste  Zinuen.  Selbst  die  ärmlichsten  Häuser  sind  mit  Thilrmchen, 
Arkaden,  Geländern  u.  s.  w.  geschmückt.  Die  Kssar's  am  Uäd  Dadrs  ähneln, 
was  Eleganz  der  Bauart  betrifft,  denen  am  oberen  Draa  sehr;  statt  aber, 
wie  dort,  ein  compactes  Ganzes  zu  bilden,  sind  sie  hier  in  mehreren 
kleinen  Wohngruppen  zusammengebaut,  die  durch  ausgedehnte  Anpflanzungen 
von  einander  getrennt  liegen.  Jede  dieser  Gruppen  umfasst  etwa  8 — 10 
Häuser;  die  Mehrzahl  ist  befestigt,  und  jede  mit  einem  tiiiremt  versehen. 
Da  diese  Gruppen  in  einer  Entfernung  von  100  —  300  m  von  einander 
liegen,  so  kann  man  sich  denken,  welches  Terrain  ein  einziger  Kssar  ein- 
nimmt. Die  Wohnungen  liegen,  wie  meist  auch  sonst,  am  Rande  der 
Felder  und  nicht  in  der  Mitte  derselben.  In  dieser  Gegend  sind  üeber- 
schwemmungen  häufig  und  sehr  zu  furchten. 

Am  Uad  Dades  trifft  man  häufig  eine  wunderliche  Art  von  Bauwerken, 
die  bei  den  Ait  Ssedrät  auch  anderwärts  vorkommen.  Die  Bezeichnung  hier- 
für ist  „agedim**,  Plural:  „igedman**  ^).  Dieselben  scheinen  eine  Specialität 
des  Uäd  Dades,  von  Todra,  Ferkla  und  gewisser  Distrikte  des  Draa  zu 
sein.  Es  sind  einzeln  stehende  Thürme  von  10  — 12  m  Höhe,  aus  Luft- 
ziegeln, von  quadratischem  Grundriss,  mit  Schiessscharten  und  Zinnen  ver- 
sehen. Besonders  zahlreich  sind  sie  an  den  Grenzlinien  zwischen  den  ver- 
schiedenen Gemeindegebieten  etablirt.  Gewöhnlich  stehen  sich  zwei  solcher 
Thürme  gegenüber.  Sobald  nun  ein  Streit  zwischen  zwei  Kssar's  aus- 
bricht, was  fast  täglich  vorkommt,  besetzt  jede  Partei  ihre  Thürme  mit 
Bewaffneten,  welche  den  Auftrag  haben,  Felder  und  Kanäle  zu  schützen 
und  auf  jeden  Mann,  der  sich  auf  gegnerischer  Seite  zeigt,  zu  feuern.  Es 
findet  auf  diese  Weise  ein  ausgiebiges  V<?rknallen  von  Pulver  statt,  welches 
aber  nach  einigen  Tagen  schon  nachlässt;  die  Verluste  an  Menschenleben 
sind  selten  nennenswerth.  Solche  Streitigkeiten  drehen  sich  nach  FOÃœCAULD, 
dem  wir  die  vorstehenden  Mittheilungen  verdanken,  meist  um  die  Wasser- 
verhältnisse. 

Es  scheint  nach  diesen  Angaben  am  Uäd  Draa,  sowie  im  Gebiete  von 
Dades  eine  höhere  Cultur  zu  herrschen,  als  in  den  meisten  anderen  Breber- 
Gebieten.  Eine  Specialität  der  Einwohner  von  Dades  ist  auch  ihre  Eigen- 
schaft als  gute  Augenärzte,  ganz  besonders  als  Staaropera teure.  Sie  haben 
als  solche  einen  Ruf  in  ganz  Marokko  und  durchziehen  das  Land  nach 
allen  Richtungen  hin,  um  ihre  Kmist  auszuüben*^). 

An  verschiedenen  Stellen  des  Atlasgebirges,  so  bei  der  Ortschaft 
Uauisert,  bei  den  Ait  Sa  id  u.  s.  w.,  erwähnt  FOUCAULD  das  sehr  bemerkens- 
werthe  Vorkommen  von  höhlenartigen  Bauten,  über  dt»r(»n  Ursprung  nichts 

1)  Dieser  Pbiral  ist  unregebnässig;  es  niüsste  nach  dor  gewöhnlichen  Bildung  „igudam'* 
heissen. 

2)  Augenkrankheiten  sind  bei  der  Bevölkerung,  namentlich  südlich  vom  Atlas,  etwas 
sehr  Verbreitetes.  Das  in  Marokko  so  häufig  als  Kosmetikum  benutzte  Köhol  (pulverisirtes 
Antimon  oder  Bleiglanz)  wird  vielfach  für  ein  Präservativ  gegen  dieselben  gehalten. 


Eintheilan^  und  VerbreituDg  dor  Berberbovölkerung  in  Marokko.  203 

Sicheres  ermittolt  werden  konnte.  Der  genannte  Autor  sagt  darüber  (S.  61  f.). 
„Es  giebt  deren  zwei  Arten:  die  einen  offiien  sieh  oline  bestimmte  Ord- 
nung nach  der  Thalfront  des  Felsens;  das  Auge  unterscheidet  nichts  als 
m<»hrc»rc»  schwarze»  Löcher,  welche  ganz  willkürlich  und  ohne  Zusammen- 
hang unter  einander  angelegt  sind  (Fig.  10).  Die  anderen  sind  im  Gegen- 
satze dazu  in  gleichem  Niveau  au8g(»höhlt;  vor  den  Oeffnungen  sieht  man 
hlngs  der  Fcdswand  eine  Gallerie  ausgehauen,  welche  die  Höhlen  mit 
einander  in  Verbindung  setzt  (Fig.  11).  Dieser  Gang  ist  oftmals  an  der 
Aussenseite  mit  einer  gemauerten  Brustwehr  versehen.  Sind  Spalten  vor- 
handen, welche  den  Weg  durchschneiden,  so  sind  die  Ränder  derselben 
durch  kleine,  steinerne  Brücken  verbund(»n.  Oft  sind  zwei  oder  drei  solcher 
Ilöhlenreihon  über  einander  in  die  nehmliche  Felswand  eingehauen.  Die- 
selben ziehen  sich  an  den  Thalwänden  oft  lange  Strecken  weit  hin.  [Vergl. 
das  Thal  von  Uauisert:  Fig.  12.*)]  Einige  dieser  Höhlen,  welche  zugäng- 
lich sind,  dienen  zur  Aufbewahrung  von  Getreide  oder  zum  Schutze  der 
Heerden  bei  ungünstiger  Witterung.  Ich  habe  mehrere  derselben  besucht, 
welche  mich  durch  ihre  beträchtliche*  Ausdehnung  nach  Länge  und  Höhe 
überraschten.     Weitaus  die  meisten  aber  sind  unzugänglich. 

Natürlich  circuliren  höchst  phantastische  Sagen  über  ihren  Ursprung; 
und  da  diese  merkwürdigen  Behausungen  als  ebenso  seltsame  Gegenstände 
wie  etvra  Dampfschiffe  und  Eisenbahnen  erscheinen,  so  schreibt  man  sie 
denselben  Urhebern  zu:  den  Christen  (der  alten  Zeit),  welche  von  den 
Muselmanen  bei  ihrer  Eroberung  des  Landes  verjagt  wurden.  Man  nennt 
sogar  die  Namen  von  Königen  und  besonders  von  Königinnen,  welchen 
diese  luftigen  Festungen  gehörten.  Bei  der  Flucht  Hessen  sie  ihre  Schätze 
zurück;  es  zweifelt  auch  kein  Eingeborener  daran,  dass  die  Höhlen  mit 
solchen  angefüllt  seien.  Hi(»r  ist  es  ein  Meräbid,  dort  ein  Jude,  welcher, 
zwischen  den  Steinen  emporklimmend  und  in  die  tiefen  Grotten  eindringend, 
Haufen  schimmernden  (Joldes  erblickt  hat;  aber  Niemand  hat  daran  nihren 
können.  Denn  bald  werden  die  Schätze  von  Geistern  bewacht,  bald  hütete 
sie  ein  steinernes  Kameel,  das  fürchterlich  mit  den  Augen  rollte;  ander- 
wärts sah  man  dieselben  in  einer  Felsspalte  glänzen,  welche  sich  hinter 
dem  habgierigen  Eindringling  schloss.  Man  nannte  mir  einen  Ort  Amsru 
am  Uad  Draa,  wo  die  Anwohner  durch  derartige  Berichte  so  überzeugt 
von  der  Existenz  unermesslicher  Schätze  in  den  benachbarten  Höhlen  sind, 
dass  sie  eigene  Wächter  daselbst  aufgestellt  haben,  um  ein  Fortschleppen 
jener  zu  verhüten.** 

Wahrscheinlich  bezieht  sich  diese  letztere  Information  POUCAULD's 
auf  <len  von  ROHLFS  (Mein  erster  Aufenthalt  in  Marokko,  S.  445)  beschrie- 
benen Djebel  Sagora,  südlich  von  Tanssetta  am  oberen  Draafluss ').  Dieser 


1)  Die  Fig.  9  -  12  sind  dem  Werke  von  Foucaüld  entnommen. 

2)  Der  ganze  östliche  Theil  des  Kleinen  Atlas  wird  Djebel  Sagro  genannt 

14* 


204  M.  Quedenfeldt: 

Berg  enthält  Höhlen,  in  welchen  in  der  Vorzeit  Christen  einen  Schatz  ver- 
borgen haben  sollen,  den  bis  jetzt  noch  Niemand  gehoben  hat. 

Die  Anschauung,  welche  die  Berber  von  dem  Ursprünge  dieser  Höhlen 
haben,  ist  selbstverständlich  eine  unrichtige.  Die  Bauart  derselben  weist 
viel  Analoges  mit  den  auf  den  kanarischen  Inseln  sich  zahlreich  findenden 
Felsgrotten  auf,  welche  den  Guanches  als  Wohnung  dienten.  Wie  man 
weiss,  bildeten  diese  das  westlichste  Glied  der  grossen  Berberrasse,  die 
ehedem  allein  Nordafrika  bevölkerte.  Es  ist  daher  anzunehmen,  dass  die 
eben  besprochenen  Höhlenwohnimgen  im  Atlas  Reste  einer  vorgeschicht- 
lichen, autochthonen  Einrichtung  sind.  Die  Berber  des  Djebel  Ourian 
in  Tripolitanien  leben  noch  heute  in  ähnlichen  Höhlen. 

Uebrigens  sieht  der  Marokkaner,  wie  ich  aus  eigener  Erfahmng  weiss, 
nicht  nur  das,  was  ihm  seltsam  vorkommt,  sondern  überhaupt  Alles,  dessen 
Ursprung  er  nicht  kennt,  als  Werk  der  Europäer  (rumin)  an;  z.  B.  wird 
der  Bau  jedes  alten  Gemäuers,  über  dessen  Entstehung  eine  Ueberlieferung 
nicht  vorhanden  ist,  den  Christen  zugeschrieben.  Meist  weiss  man  über 
die  Geschichte  solcher  Ruinen  absolut  nichts,  und  es  ist  merkwürdig,  dass 
in  einem  Lande,  dessen  Bewohner  gerade  sonst  so  zähe  an  den  alther- 
gebrachten Sitten  und  Gebräuchen  festhalten,  über  den  Ursprung  von  Bau- 
werken sich  nur  so  geringe  Traditionen  erhalten  haben.  Ich  sah  Bauten, 
welche  ihre  Abstammung  aus  der  Blüthezeit  altmaurischer  Architectur 
unzweifelhaft  erkennen  Hessen,  die  aber  bei  der  Landbevölkerung  dennoch 
für  Ruinen  aus  der  Römerzeit  galten.  — 

Entsprechend  ihrer  von  einander  abweichenden  Art  zu  wohnen  ist 
auch  die  Lebensweise  der  nomadisirenden  und  der  ansässigen  Breber  eine 
verschiedene.  Die  Zeltbewohner  befassen  sich  vorwiegend  mit  Viehzucht, 
während  die  Sesshaften  in  erster  Linie  Ackerbau  treiben. 

Die  Zeit,  während  welcher  ein  Duar  auf  ein  und  demselben  Platze 
verweilt,  ist  nach  der  Grösse  und  Ergiebigkeit  der  umliegenden  Weide- 
gründe sehr  wechselnd.  Ist  die  Gegend  abgeweidet,  so  bricht  der  Nomade 
seine  luftige  Behausung  ab,  und  in  ganz  bestimmter,  auf  sofortige  Verthei- 
digung  berechneter  Formation  bewegt  sich  der  Zug  nach  dem  zunächst 
in  Aussicht  genommenen  Weideplatze.  In  der  Mitte  des  Zuges  werden  die 
mit  den  Zelten  und  sonstiger  Bagage  beladenen  Ochsen  und  Maulthiere 
in  langer  Reihe  von  den  Frauen  getrieben.  Kranke  und  Schwache  reiten 
auch  wohl  auf  Maulthieren  oder  Eseln.  Hinter  den  Frauen  gehen  ihre 
Kinder;  die  kleinsten  derselben  werden  nach  allgemeiner  marokkanischer 
Sitte  von  den  Müttern  rittlings  auf  dem  Rücken  getragen,  und  zwar  werden 
sie  mit  einem  Haik,  der  ihnen  gleichzeitig  als  Hülle  dient,  festgebunden'). 
An  einer  Seite  werden  die  Viehheerden,  Ziegen,  Schafe  u.  s.  w.,  von  einigen 
Hirten    getrieben;    die  Männer    des  Stammes,    sämmtlich    beritten,    bilden 


1)  Man   schreibt  wohl  nicht  mit  Unrecht   dieser   allgemein   üblichen  Tragweise  die 
Erscheinung  zu,  dass  viele  Marokkaner  Säbelbeine  haben. 


Eintheilong  und  Verbreitung  der  Berberbevölkerung  in  Marokko.  205 

eine  süirke  Vor-  und  Nachhut  und  schützen  den  ganzen  Zug  auch  in  den 
Phmken.  In  den  Ebenen  der  Westküste  wird  ein  Duar-Wechsel  von  den 
Arabern  in  ganz  ähnlicher,  nur  nicht  so  kriegsbereiter  Formation  vollzogen. 
Hier  findet  man  auch  vielfach  Kameele  als  Lastthiere  benutzt;  bisweilen 
sieht  man  auch  Männer  oder  sogar  Frauen  auf  Kameelen  reiten,  was  im 
Allgemeinen  in  Marokko  nördlich  vom  Atlas  nicht  gebräuchlich  ist. 

Der  Wechsel  der  Weideplätze  ist  übrigens  nicht,  wie  man  in  Europa 
vielfach  glaubt,  ein  unbeschränkter,  sond(»m  er  bewegt  sich  nur  innerhalb 
der  Oebietsgn»nzen  des  betreffenden  Stammes.  Ein  blutiger  Angriff  würde 
die  Folgt?  sein,  wenn  eine  Kabila  einen  fremden  Duar  auf  ihrem  Terrain 
umherziehend  fände.  Vielfach  ist  auch  ein  ganz  bestimmter  Turnus  in  der 
Benutzung  der  Weidegründe  eingeführt. 

Der  Heerdenreichthum  ist  bei  manchen  Nomadenstämmen  ein  sehr 
bedeutender  und  macht  die  Wohlhabenheit  derselben  aus.  Das  Rindvieh 
gehört  durchgehends  einem  kleineren  Schlage  an  als  das  unsrige,  selbst 
bei  den  Saian,  welche  in  dem  Rufe  stehen,  das  meiste  und  beste  Horn- 
vieh in  Marokko  zu  besitzen.  Von  dieser  Tribus  werden  zahlreiche,  für 
den  Export  bestimmte  Ochsen  nach  Tanger  verkauft,  desgleichen  auch 
Häute.  Der  Stamm  der  Saian  verfügt  auch  über  zahlreiche  Ziegen-  und 
Schaf heerden,  sowie  über  viele  Kameele,  die  sonst  in  den  Gebirgsgegenden, 
welche  die  nordatlantischen  Breber  bewohnen,  selten  sind;  femer  haben 
sie  viele  Pferde. 

Die  Pferde  der  Beni  Mgill  und  Beni  Mtir  sind  nach  ROHLPS  von 
grösserem  Körperbau,  als  die  in  den  westlichen  Ebenen,  und  von  aus- 
gezeichneten Eigc^nschaften.  Naturgemäss  stellen  diejenigen  Stämme,  welche 
viele  Pferde  besitzen,  weit  mehr  berittene  Krieger  als  solche  zu  Fuss  auf. 
Auch  das  Pulverspiel  (fab  el-barüd),  welches  bei  den  Ruäfa  und  Djebela, 
sowie  bei  den  ausschliesslich  die  Gebirge  bewohnenden  Breber  zu  Fusse 
geübt  wird,  wird  von  ihnen  in  ähnlicher  Weise,  wie  bei  den  Arabern  der 
Ebenen,  zu  Pferde  ausgeführt.  Es  heisst  alsdann  lab  el-chail,  Pferde- 
spiel, und  ist  unter  der  ihm  von  den  Europäern  gegebenen  Bezeichnung 
„fantasia^  oft  genug  von  den  Reisenden  beschrieben  worden*). 

Die  Ait  Sseri  haben  wenig  Pferde,  weil  es  ihrem  Gebiete  an  guten 
Weideplätzen  für  solche  mangelt.  Aehnlich  ist  es  bei  den  Ait  Atta  Umalu, 
welche  dagegen  viele  Maultlüere  besitzen.  Im  Allgemeinen  bilden  die 
Letzteren  keint»  reiche  Kabila;  sie  vernachlässigen  Ackerbau  und  Viehzucht, 
besitzen  überhaupt  nur  wenig  Vieh  von  mittel  massiger  Qualität.  Der 
grösstc  Theil  dieser  Leute  lebt  nur  von  Raub  und  Diebstählen  aller  Art, 
sowie  vom  Ertrage  der  „setata"^. 

1)  Bei  den  Ait  Bu-Sid  z.B.  wird  dieser  Sport  ganz  regelrecht,  wie  fast  überall  im 
Beled-el-machsin,  betrieben.  Foücauu)  erzählt,  dass  jeder  berittene  Krieger  dieses 
Staiiuues,  der  sich  nicht  am  Sonntagsmarkte  zum  ^Pf erdespiel *"  einfindet,  10  Francs  Strafe 
zahlen  niuss. 


206  M.  Qdedenfeldt: 

Stiere  zu  verstümmeln,  ist  nicht  die  allgemeine  Regel;  wenn  es 
geschieht,  so  wird  das  Thier  nicht  geschnitten,  sondern  die  Hoden  werden 
ihm  zwischen  zwei  harten  Hölzern  zerquetscht^). 

Maulthiere  und  Esel  sind  bei  den  meisten  Stämmen  in  grosser  Anzahl 
vorhanden,  ebenso  Schafe.  Dieselben  sind  von  guter  und  kräftiger  Kasse, 
obschon  ihre  Wolle  nicht  so  fein  ist  wie  die  aus  manchen  Gegenden  des 
westlichen  ftarb  (z.  B.  Umgegend  von  Laraisch)  stammende.  Nach  GEA- 
BERG  (a.  a.  0.  S.  85)  producirten  die  Breber  nicht  einmal  die  zu  ihrer 
Bekleidung  nöthigo  Wolle,  was  indessen  nach  meinen  Informationen  nicht 
zutrifft. 

Die  Ziegen  bilden  den  zahlreichsten  Bestand  an  kleinerem  Vieh  bei 
den  Breber.  Man  findet  eigenartige,  von  den  europäischen  sehr  abweichende 
Spielarten  unter  ihnen.  Diese  Unzahl  von  Ziegen  im  ganzen  Lande  ist 
für  den  jungen  Waldnachwuchs  in  hohem  Grade  schädlich,  und  nur  in  den 
an  uralten  Waldungen  reichen  Gebietstheilen  des  Innern  können  sie  ver- 
hältnissmässig  wenig  Schaden  anrichten.  Die  Qualität  des  Ziegenleders 
in  Marokko  ist  von  anerkannter  Vortrefflichkeit;  das  beste  kommt  von 
Tafilelt. 

Von  einer  subtilen  Pflege  aller  dieser  nützlichen  Thiere,  wie  in  den 
Culturländern,  ist  natürlich  in  Marokko  nicht  die  Rede;  dennoch  gedeihen 
dieselben  vortrefflich. 

Einen  wichtigen  Factor  bei  der  Bewachung  aller  Duar's  bilden  die 
Hunde.  Zu  jedem  solchen  gehört  eine  grosse  Meute  dieser  Thiere,  die 
keinen  speciellen  Besitzer  haben,  nicht  regelmässig  gefüttert  oder  getränkt 
werden  und  nur  auf  die  fortgeworfenen  Ueberreste  und  darauf  angewiesen 
sind,  was  sie  sich  seibat  in  Feld  und  Wald  erjfigen.  Trotzdem  haben  die 
Hunde  eine  grosse  Anhänglichkeit  an  ihr  Dorf,  verlassen  es  nie  und  sind 
die  treuesten  und  mibestechlichsten  Wäcliter  desselben  bei  Tag  und  bei 
Nacht.  Sobald  sich  etwas  Fremdes  dem  Duar  nähert,  alarmiren  sie  die 
Bewohnerschaft  durch  ihr  Gebell,  und  der  Roisende  ist  oftmals  kaum  in. 
der  Lage,  sicli  die  80  oder  40  auf  ilin  eindringenden  Köter  durch  einige 
wohlgezielte  Steinwürfe  vom'  Leibe  zu  halten.  Kine  bestimmte  Rasse  ist 
unter  den  Duar -Hunden  nicht  wohl  erkennbar;  am  nächsten  stehen  sie 
etwa  unseren  Schäferspitzen.  Die  im  ganzen  Maiirib  und  in  Marokko 
namentlich  bei  den  Arabern  im  Südwesten  des  Beled  el-machsin  ver- 
breitete Rasse  der  langhaarigen  Windhunde  (ssliigi)  kommt  bei  den  Breber 


1)  Dftr  Afohammodanor  hat  aus  religiösen  Gründen  überhaupt  eine  Abneigung  gegen 
Amputationen  jeder  Art.  Auch  die  Castration  der  Eunuchen  ('abid  ed-där)  findet  in 
Maroicko  nicht  durch  Schneidung  statt,  sondern  durcli  Brennen  der  betreffenden  Theile 
mit  einem  glühenden  Eisen.  Diese  Operation  wird  an  den  dazu  Bestimmten  in  frühester 
Jugend  vorgenommen,  und  es  geht  selbstverstÄndlicli  ein  sehr  beträchtlicher  Procentsats 
dabei  zu  Grunde. 


Eintheilung  und  Verbreitung  der  Berberbevölkerong  in  Marokko.  207 

nicht  vor.    Von  den  Arabern  werden  dieselben  oft  bei  der  Jagd  mit  Edel- 
falken  verwendet ' ). 

Die  Tollwuth  ist  in  Marokko  nach  Angabe  der  meisten  Schrift- 
steller (u.  a.  (iKABERG,  IloHLFö)  bisher  noch  nicht  beobachtet  worden. 
Mir  ist  indessen  im  Lande  selbst  mitgetheilt  worden,  dass  in  neuerer  Zeit 
Falle  von  wuthähnlicher  Krankheit  vorgekommen  seien. 

Das  Breber-Land  bietet  vermöge  ausgezeichneter  BodenbeschaflFen- 
heit  an  vielen  Stellen  auch  vortreffliche  Gelegenheit  zum  Ackerbau, 
wcdche  mehr  oder  minder  von  den  sesshaften  Tribus,  und  in  geringem 
Maasse  auch  von  den  noniadisirenden,  ausgenutzt  wird.  Das  Gebiet  der 
Somur  wird  wegen  seiner  ausgezeichneten  Fruchtbarkeit  das  ^Dukkala 
des  (Jarb"  genannt*^).  In  <l(»r  Gegend  von  Tadla  bewohnt  der  mächtige 
Stamm  der  Ketaia  ein  Territorium  mit  ebenfalls  ausserordentlich  ent- 
wickelter Feldcultur.  Dieselbe  wird  durch  «las  ebene  Terrain  und  den 
guten  Ackerboden  begünstigt  und  sehr  gefördert  durch  ein  treffliches 
System  von  Bewässerungsanlagen  (ssegia). 

Die  schönsten  und  fruchtbarsten  Länder  des  grossen  Atlas  haben  die 
Beni  Mgill  inne,  welche  besonders  Gerste  cultiviren.  Das  Klima  in  diesen 
Gegenden  ist  schon  ein  ziemlich  kühles.  Südöstlich  von  ihnen  wohnen 
die  Ait  Isdigg,  welche  ausser  der  Gerste  auch  viel  Weizen  bauen.  Die 
Oasen  Medagra.  Ertib,  Ferkla,  der  obere  Draa  u.  s.  w.  bringen  namentlich 
da,  wo  Ueberfluss  an  \Va88(»r  vorhanden  ist,  neben  den  genannten  Cerealien 
noch  Mais  und  viele  Obstsorten,  Datteln,  Granaten,  auch  Wein  und  Oliven 
in  d(»r  reichsten  Fülle  hervor.  Die  Bewässerung  geschic^ht  in  diesen  Oasen 
meist  nach  einem  sehr  ausgedehnten  und  kün8tlich(»n  System,  wobei  jeder 
Tropfen  ausgenutzt  wird.  Die  Heuschreckenplage  trifft  gerade  diese 
fruchtbaren,    heissen  Gegenden    in   manchen  Jahren  besonders  verheerend. 

Kigenthümlich  ist  die  ErscluMnung,  dass  in  diesen  Oasen  seit  neuerer 
und  neuester  Zeit  ein  üeberhandnehmen  des  berberischen  Elementes  und 
ein  successives  Zurückdrängen  des  arabischen  stiittfindt^t,  und,  wie  ROHLFS 
bemerkt,  scheint  es,  als  ob  heutzutiige  die  B(»rber  einen  (legenstoss  gegen 
das  frühere  Eindringen  der  Araber  auszuführen  begännen.  — 

Ich  möchte  gelegentlich  der  vorstehemlen  kurzen  Mittheilungen  über 
den  Ackerbau  bei  den  Breber  einen  abergläubischt^n  Brauch  nicht  uner- 
wähnt lassen,  d(»r  sich  in  den  gebirgigen  Gegenden  <les  (;arb  noch  erhalten 

1)  In  Marokko  werden  hauptsächlich  drei  Species  (Falco  Feldeggi  Schleg.,  F.  pere- 
grinns  Tunst.  und  F.  barbarus  L.)  zur  Jagd  abgerichtet.  Die  Ausrüstung  des  J&gers 
(Handschuh,  Armschutz,  die  Kappe  des  Falken  u.  s.  w.)  ist  den  auch  anderwärts  zu 
gleichem  Zwecke  gebrauchten  GegenstSnden  sehr  ähnlich,  nur  ans  einheimischen  Stoffen 
gefertigt. 

2)  Die  Provinz  Dukkala  liegt  im  südlichen  Marokko  und  bildet  das  ebene  Hinterland 
der  Küstenstadt  Masagan.    Sie   wetteifert   an   reichem  Bodenertrage  mit  den  sie  nördlich 
Uexw.   südlich    begrenzenden    Provinzen    Schauija   und  'Abda,    den    „Kornkammern "    de 
marokkanischen  Reiches. 


208  ^*  QUEDENFELDT: 

hat  und  von  welchem  uns  auch  DruMMOND  HAY  wie  folgt  berichtet'): 
Wenn  die  Getreideschösslinge  aus  der  Erde  hervorkommen,  was  gegen 
die  Mitte  des  Februar  der  Fall  ist,  so  machen  die  Dorfbewohner  eine 
grosse  Puppe,  in  Form  eines  Weibes,  die  sie  mit  allerlei  Zierrathen  aus- 
schmücken und  ihr  eine  hohe,  spitze  Mütze  aufsetzen.  Dann  führen  sie 
dieselbe  unter  Geschrei  und  unter  dem  Gesänge  einer  bestinmiten  Melodie 
in  den  Feldern  herum.  Das  Weib,  welches  an  der  Spitze  geht,  trägt  diese 
Puppe,  muss  sie  jedoch  an  diejenige  ihrer  Gefährtinnen  abtreten,  die  sie 
einholt,  was  zu  mancherlei  vScherzen  und  Wettläufen  Veranlassung  giebt. 
Die  Männer  führen  gleichfalls  dieselbe  Ceremonie,  jedoch  zu  Pferde,  aus. 
Dieser  Brauch,  welcher  in  directem  Widerspruch  mit  dem  Glauben  des 
Islam  steht,  soll  eine  gesegnete  Ernte  zur  Folge  haben.  Hay  meint,  hier 
die  Spuren  eines  altgriechischen  oder  -römischen  Brauches  vor  sich  zu 
haben  und  unterstützt  diese  Ansicht  mit  den  Worten:  „Sokrates  räth 
in  den  „Oeconomien  Xenophons"  dem  Ischomachus,  er  solle,  um  eine 
doppelte  Ernte  zu  erhalten,  sein  Getreide  auf  dem  Halme  abmähen  und  es 
leicht  unterpflügen.  PliNIUS,  welcher  mit  <1en  Vorschriften  genie  Erzäh- 
lungen verbindet,  berichtet,  dass  ehemals  die  Sallucier  und  Verceller, 
welche  mit  den  Thalbewohnern  von  Ostia  Krieg  führten,  die  Felder  ihrer 
Feinde  zertraten,  um  sie  zu  vernichten.  Da  sie  die  noch  grünen  Früchte 
nicht  verbrennen  konnten,  so  pflügten  sie  sie  mit  Ochsen  unter  den  Boden, 
und  schmeichelten  sich  auf  diese  Art,  den  Feind  auszuhungern.  Allein 
das  Resultat  war  ein  ganz  anderes.  Es  bildeten  sich  neue  Schösslinge 
und  wuchsen  zu  schönen  Halmen  mit  vollen  Aehren  empor.  Dies  Ereigiiiss 
gab  den  Anstoss  zu  einem  in  Italien  heute  noch  üblichen  Verfahren.  Da 
man  in  Afrika  die  alte  Art,  die  Früelite  abzuspitzen,  und  die  alterthüm- 
liche  Verehrung  der  Tenne  wiederfindet,  so  scheint  mir  die  Vermuthung 
natürlich,  dass  die  Sitte,  das  grüne  Getreide  mit  Füssen  zu  treten,  noch 
von  den  Römern  herstammt.  Die  Berberenstämme,  die  ältesten  Bewohner 
dieser  Gegend,  welcher  sie  auch  den  Namen  B(»rberei  gt^geben  haben, 
halten  allein  an  diesem  Gebrauche  fest,  worin  die  Araber  und  Stadt- 
bewohner einen  Ueberbleibsel  von  Abgötterei  erblicken." 

In    der    algerischen    Kabylie    begeht    man,    wie    uns   HaNOTEAU    und 
LeTOURNEUX    (1.  c.    T.  I.    p.  409)    mittheilen,    beim    Beginne    der    Feld- 


1)  Marokko  und  seine  Nomadenstämme,  S.  29  und  30.  Stuttjj'art  184G.  Nach  dem 
englischen:  Western  Barbary,  its  wild  tribes  and  savage  aninials,  by  JoiiN  H.  Drummoni> 
Hay,  iiondou  1844.  Eine  Jugendarbeit  des  bekannten  langjährigen,  englischen  Vertreters 
in  Marokko,  welche  neben  vielen  Räuber-  und  Jagdgeschichten,  die  dem  Ganzen  ein 
romanhaftes  Gepräge  geben,  mancherlei  interessante  Angaben  über  Land  und  Leute  ent- 
hält. Der  Verfasser,  welcher  erst  vor  zwei  Jahren  hoclibetagt  aus  dem  englischen  Staats- 
dienste geschieden  ist,  darf  unstreitig  als  einer  der  besten,  lobenden  Kenner  marokkanischer 
Verhältnisse  gelten.  Im  Lande  selbst  geboren,  wo  sein  Vater  bereits  als  englischer  Konsul 
fungirte,  beherrschte  Sir  John  Hay  das  magribinische  Arabisch  vollständig.  —  Die  deutsche 
Bearbeitung  enih^i  leider  eine  grosse  Anzahl  sinnentstellender  Druckfehler. 


Eintheüimg  und  Yerbreitang  der  Berberbevölkerang  in  Marokko.  209 

bestellung  einige  gleichfalls  sonderbare,  aberghlubische  Bräuche.  Am  frühen 
Morgen  pflügt  man  mit  einem  Joch  Ochsen  vier  harte  Eier,  vier  Granat- 
ftpfel  und  vier  Nüsse  in  das  Feld  ein,  welche  man  den  Tag  über  in  der 
Erde  lässt  und  (»rst  am  Abend  den  Kindern  giebt.  Bevor  der  Kabyle  zum 
Urbarmachen  seines  Feldes  aufbricht,  bringt  er  am  Kopfe,  an  den  Hörnern 
und  am  Halse  seiner  Ochsen  Brote,  Kuchen  u.  s.  w.  für  die  Armen  und 
die  Kin<ler  des  Dorfes  an.  Alsdann  reibt  er  die  Hönier  imd  den  Hals 
der  Ochsen  mit  Oel  ein,  als  Präservativ  gegen  alle  Krankheiten,  die  im 
Laufe  des  Jahres  ihn,  seine  Familie  und  sein  Vieh  etwa  treffen  könnten. 
Auf  dem  Acker  angekommen,  beginnt  (»r  damit,  (^ine  Hand  voll  gemischter 
Sämereien,  flerste,  Weizen,  Bohnen,  Erbsen,  auszustreuen;  dann  nimmt  er 
eine  abermalige  Vertheilung  von  Lebensmittel  an  die  Umstehenden  vor; 
endlich  recitirt  er  gemeiniglich  <lie  Fatha,  den  mohammedanischen  Segen, 
und  beginnt  mit  der  Arbeit.  — 

Von  allen  sesshaften  Breber  wird  auch  die  Bien(»nzucht  in  ausgedehntem 
Maasse  betrieben.  Der  gewonnene  Honig,  sowie  das  Wachs  sind  von  vor- 
züglicher Beschaffenheit.  Die  Einrichtungen  für  diesen  Zweck  sind  durch- 
aus primitiv.  Meist  werden  ausgehöhlte  Baumstämme  oder  alte  Kisten 
als  Stöcke  benutzt;  vielfach  wird  auch  die  Rinde  der  Korkeiche  zur  Her- 
stellung von  Bienenkörben  verwendet.  In  Rabat  an  der  Westküste  hin- 
gegen sah  ich  einen  solchen  in  eigenthümlicher  Form  aus  Thon,  mit  sieb- 
artigen Löchern,  hergestellt.  Es  war  mir  leider  nicht  möglich,  denselben 
zu  erwerben,  da  der  Besitzer  sich  weigerte,  ihn  zu  verkaufen. 

Es  ist  kaum  nothwendig,  hervorzuheben,  dass  die  Breb(?r  leidenschaft- 
liche und  sehr  geübte  Jäger  sind.  Vielfach  in  Gebrauch  ist  auch  die 
Jagd  vermittelst  Fallen;  nach  GRABERG  (S.  *.>3)  verfolgen  sie  kleineres 
Wild,  z.  B.  Kaninchen,  mit  Hilfe  des  Ichneumons,  also  in  ähnlicher  \Veise, 
wie  wir  zuweilen  das  Frettchen  zur  Kaninchenjagd  abricht(*n. 

Trotzdem  ist  die  Nahrung  der  Breber,  wi(»  überall  auf  dem  platten 
Lande  in  Marokko,  eine  vorwiegend  vegetabilische.  Der  Kusskussu  (ssekssu) 
aus  verschiedenen  Arten  geperlten  Mehls  (t  am)  bereitet,  von  Gerste,  Mais, 
Durra,  Eicheln,  bildet  auch  hier  die  Basis  der  Ernährung.  Gemüse: 
Bohnen,  Artischokken,  Kürbis  u.  s.  w.,  femer  Früchte,  sowie  Milch,  Butter- 
milch, fladenartige,  weiche  Brote  werden  vielfach  genossen.  Fleisch  meist 
nur  bei  besonderen  Gelegenheiten. 

Den  Fischfang  können  sie  nur  in  sehr  geringem  Maasse  betreiben, 
da  ihr  (lebiet  nicht  an  das  Me(»r  stösst  und  die  nonlafrikanischen  Flüsse 
bekanntlich  arm  an  Süsswasserflschen  (im  Gegensatz  zu  den  das  brackige 
Wasser  liebenden  und  weit  in  die  Flussmündungen  hinaufgehenden  See- 
fischen) sind.  Ob  die  von  RoHLFS  erwähnte  Däia  (Binnensee)  Ssidi  *Ali- 
u-Mohammed,  welche  mitten  im  (Jebirge  im  Gebiete  der  Beni  Mgill  liegt 
und  etwa  3  Stunden  Länge  und  .J  Stunde  Breite    hat,    fischreich    ist    sagt 


210  M.  QuEDEKFEiiDT:   Berberbevölkerun^  in  Marokko. 

der  Reisende  nicht  ^).  Wahrscheinlich  ist  dieser  See  identisch  mit  der  Ton 
FOUCAULD  (p.  383)  erwähnten  Daia  von  Ifr  a,  welche  an  der  Koute  von 
Kssabi  esch-Schürfa  nach  Fäss  (über  Ssefrü)  liegt.  Dagegen  berichtet 
ReNOU  (p.  180),  gestützt  auf  die  Autorität  von  DelAPORTE,  von  der  vom 
mittleren  Laufe  des  Uad  Draa  gebildeten  „Deb'aia",  dass  sie  ein  grosser 
Süsswassersee  sei,  dessen  Fischreichthum  von  den  umwohnenden  Ein- 
geborenen ausgebeutet  werde.  Wie  indessen  bereits  ROHLFS  (Mein  erster 
Aufenthalt  in  Marokko,  S.  47,  48  und  439)  vermuthet  und  wie  neuerdings 
FouCAULD  bestätigt,  existirt  ein  solcher  See  nicht.  Die  Deb'aia  ist  nur 
eine  vom  Bette  des  Uad  Draa  durchschnittene,  sandige  Niederung,  welche 
alljährlich  im  Herbste  von  den  Umwohnern,  theils  Breber  (Ait'Aluan, 
Fraction  der  Ait  Atta),  theils  Arabern  (Merabidin),  aufgesucht  wird,  um 
die  zu  dieser  Zeit  höchstens  ein  paar  Tage  lang  im  Draa  strömenden 
Wassermengen  zum  Anbau  auszunutzen.  Hierzu  ist  ein  Kanalsystom  an- 
gelegt; doch  ist  in  trockenen  Jahren  eine  Ernte  überhaupt  nicht  zu  erwarten. 
Von  dieser  Deb'aia  zu  unterscheiden  sind  die  M  ader,  sumpfige  Niede- 
rungen, welche  von  den  Nebenflüssen  des  Uad  Draa  bei  der  Einmündimg 
in  dessen  Bett  gebildet  werden  und  deren  Bebauung  gleichfalls  einmal 
jährlich  stattfindet.  FOÜCAULD  zählt  deren  sechs  in  jener  Gegend  auf.  — 
Bezüglich  des  Namens  „Breber"  möchte  ich  hier  am  Schlüsse  meiner 
Mittheilmigen  über  diese  Grui)pe  noch  bemerken,  dass  die  im  Osten  (Syrien, 
Aegypten)  übliche  Bezeichnung  „Barabra"  oder  „Berabra"  für  „Berber" 
im  Magrib  ganz  ungebräuchlich  ist  2). 


1)  Der  obengenannte  See  düifte  der  einzige  süsswasserhaltige  in  Marokko  sein; 
die  wenigen  anderen  bekannten  führen  ausnahmslos  Salzwasser.  Es  sind  dies  im  Osten 
der  von  der  algerischen  Grenze  diirchschnittene  Schott  el-Garbi,  südwestlich  davon  ein 
anderer  grosser  Salzsee  oder  -sumpf  (Ssebcha  Tigi  auf  Petermann\s  Karte  bei  Kohlfs: 
Reise  durch  Marokko  u.  s.  w.),  femer  der  grosse  Salzsumpf  von  Gurara  im  Norden  von 
Tuat,  die  Däia  ed-Daura  im  südlichen  Tafilelt,  und  endlich  in  der  Provinz  'Abda  der 
kleine  Salzsee  Sima,  welcher  mit  dem  von  Leo  Africanls  (S.  136)  erwähnten  See  am 
Djebel  achdar,  „Grünen  Berg**,  identisch  sein  muss,  obwohl  er  die  von  jenem  Autor  ihm 
zugeschriebene  Grösse  des  Sees  von  Bolsena  heute  bei  weitem  nicht  mehr  hat.  (Vergl. 
über  denselben  meine  Mittheilungen  in  den  Verhandl.  d  Gesellsch.  f.  Erdkunde  lb86,  S.  451.) 

2)  Während  des  Druckes  dieses  Abschnittes  der  vorliegenden  Arbeit  erhielt  ich  Nach- 
richten aus  Marokko,  nach  denen  der  Sultan,  durch  den  Verrath  eines  Schech  der  den 
Beni  Mgill  verbündeten  Safan,  Namens  Mustafa,  jenen  Stamm  zur  Unterwerfung  gebracht 
hat.  Doch  ist  die  aufständische  J^ewegung  der  Jireber  damit  noch  nicht  gedämpft.  Aus 
Tanger  wird  unter  dem  15.  August  gemeldet,  dass  ein  Verwandter  des  SultÄUS  mit  200 
Reitern  von  einem  benachbarten  Stamme,  dessen  Name  bis  jetzt  nicht  genau  ennittelt  ist, 
in  einen  Hinterhalt  gelockt  und  niedergemetzelt  wurde.  Mulai  Hassan  schickt  sich  gegen- 
wärtig zu  einem  Rachezuge  gegen  diese  Tribus  an. 


VII. 

Zur  Matriarchatsfrage, 

Von 
KARL  FRIEDRICHS. 


Der  llerodoteische  Bericht  über  die  Lyker')  hat  bei  aller  seiner 
Dürftigkeit  doch  das  grosse  Interesse  für  die  ethnologische  Rechtswissen- 
schaft, dass  in  ihm  das  ältestbekannte  und  fast  typische  Beispiel  des 
Matriarchats  enthalten  ist.  Dadurch  wird  in  uns  auch  das  Interesse  erweckt 
für  eine  Angabe  Homers  über  die  erbrechtlichen  Verhältnisse  im  Lykischen 
Königshause,  welche  gemeiniglich  für  eine  Bestätigung  des  Herodoteischen 
Zeugnisses  gehalten  wird*-^). 

Der  König  Bellerophontes  von  Lykien  schickt  in  den  trojanischen 
Krieg  zwei  „seiner  Enkel  als  Heerführer,  den  Tochtersohn  Sarpedon  als 
Führer  des  Kontingents,  den  Sohnessohn  Glaukos  als  untergeordneten 
Offizier",  —  „eine  Begünstigung  der  Tochter  vor  dem  Sohne,  die  nach 
Eustath')  den  hellenischen  Anschauungen  durchaus  widerspricht". 

Diese  Thatsache  wird  von  MAC  LeNNAN  und  BACHOFEN  an  den  an- 
geführten Stellen  für  eine  Bestätigung  des  Lykischen  Matriarchats  und  des 
Herodoteischen  Berichts  gehalten.  Obwohl  nun  die  beiden  Entdecker  der 
Matriarchatsperiode  darin  entschuldigt  werden  müssen,  wenn  sie  zu  einer 
Zeit,  wo  noch  sehr  wenige  Beispiele  matriarchalen  Familienlebens  bekannt 
waren  und  wo  es  in  erster  Linie  darauf  ankam,  die  theoretischen  Behaup- 
tungen mit  einem  möglichst  zahlreichen  und  mannichfachen  Thatsachen- 
material  zu  unterstützen,  auch  zweifelhafte  und  unsichere  Fälle  als  Beweis- 
mittel herangezogen  haben,  und  obwohl  es  daher  angemessen  erscheinen 
könnte,  verunglückte  Beweisführungen  den  beiden  verdienstvollen  Männern 
nicht  vorzuwerfen,  sondern  mit  Stillschweigen  zu  übergehen,  so  bedarf  dieser 

1)  Herodot,  1.173.  Vergleiche  dazu:  Peschel,  Völkerkunde.  6.  Aufl.  von  A.Kirch- 
hof. Leipzig  1885.  S.  243;  Mac  Lennan,  Studies  in  ancient  historj.  London  1876. 
p.  291,  253;  LuBBOCK,  Die  Entstehung  der  Civilisation.  Deutsch  von  Passow.  Jena  1875. 
S.  124:  Bastian,  Die  Völker  des  östlichen  Asiens.  Leipzig  uud  Jena  1866 — 1871. 
3.  8.111  Note*). 

2)  Homer,  Dias.    6.  150  ff. 

3)  Bachofen,  Das  Mutterrecht    Stuttgart  1861.    Vorrede  S.  7A. 


212  Karl  Friedrichs: 

Beweisversuch  dennoch  einer  ausführlichen  Widerlegung  um  der  Folgen 
willen,  die  er  gehabt  hat.  Nehmlich  ERMAN^  hat  in  einer  ganz  ähnlichen 
Beweisführung  auch  die  Aegypter  zu  den  matriarchalen  Völkern  rechnen 
wollen;  und  es  ist  zu  befürchten,  dass  auch  andere  Forscher,  welche  die 
Entwickelung  der  Familie  nicht  zu  ihrem  besonderen  Studium  gemacht 
haben,  dieses  Beispiel  nachahmen  und  so  die  Lehre  vom  Matriarchat  über- 
haupt in  Misskredit  bringen '-). 

Wir  wollen  daher  nicht  weiter  ausführen,  dass  es  nicht  sehr  poetisch 
wäre,  in  einem  volksthümlichen  Heldengedichte  rechtsvergleichende  An- 
spielungen zu  machen,  noch  dass  diese  Anspielungen  von  den  Griechen, 
welche  erst  durcli  Herodot  von  den  Familienverhältnissen  der  Lyker  Kunde 
bekommen  haben,  gar  nicht  verstanden  werden  konnten,  sondern  uns 
darauf  beschränken,  darzuthun,  dass  auch  HOMER  die  Lyker  für  ein 
patriarchalisches  Volk  gehalten  hat. 

Sarpedon  ist  ein  Sohn  der  Laodameia  und  des  Zeus,  also  nicht  im 
Hause  seines  Vaters,  sondern  in  dem  seines  mütterlichen  Grossvaters 
geboren  worden.  Seine  Stellung  ist  daher  nach  der  Stellung  der  unehe- 
lichen Kinder  im  älteren  Patriarchat  zu  beurtheilen  ^). 

Robertson  Smith  ^)  macht  bereits  darauf  aufmerksam,  dass  das  Ver- 
langen  der  Treue  von  Seiten  der  Ehefrau  in  der  Geschichte  des  Patriarchats 
älter  ist,  als  das  der  Keuschheit  von  Seiten  der  Unverehelichten.  Dieser 
Satz  ist  durch  vielfache  Beispiele  belegt  und  an  sich  fast  selbstverständlich, 
bedarf  daher  keiner  weiteren  Ausführmig.  Wir  sind  daher  nicht  genöthigt, 
dem  Sarpedon  aus  seiner  unehelichen  Geburt  einen  Vorwurf  zu  machen, 
umsoweniger,  als  im  HoMER  kein  Beispiel  vorkommt,  dass  Uneheliche 
verachtet  wären,  vielmehr  die  Gött(»rkinder  überall  mit  dem  höchsten  An- 
sehen bekleidet  werden. 

Die  familienreclitliche  Stellung  der  Unehelichen  im  älteren  Patriarchat 
ist  aber  folgende: 

Es  ist  für  die  geschlossen -einseitige  Familie-')  wesentlich,  dass  der 
Vortheil,    den   der  Stamm  und  das  Haus  von  dem  Zuwachs  einer  Arbeits- 


1)  Erman,  Aegypton  und  ägyptisches  Leben  im  Alterthuni.  Tübingen,  s.  a.  Bd.  1.  S.  224. 

2)  Schon  jetzt  hört  man  in  den  Vorlesungen  von  Revillout  und  seinem  Schuler 
Paturet  an  der  Ecole  du  Louvre  in  Paris  heftige  Ausfälle  gegen  die  Lehre  vom  Matri- 
archat, die  ^von  der  deutschen  und  englischen  Schule  aufgestellt,  aber  keineswegs  bewiesen 
sei**,  und  das  zweifellos  nur  wegen  des  einen  ERMAN'stben  Satzes. 

8)  In  Klbist's  Erzählung  ..Der  Findling*",  Meyek's  Volksbücher  Nr.  73/74,  S.  93,  wird 
der  Findling  als  „Gottes  Sohn**  bezeichnet,  und  ähnliche  Bedeutung  hat  auch  der  Passus 
in  der  Marquise  von  0.  (S.  25  «lesselben  Heftes):  „das  junge  Wesen,  dessen  Ursprung,  eben 
weil  er  geheinmissvoller  war,  auch  göttlicher  zu  sein  schien.** 

4)  Smith,  Kinship  and  marriage  in  earl}^  Arabia.    Cambridge  1885.    p.  14L 

5)  Das  Wort  „einseitige  Familie**  möge  dienen  als  zusammenfassen<ler  Name  für  Ma- 
triarchat und  Patriarchat,  im  Gegensatz  zu  der  vomiatriarchalen,  losen,  und  zu  der  nacli- 
patriarchalen,  gelockerten,  zweiseitigen  Familie. 


Zur  Matriarchatsfrag^o.  213 

und  Vertheidigimgskraft  g(»winnt  grösser  ist,  als  <lio  Ltist,  <lie  «lurch  die 
Äufziehung  (»ines  Kindes  verursacht  winl  '). 

Wir  köuneii  daher  schon  a  ])riori  annehnuMi,  (hiss  <ler  Hausvater  die 
Kinder,  welche»  ihm  seine  unverheiratliete  Tochter  g(»biert,  mit  Freude  auf- 
nehmen und  ihneli  dieselben  Rechte  und  Pflichten  zuweisen  wird,  wie  den 
Kindeni  seiner  Gattin  und  sc^iner  Schwiegertochter.  Diese  Vermuthung 
wird  zur  Gewisslieit,  wenn  wir  sehen,  dass  wenigstens  bei  einem  Volke 
ein  derartiges  Verfahren  bezeugt  ist,  und  dass  sich  bei  mehreren,  besonders 
arischen  Völkern  Spuren  finden,  w<»lche  auf  früheres  Vorkommen  «lieser 
Sitte  hinweisen.  So  lesen  wir  von  dem  hamitischen  Volke  d<»r  Afar,  dass, 
wenn  ein  Madchen,  olnn»  verheirathet  oder  prostituirt  zu  sein,  mit  einem 
Kinde  niederkommt,  un<l  KtMuer  darauf  Anspruch  hat,  der  Urossvater  das- 
selbe mit  der  grössten  Freude  adoptirt  und  es  Yelli-Bato  (Gott  hat  es 
gegeben)  benennt-). 

Bei  den  Hindu  erwirbt  nicht  Jeder,  aber  der  sohnloso  Grossvater 
nicht  nur  die  väterliche  Gewalt  über  den  ersten  Sohn  der  verheiratheten 
Tochter,  sondern  er  kann  seine  Tochter  auch  l)eauftragen,  sich  ausser- 
ehelich  für  ihn  einen  Sohn  von  eincmi  Dritten  erzeugen  zu  hi8s<Mi  (putrikä 
putnl  und  kanina)^). 

Auch  bei  den  alten  Eraniern  hatte  der  sohnlose  Mann  Anspruch  auf 
den  ältesten  Tochtersohn*),  und  so  finden  wir  bei  JUSTI *)  den  Satz:  „weil 
Astyages,  wenn  er  keine  männlichen  Erben  hatte,  den  Thron  naturgemäss 
dem  Sohne  seiner  Tochter  hinterlassen  musste." 

Auch  bei  den  Athenern  findet  sich  das  Recht  des  Grossvaters  an  dem 
Tochtersohne*),  ebenso  bei  den  Chinesen^)  und  vielleicht  bei  den  Juden  *). 

1)  Dieser  Satz  ist  in  dieser  Allgemeingültigkeit  noch  nicht  aufgestellt  und  bewiesen 
worden.  Hellwald,  Die  menschliche  Familie.  Leipzig  1888.  S.  D;  Haberland  bei 
Plobs,  Das  Kind  in  Brauch  und  Sitte  der  Völker.  Berlin  1882.  2.  S.  244;  Puf-fen- 
i>ORP,  De  jure  natnrae  ac  gentium.  Lund  1672.  G.  1,  3,  und  BirDDErs  in  Ekscii  und 
Gbuber's  Allgemeiner  Encjclopädie.  Leipzig  1838.  Sect.  L  Bd.  31.  S.  28i>,  scheinen  etwas 
Derartiges  überhaupt  ableugnen  zu  wollen.  Zur  Unterstützung  der  vorgetragenen  Ansicht 
Tergleiche  jedoch  die  sehr  guten  Ausführungen  bei  Michaelis,  Mosaisches  Recht.  Frank- 
furt 1775  —  1803.  L  S.  197,  2.  S.  100;  Kremer,  Kulturgeschichte  dos  Orients  unter  den 
Chalifen.  Wien  1876.  2.  S.  112 f.  Es  steht  ausser<lem  fest,  dass  alle  wirklich  patriarchalen 
and  matriarchalen  Volker  den  Kinderreichthum  für  einen  wahren  Segen  halten,  sei  es,  dass 
rie.  wie  die  Bond o  bei  Ploss'  Kind,  2.  S.  395,  die  von  den  Kindern  gebrachten  materiellen 
Vortheile  offen  anerkennen,  sei  es,  dass,  wie  bei  den  Hindu,  die  Erfüllung  religiöser 
Pflichten  nach  dem  Tode  zum  Vorwande  genommen  wird.  Bastian,  V.  O.  A.  6.  S.  172 
Note*);  Hearn,  Aryan  household.  London  und  Melbourne  1879.  p.  71  und  oft;  Doblhofk, 
Von  den  Pyramiden  zum  Niagara.    Wien  18.'^1.    S.  179. 

2)  Bastian,  V.  O.  A.   *i.  S.  475  Note  *). 

8)   Köhler,  in  der  Zeitschr.  iür  vergl.  Rechtswiss.   3.  S.  396,  402;  Bachofen,  S.201  A. 
4)   BuDDEüß,  in  Ekscii  und  (iKUREr's  Allgemeine  F^ncyclopfidie.     1.  31.  S.  386B. 
6    JuSTi,  Geschichte  clcs  alten  Persiens :  in  Oncken,  Allgemeine  üeschichte  in  Einzel- 
dantellnngen.    Berlin  1879  fit.    S.  16. 

6)  Hearn,  A.  H.  p.  104. 

7)  Hart  in  Morgan,  The  sjstems  of  consanguinity  and  affinity  in  the  human  family. 
Wathiiigton  1871.    p.  424. 

8)  HiQHAELis,  M.  ,B.    2.  S.  78, 


214  Karl  Friedrichs: 

Was  nun  in  nachweisbarer  Zeit  für  den  sohnlosen  Hausvater  gegolten 
hat,  wird  früher  zweifellos  in  jedem  Falle  gültig  gewesen  sein. 

Wir  gehen  also  wohl  nicht  aus  der  gebotenen  Vorsicht  hinaus,  wenn 
wir  für  das  Homerische  Zeitalter  als  Regel  annehmen:  den  unehelichen 
Kindern  haftet  durch  ihre  Geburt  an  sich  ein  Makel  nicht  an.  Sie  stehen 
gegenüber  dem  Vater  ihrer  Muttor,  in  dessen  Hause  sie  geboren  sind,  gleich 
mit  den  anderen,  in  demselben  Hause  von  freien  Frauen  geborenen  Kin- 
dern, also  mit  den  Söhnen  und  Sohnessöhnen  des  Hausvaters. 

Somit  wird  die  Stellung  Sarpedon's  im  Hause  seines  Muttervaters 
leicht  erklärlich,  und  <len  Umstand,  dass  gerade  diesem  die  Oberleitung 
des  Heeres  anvertraut  wird,  können  wir  auf  die  einfachste  Weise  durch 
die  Ahnahme  erklären,  dass  er  älter,  erfahrener,  begabter  gewesen  ist, 
als  der  treuherzige,  jugendlich -leichtsinnige  Glaukos,  der  Sohn  des  Hippo- 
lochos. 

Dass  aber  eine  andere,  matriarchale  Erklärung  des  vorliegenden  Ver- 
hältnisses nicht  zulässig  ist,  ersehen  wir  aus  folgenden  Erwägungen: 

Mag  man  über  das  Matriarchat  im  Einzelnen  denken,  wie  man  will, 
so  ist  es  doch  für  diese  Familienrechtsstufe  begriflFswesentlich,  dass  recht- 
liche Beziehungen  zwischen  dem  Erzeuger  und  dem  Erzeugten  nicht  an- 
erkannt werden,  und  dass  alle  Familienerinnerungen,  Stammbäume,  reli- 
giösen Familiengemeinschaften  nur  auf  der  weiblichen  Seite  fortgepflanzt 
werden.  Ein  König,  wie  ein  Gemeiner  mag  eine  Frau  in  sein  Haus 
nehmen,  er  mag  mit  ihr  Kinder  erzeugen  und  dieselben  grossziehen,  er 
mag  sie  sogar,  obwohl  Fremde,  als  seine  Vertreter  mit  dem  Heere  ins 
Feld  schicken,  aber  es  ist  im  Allgemeinen  nicht  möglich  und  widerspricht 
im  Besonderen  den  Herodoteischen  Angaben  über  die  Lyker,  dass  der 
nach  seiner  Familie  gefragte  Glaukos  nur  seine  agnatischen  Verwandten 
aufzählen,  die  uterinen  aber  gänzlich  übergehen  sollte.  Das  ist  nicht  nur 
unmatriarchalisch,    «las    gehört  sogar  einem  sehr  schrofifen  Patriarchate  an. 

Wir  setzen  also  als  zweites  Ergebniss  unserer  Untersuchung  fest: 
Homer  kennt  nicht  das  lykische  Matriarchat,  er  schildert  auch  hier  die 
ihm  selbst  bekannten  altpatriarchalischen  Zustände. 

Nun  hält  freilich  MaC  LeNNAN,  durch  eine  Entgegnung  GLADSTONE's 
gereizt,  das  ganze  heroische  Griechenland  für  matriarchaP ).  Der  Aufsatz, 
in  welchem  dieser  Satz  bewiesen  werden  soll,  ist  einer  der  verunglücktesten, 
die  je  geschrieben  sind.  Eine  Widerlegung  im  Einzelnen  ist  weder  noth- 
wendig  noch  zweckmässig;  wir  weisen  nur  hin  auf  das  in  allen  Königs- 
häusern übliche  patriarchale  Thronfolgerecht,  auf  die  Raubehe  [Helena^), 
Danaiden'),  lo*)]  und  auf  die  Patriarchalität  aller  heroischen  Stammbäume. 


1)  Mac  Lennan,   Kinship   in   ancient  Grecce,   der   zweite  Aufsatz  in  den  Studies  in 
ancient  history. 

2)  Dazu  auch  Lubbock,   E.  d.  C.    S.  97,  461—453. 
8)   Baohofen,  S.  9dA,  94A. 

4)   JlanaQQriyonovkoi  7oTo^/a  rov  iXlfit^ixov  i&fovg  ixd,  dtvj,    Athen  1881.    1.  p.  69, 


Zur  Matriarchat«fra^o.  215 

Zum  Sohluss  noch  eine  Bomerkun|i:  nhor  das  ^Matriarchat"  bei  den 
alten  Aegyptern.  Wer  das  Matriarchat  für  eine  nothwendige  Vorstufe 
des  Patriarchats  hält,  wird  auch  nicht  bezweifehu  dass  in  Aegypten  zu 
irgend  einer  alten  Z<»it  einmal  das  Matriarchat  gtdierrscht  habe.  Bezweifelt 
soll  hier  aber  werden,  dass  das  Matriarchat  zu  der  von  Erman's  Buche 
amfassten  Zeit  noch  bestanden  habe.  Vielmehr  trägt  das  ägyptische 
Familienleben  in  nachweisbarer  Zeit  einen  allgemein  patriarchalen  Charakter. 
Im  Besonderen  weist  die»  Entwicklung  der  industriellen  Arbeitstheilung 
und  mit  ihr  des  Obligationenrechts,  die  angesehene  Stellung  der  Frauen, 
die  Gliederung  des  Volkes  nach  Provinz  und  Stadt,  nicht  nach  Stämmen 
und  Familien,  auf  das  spätere  Patriarchat,  im  Uebergange  zu  der  modernen, 
zweiseitigen  Familie^). 

Nun  findet  ERMAN  auf  den  Todtenstelen  der  späteren  Zeit  als  herr- 
schenden Gebrauch,  die  Herkunft  des  Todten  nach  seiner  Mutter  anzu- 
geben, „nicht,  wie  es  uns  natürlich  scheint,  nach  dem  Vater"  ^).  Als  zweiter 
Grun<l  des  vermeintlichen  Matriarchats  gilt  das  Erbrecht  der  Töchter,  bezw. 
Töchtersöhne  ^)  gegenüber  dem  Vater. 

Der  erste  Grund  würde,  wenn  gar  nichts  Anderes  von  dem  Volke 
bekannt  wäre,  entschieden  für  ein  Matriarchats -Kennzeichen  gehalten  werden. 
Ab(»r  schon  der  Umstand,  dass  diese  Art  von  Metronymie  nur  in  der  spä- 
terem Zeit  vorkommt,  zwingt  uns,  eine  andere  Ursache  dafür  zu  suchen, 
da  wir  nie  davon  gehört  haben,  dass  das  Patriarchat  sich  in  allmählichem 
Uebergange  in  Matriarchat  verwandelt  hätte*).  Erklärt  und  erklärbar  ist 
diese  Metronymie  aus  Höflichkeit  noch  nicht,  es  möge  nur  erwähnt  werden, 
dass  eine  gleiche  Erscheinung  bei  dem  entschieden  patriarchalischen  Volke 
der  Kanori  (Bomu- Neger)  vorkommt'). 

Der  zweite  Grund  dient  aber  entschieden  als  Beweis  für  das  Patri- 
archat. Erbrecht  zwischen  Vater  und  Tochter  besteht  im  Matriarchate 
nicht,  da  ein  solches  dem  Grundcharakter  desselben,  Nichtanerkennung 
des  Verhältnisses  zwischen  dem  Erzeuger  und  dem  Erzeugten,  wider- 
sprechen würde. 

Aber   nicht    einmal  für  die  hohe  Stellung  der  Frauen  giebt  das  Erb- 


1)  Ad  dem  Unterschiede  zwischen  dem  Patriarchat  und  der  modernen  Familie  ist 
festzuhalten,  trotz  der  entgegengesetzten  Behauptung  bei  Tylor,  Einleitung  in  das  Stu- 
dium der  Anthropologie  und  Civilisation.  Deutsch  von  ü.  SrejiERT.  Braunschweig  1883. 
8.  485,  und  trotzdem  bei  den  meisten  ein  solcher  Unterschied  nicht  aufgestellt  ist.  Frei- 
lich ist  der  Ueberganjj  zwischen  beiden  durchaus  allmählich,  und  eine  scharfe  Scheide- 
linie nicht  zu  ziehen.    Vergl.  auch  Uear>%  64.:    Bastian,  V.  O.  A     G.  S.  87  Note*}. 

2)  Erman,  Aegypten.    1.  S.  224. 
8)   Erman.    Cap.  8. 

4)  In  Starcke,  •Die  primitive  Familie**.  Leipzig  1888,  wird  jetzt  ein  solcher  Ueber- 
gang  behauptet.    Die  Beweise  sind  aber  nicht  überzeugend. 

6)  Barth,  Reisen  und  Entdeckungen  in  Nord-  und  Centralafrika.  Gotha  1857/68. 
2.  &  ÄlT. 


216  Karl  (^iedrighs:   Zur  Matriarchatsfrage. 

recht  der  Töchter  einen  sonderlichen  Beweis.  Dass  etwa  die  Töchter  den 
Söhnen  vorgezogen  würden,  sagt  ERMAN  nirgends,  und  es  scheint  beinahe, 
als  wenn  sich  das  Erbrecht  der  Töchter  auf  solche  Fälle  beschränkte,  wo 
Söhne  nicht  vorhanden  sind.  Es  ist  nun  wahr,  dass  in  vielen  patri- 
archalischen Rechtsgebieten  die  Töchter  von  der  Erbfolge  ausgeschlossen 
sind,  so  bei  den  Armeniern'),  den  Mirditen*-),  den  ältesten  Römern, 
den  Iren*),  den  Wallisern''),  den  Altslaven'),  den  Dänen*),  den 
Saliern'),  den  Altschleswigern*),  den  vormuslimischen  Arabern*), 
den  Drusen^),  den  Käfirn®). 

Aber  bei  anderen,  gleichfalls  patriarchalen  Völkern  fin<len  sich  Erb- 
ansprüche der  Töchter  in  Ermangelung  von  Brüdern  und  sogar  neben 
Brüdern.  So  bei  den  Athenern^)  (allerdings  in  der  Form  der  Epi- 
klerenerbschaft),  den  Schweden*®)  seit  dem  13.  Jahrhunderte,  den 
Schleswigern  seit  Svend  Gabelbart**),  den  Arabern  seit  Muhammad**), 
den  Juden,  sowohl  im  Alterthum  * ')  (unter  einer  dem  athenischen  Epi- 
klerenrechte  durchaus  verwandten  Modification),  als  auch  heute**),  den 
Ovambo  (Bantu)**),  dön  Ilijat  (Eranischen  Türken)**).  Die  letzt- 
erwähnten Fälle  gehören  dabei  nur  zum  Theil  dem  jüngeren  Patriarchat 
oder  dem  Uebergange  zur  modernen  Familie  an,  so  dass  sich  das  ägyp- 
tische Erbrecht  der  Töchter  sehr  wohl  selbst  mit  dem  älteren,  strengeren 
Patriarchat  vertragen  würde. 

Wir  glauben  daher  das  Matriarchat  für  die  späteren  Altägypter  ab- 
lehnen zu  dürfen,  während  den  vorhistorischen  Aegyptern  ihr  Anspruch 
auf  Matriarchalität  unverkümmert  erhalten  bleiben  soll. 


1)  Pr.  nov.  21. 

2)  Hbllwald   in  Trewendt's  Wörterbuch  der  Zoologie  u.  s.  w.    Breslau.    5.  S.  429. 

3)  Hbarn,  p.  149,  150. 

4)  Daulmank,   Geschichte   von   Dänemark,   in  Heeren  und  Ukert,   Geschichte  der 
europäischen  Staaten.     1.  S.  165. 

5)  Stemann,  Geschichte  des  öffentlichen  und  Privatrechts  des  Herzogthums  Schleswig. 
Kopenhagen  1866ff.     1.  S.  38. 

6)  Kremer,  K.  G.    1.  S.  531. 

7)  Hellwald,   in  T.  W.  B.    2.  S.  439. 

8)  Waitz,  Anthropologie  der  Naturvölker.    Leipzig  1859  flf.    2.  S.  390. 

9)  Hearn,  A.  H.  p.  95;    Smith,  Dictionary  of  Greek  and  Roman  antiquities.   Londpn 
1882.    p.  467B;  Lysias,  orationes.    26.  12;    15.  3. 

10)  Dahlmann.    1.  S  165. 

11)  Stemann,  a.  a.  0. 

12)  Kremer,  a.  a.  0. 

13)  Miohaelis,  M.  R.    !^  78. 

14)  Mendelssohn,  Ritualgesetze  der  .Juden.    4.  Aufl.    Berlin  1799.    1.  1,  §  1,  3. 

15)  Waftz.    2.  S.  418. 

16)  Hellwald,  in  T.  W.  B.    4.  S.  271. 


Besprechungen. 


Grimm.  Die  Pharaonen  in  Ostafrika.  Eine  kolonialpolitische  Stuilie. 
Mit  einigen  Holzschnitten  und  Lichtdruckhildern.  Karlsruhe,  Macklot. 
(1887.)    8.     184  S. 

Das  kleine  Heft  enthält  eine  Tendenzschrift  im  strengsten  Sinne  4les  Woi tes.  Aus  der 
altA(^;jptischen  Geschichte,  namentlich  ans  der  Geschichte  der  Expeditionen  nach  Punt 
sollen  die  Waffen  geschmiedet  werden,  um  die  Gegner  und  Zweifler  für  die  deutsche 
Kolonialpolitik  in  Ostafrika  zu  gewinnen.  Ein  sehr  sonderbares  Unternehmen!  Offenbar 
ist  der  Verfasser,  der  sich  erst  in  Folge  seiner  entschiedenen  Stellungnahme  für  die 
Kolonialpolitik  anch  mit  alt&gyptischen  Dingen  beschäftigt  hat,  in  die  Materie  nicht  tief 
genug  eingedrungen,  um  den  gewaltigen  unterschied  zu  erkennen,  welcher  zwischen  der 
auswärtigen  Politik  der  Pharaonen  und  der  Kolonialpolitik  anderer  Herrscher  und  Völker 
des  Alterthnms,  z.  B.  der  Phönicier.  Griechen  und  Römer,  bestand.  Den  Pharaonen 
kam  es  wesentlich  darauf  an.  Beute  zu  gewinnen  und  Reichthümer  heimzubringen,  um  den 
Göttern  durch  glänzende  Opfer  und  den  Priestern  durch  verschwenderische  Geschenke 
za  gefallen.  Was  Tutmes  IL  und  III.  durch  gewaltige  Kriegszüge  erstrebten,  das  ver- 
suchte ihre  Schwester  und  Mitregentin  Hatasu  oder  Hatschepsu  auf  friedlichem  Wege 
dorrh  Entsendung  einer  grossen  Flotte  nach  dem  Lande  Punt,  und  sie  erreichte  ihr  Ziel 
in  glänzender  Weise.  Das  beschreibt  der  Verfasser  nach  bekannten  Quellen  sehr  umständ- 
lich, indem  er  zugleich  Lichtdmckbilder  giebt  von  den  Statuen  der  Köuigin,  welche  sich  im 
Berliner  Museum  befinden,  und  welche  leider  viel  stärker  verletzt  und  daher  auch  viel  um- 
fangreicher restanrirt  worden  sind,  als  der  Verfasser  aunimmt.  Dass  aber  jemals  in  Punt 
eine  ägyptische  Kolonie  gegründet  oder  auch  nur  dauernde  Handelsfaktoreien  errichtet  wor- 
den seien,  davon  ist  nichts  bekannt.  Der  ägyptische  Admiral  kolonisirte  im  Weihrauchlande 
ebensowenig,  als  der  römische  Ritter,  den  Nero  nach  der  Bemst<>inküste  schickte.  Am 
sonderbarsten  ist  es,  dass  der  Verfasser  sich  vorstellt,  das  ägyptische  Volk  sei  durch  diese 
Kolonialpolitik  so  sehr  in  Enthusiasmus  versetzt  worden,  dass  es  die  monumentalen  Bilder 
in  Deir-el-Bahri  herstellen  Hess  (S.  5).  «Die  Skulpturen  am  Tempel  von  Der-el-Bahri  zeigen, 
dass  das  damalige  ägyptische  Volk  die  von  seiner  Fürstin  ausgegangene  friedliche  Kolonie- 
grundnng  in  Ostafrika  für  ein  Ereigniss  von  gleich  hohem  Range  ansah,  wie  die  Kriegs- 
thaten  (von  Ramses  II  und  III.)."  Das  arme  ägjrptische  Volk  war  sehr  passiv  bei  den 
mbmredigen  Monumenten  seiner  Herrscher,  und  diesen  lag  kein  Gedanke  femer,  als  der, 
sich  Monumente  durch  das  Volk  errichten  zu  lassen.  Nur  der  Herrscher  spricht  in  den 
Inschriften  der  Monumente:  er.  der  Sohn  des  grossen  Gottes,  lässt  dieselben  errichten, 
er  hat  die  Grossthaten  ausgeführt  und  er  verkündet  sie  dem  Volke.  Obwohl  der  Verfasser 
mit  seinen  etwas  mühselig  errungenen  Lesefrüchten  den  grössten  Theil  seines  Werkes 
füllt,  ohne  dass  im  Gnmde  anch  nur  das  Geringste  dadurch  für  seinen  Zweck  gewonnen 
wird,  so  steckt  darin  doch  wenigstens  ein  gewisser  Antheil  von  historischer  Wahrheit. 
Aber  gänzlich  unverdaut  ist  das,  was  den  Schluss  des  Heftes  bildet,  der  Excurs  in  die 
ägyptische  Prähistorie.  Zunächst  begeistert  sich  der  Verfasser  ganz  überflüssigerweise 
fOr  den  Gedanken,  dass  ui  sprünglich  ganz  Africa  von  einem  einzigen  Urstamme  bewohnt 
worden  sei.  Dann  lässt  er  von  Asien  her  in  prähistorischer  Zeit  die  Hamiten  mit  einer 
besonderen  Sprache  eindringen  und  sich  in  Aegypten  zu  höchster  staatlicher  Organisation 
cntwiekeln.    Daraus   folgert   er   dann,   dass  eine  eingewanderte  Rasse  vortrefflich  sowohl 

ZtHtebrin  r&r  Ethnologie.    Jabr«.  ISSS.  15 


218  Besprechungen. 

in  Aejrypten,  als  in  Ostafrika  überhaupt  (I)  leben  und  fortbestehen  könne,  und  da  die  üamitcn 
zu  der  kaukasischen  Kasse  gehören  (S.  188),  so  kann  nach  seiner  Meinung  auch  „das 
deutsche  Volk  mit  seinen  kolonisatorischen  Plänen  in  Ostafrika  sicher  und  unbeirrt  vor- 
wärts schreiten.*"  Sollte  der  Verfasser  wirklich  glauben,  dass  ^kaukasische  Rasse"  and 
^Ärier**  oder  „Indogermanen~  identische  Begriffe  sind?  Und  sollte  er  gar  nichts  von  dem 
traurigen  Geschicke  der  armen  Fellachen  gehört  haben,  die  man  neuerlich  zur  Kolonisimiig 
von  Ostafrika  gewonnen  hatte?  RuD.  VmCHOW. 


Henry  O'Shea.  La  maison  basque.  Notes  et  impressions.  Pau,  Leon 
Ribaut,  1887.  gr.  8.  87  p.  avec  22  illustratious  hors  texte  et  4  dans 
le  texte  par  F.  Correges. 

Axel  0.  Heikel.  Ethnogi'apliische  Forschungen  auf  dem  Gebiete  der 
finnischen  Völkerschaften.  L  Die  Gebäude  der  Öeremisson,  Mord- 
winen, Esten  und  Finnen.  Helsingfors  1888.  gr.  8.  352  S.  mit 
311  Abbildungen  im  Text.  (Suomalais-Ugrilaisen  Seuran  Aikakaus- 
kirja.    IV.) 

Die  beiden  genannten  Werke  behandeln  in  ausführlicher  Weise  das  Haus  mit  seinen 
Anhängen,  viie  es  sich  in  zwei  abgelegenen  Gegenden  Europas  bei  den  Eingebomen  erhalten 
hat.  Aber  so  weit  die  Entfernung  ist  zwischen  den  Basken  und  den  Finnen,  so  gross  ist 
auch  der  Untei-schied  in  der  Methode  der  Auffassung  und  Schreibart  zwischen  den  beiden 
Autoren.  Während  Hr.  O'Shea  in  begeisterter  Stimmung,  unter  Heranziehung  eines  grossen, 
alle  Zeitalter  umfassenden  literarischen  Mateiials,  seiner  Phantasie  in  Beziehung  auf  die 
Vorzeit  und  die  Entwickelungsgeschichte  der  Basken  volle  Freiheit  lässt,  so  dass  oh 
oinigennaassen  schwerfällt,  aus  der  Fülle  der  episodisch  an  einander  gereihten  Gedanken 
das  thatsächliohe  Bild  des  baskischen  Hauses  herauszuschälen,  häuft  Hr.  Heikel  in  grösster 
Sorgfalt,  aber  in  fast  zu  nüchterner  Genauigkeit  eine  grosse  Anzahl  detaillirter  Schilde- 
rungen, welche  die  Haushauten  der  finnischen  Stämme  von  der  Wolga  und  dem  Ural  bis 
zum  botnischen  Meerbusen  umfassen.  Sonderbarerweise  nimmt  der  erste  Autor  (p.  44,  Note) 
den  Wunsch  des  Prinzen  Lucien  Bon  aparte  auf,  der  die  Meinung  ausdrückte,  man 
müsse  .,bei  den  uralischen  Völkern,  von  denen  mehrere  in  Scandina\ien  wohnten,  sich 
über  Alles,  was  das  ])askische  Haus  betrifft,  unterrichten"  (il  faudrait  chercher  ä  s'informer 
de  tout  ce  qui  tient  aux  maisons  basques),  und  siehe  da.  Hr.  Heikel  erfüllt  in  demselben 
Augenblicke  diesen  Wunsch,  aber,  wir  fürchten,  nicht  zur  vollen  Zufriedenheit  der  beiden 
französischen  Gelehrten.  Dem  Ref.  war  es  wenigstens  nicht  möglich,  in  seiner  Schrift 
irgend  einen  Zusammenhang  zwischen  dem  finnischen  und  dem  baskischen  Hause  zu  ent- 
decken. 

Hr.  O'Shea  hält  die  Basken  für  Tiu^anier,  und  v(m  diesem  Vordersatze  aus  hält  er 
sich  auch  für  berechtigt,  die  ganze  Religions-  und  Sagengeschichto  d<T  Turanier,  zu  denen 
er  auch  die  Aegypter  und  die  Bewohner  der  untergegangenen  Atlantis  zählt,  für  die  Basken 
in  Anspruch  zu  nehmen.  Man  kann  nach  seinen  Ausführungen  kaum  Itestreiten,  dass  das 
Haus  ))ei  den  Basken  noch  bis  in  ganz  späte  Zeiten  hinein  in  besonders  ausgeprägter 
Weise  mit  einem  religiösen  Charakter  bekleidet  gewesen  sein  muss,  aber  es  dürfte  wohl 
übertrieben  sein,  wenn  der  Verf.  annimmt,  dass  dieser  Charakter  auf  einem  streng 
gepflegten  Ahnencultus  beruht  hat  und  dass  dieser  Cultus  durch  die  Sitte,  die  Todten  im 
Hause  selbst  zu  begraben,  lebendig  erhalten  sei.  l'eber  dem  Grabe  habe  sich  der  Heerd 
mit  dem  stets  brennenden  Feuer  befunden,  also  ein  Altar,  und  somit  sei  die  Heerdstelle 
als  der  Hauptplatz  des  Hauses  anzusehen.  C'est  la  cuisine,  la  belle  et  vaste  cuisine 
basque,  qui  est  la  piece  principale  de  la  maison.  La  cuisine?  Oh!  ne  la  dedaignez  pas 
Derriere  ces  voiles  epais  de  pierre  et  de  mortier,  se  cachait  jadis,  dans  ce  pays,  un  ante! 
sacre,  aux  augustes  mysteres,  et  aujourd^hui  un  autel  non  moins  sacrc  s'y  ^leve,  le  foyer 
domestique  qui,  depuis  vingt  siecles,  porte  la  societe  basque,  la  j)lus  forte  et  la  plus 
saintemont   constituee   qui  ait  etc  ici-bas  (p.  15\    Dem   entsprechend    constniirt   er   das 


Bepprechungen.  219 

jirimitive  baskiscbe  Haus  aus  3  Theilen  (p.  48,  Fig.  3):  oiuer  vollkonimen  geschlossenen,  ur- 
spiünglich  in  Form  eines  heinisphärischen  Thurmes  errichteten  Celia  oder  Absis  mit  dem 
Heerde:  einem  länglichen  Schiff  mit  offenem  Hofe  (eskaratza)  und  an  den  Seiten  mit  Woh- 
nungen für  die  Familie,  und  endlich  einer  Vorhalle,  wo  sich  die  Fremden  und  Gäste  auf- 
hielten, denen  es  streng  verboten  war,  das  Innere  des  Hauses  zu  betreten.  Recht  an- 
schauliche Zeichnungen  des  Hm.  Correges  veranschaulichen  sowohl  das  städtische,  als 
das  ländliche  Haus  der  Basken,  welches  letztere,  beiläufig  gesagt,  in  mehrfacher  Beziehung 
an  unser  alemannisches  oder  Alpcnhaus  erinnert. 

Eine  gänzlich  verschiedene  Anschauung,  im  Ganzen  und  im  Einzelnen,  gewährt  das 
von  Hm.  Heikel  so  genau  geschilderte  Haus  der  Tscheremissen,  Mordwinen,  Esten  und 
Finnen.  Hier  tritt  nicht  die  mindeste  Beziehung  auf  ein  Grab  oder  auf  einen  Ahnen- 
cultus,  nicht  einmal  auf  die  Religion  überhaupt  hervor.  Das  primitive  Haus  der  Wolga- 
I-^nnen  ist  der  natürliche  Ausdmck  des  einfachsten  Bedürfnisses,  Schutz  und  Sicherheit 
für  Menschen  und  Hansthiere  zu  gewinnen.  Die  «Stangenriege''  der  Mordwinen  und 
Tschuwassen  basirt  freilich  auch  auf  einem  Erdloche  mit  einem  Feuerheerde,  über  welchem 
sich  ein  kegelförmiger  Aufbau  aus  Holzstangen  erhebt  (S.  2,  Fig.  1),  aber  das  Erdloch 
ist  nur  die  Winterwohnung  der  Leute.  Erst  indem  sich  der  Heerd  mehr  entwickelt  und 
zu  einem  Ofen  wird,  der  Oberbau  sich  nach  und  nach  zu  einem  Gebäude  entfaltet,  nimmt 
das  Ganze  allmählich  den  Habitus  einer  Wohnung  in  unserem  Sinne  an.  Freilich  betrachtet 
auch  Hr.  Heikel  (S.  XXVIII)  „die  Feuerstätte  ihrer  Lage  und  ihrer  Form  nach  als  den 
besten  Ausgangspunkt,  die  verschiedenen,  mit  Feuerstätten  versehenen  Wohnungen  und 
Häuser  seines  Forschungsgebietes  zu  gmppiren  und  zu  charakterisiren** :  er  findet  „ein 
System  der  Banfomien,  welche  alle  in  der  Feuerstätte  ihre  Nota  characteristica  haben". 
Zu  demselben  Ergebniss  ist  auch  der  Ref.  bei  seinen  Studien  über  das  altdeutsche  Haus 
gekommen.  Wenn  jedoch  Hr.  Heikel  in  gewissen  estnischen  Bauformen  eine  Erinnerung 
an  das  sächsische  Haus  erblickt  (S.  I8n).  so  mag  diess  zugestanden  werden  in  Bezug  auf 
das  äussere  Aussehen,  aber  es  kann  nicht  wohl  zugestanden  werden  in  Bezug  auf  den 
Gmndplan  der  inneren  Einrichtung.  Was  bei  dem  estnischen  Hause  in  seiner  primitivsten 
Gestalt,  wo  es  nur  auf  Stube  (kota)  und  Tenne  reducirt  ist,  neben  einander  liegt,  das  ist 
in  dem  altsäcbsischen  Hause  hinter  einander  gestellt:  zuerst  die  Deel,  dann  das  Flet. 
Daraus  folgt  für  die  weitere  Ent Wickelung  des  Hauses  ein  vollständiger  Gegensatz,  der 
sich  leicht  begreift,  wenn  man  die  ganz  verschiedenen  Bedürfnisse  der  betreffenden  Völker 
^^egen  einander  st4>llt.  Das  sächsische  Haus  nimmt  eben  di<>  gesammte  Wirthschaft,  ein- 
s<hliesslich  der  Viehställe  und  der  Vorrathsräume,  in  sich  auf,  so  dass  die  Wohnung 
immer  nur  einen  kleinen  Theil  des  Hauses  ausmacht:  bei  den  Finnen  wird  das 
Hans,  je  grösser  es  anwächst,  inmier  mehr  Wohnhaus  und  die  Wirthschaftsräume  werden 
in  besonderen  Nebengebäuden  untergebracht.  Es  mag  sein,  dass  die,  mit  den  deutschen 
Ordensrittern  gerade  aus  Niedersachsen  und  Westfalen  heranziehende  Einwandemng  manche 
Kigenthfimlichkeit  der  Heimath  auch  in  den  Ostseeprovinzen  eingeführt  hat,  aber  sie  ist 
nicht  stark  genug  gewesen,  auf  dem  Lande  durchgreifende  Aendenmgen  der  Gewohnheiten 
zu  erzeugen.  Die  eingehenden  Schilderungen  des  Verf.  sind  daher  höchst  dankenswerthe 
Vermehrangen  unserer  Kenntniss  von  der  Art  des  häuslichen  Lebens  der  finnischen  Stämme, 
aber  sie  lehren  auch,  wie  unter  ganz  anderen  wirthschaftlichen  Verhältnissen  sich  eine 
eigenartige  Methode  des  Bauens  und  des  Wohnens  ausgebildet  hat.  Vielleicht  am  meisten 
bt'rühren  sich  gewisse  Nebeneinrichtungen,  z.  B.  die  gesonderten  Speicher,  auf  deren  Vor- 
handensein in  der  Schweiz  Ref.  wiederholt  hingewiesen  hat.  Auch  zeigt  sich  unverkenn- 
bar, wie  der  ausschliessliche  Holzbau  gewisse  Aehnlichkeiten  in  der  Construktion  mit  sich 
bringt,  die  gewi^  auf  keine  unmittelbare  Beeinflussung  der  einen  Nation  durch  die  andere 
hinweisen.  —  Zu  besonderem  Danke  sind  wir  übrigens  dem  Verf.  verpflichtet,  dass  er 
scinp  Arbeit  in  deutscher  Sprache  veröffeutlicht  hat.  Man  merkt  es  ihm  an,  dass  unsere 
Sprache  ihm  gewisse  Schvrierigkeiten  bereitet ;  hier  und  da  wird  seine  Darstellung  dadurch 
etwas  undeutlich.  Trotzdem  wird  er  gewiss  auf  dankbare  Leser  und  auf  gebührende  Auf- 
merksamkeit bei  uns  rechnen  dürfen.  Die  Fülle  vortrefflicher  Abbildungen  und  genauer 
Grandrisse  gewährt  eine  Belehmng,  wie  wir  sie  aus  recht  vielen  Ländern  wünschen  müssen. 

RUD.  ViRClIOW. 


220  BeBprecliuDgen. 

China.  Imperial  maritime  customs.  IL  Special  Series  No.  2.  Medical 
Reports  for  the  half-year  ended  30  th  Sept.  1886.  32  nd  Issue.  Shanghai 
1886.  —  The  same  for  the  half-year  ended  31  th  Mareh  1887.  33nd 
Issue.     Shanghai  1887.    4. 

Die  beiden  Hefte  sind  eine  Fortsetzung  früherer  Berichte  (vergl.  Zeitschr.  f.  Ethnol.  1887. 
8.48),  aber  sie  haben  einen  ungleich  reicheren  Inhalt,  der,  obwohl  speciell  medicinischer 
Art,  doch  wegen  der  mannichfachen  Uebersichten  über  die  Geographie  der  Krankheiten 
in  verschiedenen  Plätzen  von  China  auch  den  Reisenden  nahe  angeht.  Von  besonderem 
wissenschaftlichem  Werthe  ist  in  dem  32.  Berichte  eine  Abhandlung  des  Mr.  Mjers, 
Surgeon  to  the  ^David  Manson  Memorial*  Hospital,  über  die  Lebensgeschichte  der  Filaria 
sanguinis  hominis  und  ihr  Nichtvorkommen  in  Süd-Formosa  oder  eigentlich  in  Formosa 
überhaupt,  welches  um  so  auffallender  ist,  als  in  dem  nahe  gelegenen  Amoy  dieser  Parasit 
sehr  häuüg  gefunden  wird  und  zahlreiche  Berührungen  mit  diesem  Hafenplatz  stattfinden. 
Mr.  Myers  sucht  den  Grund  davon  in  dem  Umstände,  dass  diejenige  Art  von  Mosquitos, 
welche  Dr.  Manson  in  Amoy  als  Träger  der  Embryonen  der  Filaria  nachgewiesen  hat, 
in  Formosa  nicht  vorkommt.  Der  Verf.  giebt  eine  mit  Abbildungen  erläuterte  Beschreibung 
von  3  verschiedenen  Arten  von  Mosquitos,  welche  in  Formosa  leben,  und  zeigt  ihre  Unter- 
schiede von  den  Amoy- Mosquitos,  welche  die  Filaria  aufnehmen  und  übertragen.  Seine 
weiteren  Ausführungen,  weiche  hauptsächlich  die  Lebensbedingungen  der  Filaria  im  mensch- 
lichen Körper,  speciell  die  Sauerstoffzufuhr  und  die  Temperatur,  betreffen,  sind  mehr  theo- 
retischer Natur;  er  bringt  damit  den  Umstand  in  Zusammenhang,  dass  die  Neigung  der 
Parasiten,  während  der  Nacht  auszuschwärmen,  sowohl  durch  künstliche  Umkehr  von  Nacht 
und  Tag,  als  auch  durch  die  natürliche  Verschiebung  der  Tages-  und  Nachtzeiten  auf 
längeren  Reisen  geändert  wird.  Im  Anschluss  daran  behandelt  er  dann  die  Elephantiasis 
in  China  und  anderswo,  von  der  er  glaubt,  dass  man  in  causaler  Beziehung  zwei  ver- 
schiedene Arten  unterscheiden  müsse.    Nur  eine  derselben  sei  „filarial*".  — 

Dr.  H.  N.  Allen  (33  nd  Issue  p.  38)  erstattet  einen  kurzen  Bericht  über  den  Gesund- 
heitszustand in  Seul  (Korea)  während  des  Jahres  1886.  In  demselben  wird  als  eine  der 
um  meisten  gefürchteten  Krankheiten  die  Recurrens  (yeni  pyeng)  aufgeführt  Man  hält 
sie  für  bestimmt  ansteckend,  und  der  Verf.,  obwohl  er  anfangs  diese  Auffassung  bekämpfte, 
wurde  schliesslich  ebenfalls  ein  Anhänger  derselben.  Durch  einmaliges  Befallensein 
steigert  sich  die  Neigung  für  spätere  Rückfälle.  Chinin  scheint  bei  Koreanern  wirkungslos 
zu  sein.  Seine  Haupterfolge  erzielte  der  Verf.  mit  Pilocari)in,  welches  um  die  Zeit  der 
Krise  gereicht  wurde.  Es  sollen  auch  Spirillen  gefunden  sein,  indess  lautet  die  Beschrei- 
bung der  angewendeten  Methode  etwas  bedenklich. 

Ein  grosser  Theil  der  Berichte,  so  auch  der  eben  erwähnte,  liefern  Schilderungen 
der  letzten  Cholera -Epidemie,  welche  sich  über  Ostasien  verbreitete,  sowie  über  die 
verschiedenen  Formen  von  Malaria -Krankheiten.  Rud.  Virchow. 


Hugo  Kleist  und  Alb.  Freiherr  v.  Schrenck  v.  Notzing.    Tunis  un<l 

seine  Umgebung.    Ethnogi-aphische  Skizzen.    Leipzig,  Wilh.  Friedrich. 
1888.    8.    253  S. 

Die  vorliegende  Schrift  ist  eine  ganz  anschauliche  und  unterrichtende  Reisebeschreibung, 
aber  sit»  trägt  nicht  ganz  mit  Hecht  den  Zusatz  ..Ethnographische  Skizzen".  Natürlich 
ist  darin  auch  Ton  den  Eingebomen  die  Rede,  aber  sowohl  die  physische  Beschreibung 
derselben,  als  die  Schilderung  ihres  Lebens  und  ihrer  V()lksthümlichen  Besonderheiten 
erhebt  sich  nirgend  über  die  Eindrücke  des  Touristen.  Nur  in  den  eingestreuten  medi- 
cinischen,  botanischen  und  zoologischen  Angaben  zeigt  sich  eine  speciellere  Schulung 
der  Beobachter.  Nichtsdestoweniger  wird  das  Buch  für  gewöhnliche  Reisende  ein 
erwünschtes  Hülfsmittel  der  Orientirung  sein.  Es  liest  sich  leicht  und  bietet  eine  üeber- 
sicht  des  Erlebten  in  guter  Anordnung.  Rcd.  Virchow. 


VIII. 

Die  rossgestaltigen  Hirtfmelsärzte  bei  Indern  und 

Griechen. 

Von 
Direktor  W.  SOHWARTZ  in  Berlin. 


In  den  Sagen  aller  Völker  spielen  die  Thiere  eine  grosse  Rolle. 
Ihre  verschiedenen  Eigenschaften  und  Beziehungen  zu  den  Menschen 
schienen  ihnen  einen  bestimmten  Charakter  zu  verleihen,  demgemäss  dann 
die  Phantasie  ihr  Spiel  mit  ihnen  trieb.  Die  Thiersage  ist  uralt  und  Ober 
den  ganzen  Erdkreis  verbreitet,  dürftiger,  wo  die  vorhandene  Thierwelt 
weniger  geeignete  Exemplare  dazu  bot,  reicher,  wo  eine  grössere  Fülle 
derartiger  vorhanden.  Diese  Sagen  haben  etwas  internationales,  nur  dass 
bei  Uebertragungen  von  einem  Volke  zum  anderen  die  Species  oft  wech- 
selt, statt  des  Fuchses  z.  B.  der  Schakal  eintritt  u.  dergl.  m. 

Unterschieden  hiervon,  wenn  auch  gelegentliche  Uebergänge  sich  finden, 
sind  die  mythischen  Thiere,  bezw.  thierartige  mythische  Wesen.  Diese 
hängen  mit  Natur-  und  namentlich  Himmelsanschauungen  zusammen,  die 
sich  zu  ganzen  Bildern  entfalteten,  aus  welchen  sich  dann  die  sogenannten 
Naturmythen  entwickelten,  und  sie  stehen  parallel  und  in  den  mannich- 
fachsten  Bezie|)iungen  zu  den  anderen  überirdischen  Wesen,  die  der 
(Haube  in  jenen  Bildern  zu  erblicken  wähnte.  Namentlich  ist  die  indo- 
germanische Mythologie,  insofern  sie  sich  der  phantasievollen  Auffassung 
der  Hiramelserscheinungen  anschloss.  reich  an  solchen  Gestaltungen,  und 
besonders  charakteristisch  haben  sich  hier  auch  die  verschiedenartigsten 
Mischgestalten  von  Thier  und  Mensch  entwickelt.  Besonders  sind  es 
die  an  die  heulenden  Stürme,  die  fliegenden  Wolken,  die  sich 
schlängelnden  Blitze,  sowie  die  brüllenden  oder  hallenden  Donner 
sich  anschliessenden  Bilder,  die  dabei  zur  Sprache  kommen,  indem  sie 
Wölfe,  zauberhafte  Vogel,  Schlangen,  Stiere  und  Rosse,  —  tonantes 
equi,  wie  sie  lloRAZ  u.  A.  nennen,  —  in  die  Mythologie  in  den  mannich- 
fachsten  Bezieliungen  einführten,  wie  ich  solche  im  „Ursprung  der  Mytho- 
logie** des  Eingehenderen  in  d<»n  Localsagen  der  betreffenden  Volker, 
d.  h.  in  ihrer  niederen  Mythologie,  V(TfoIgt  habe. 

In  allen  möglichen  Situationen  erschienen  dort  oben  am  Himmel  diese 
thierartigen  Wesen,    zumal    bald    in    gewaltiger  Conception  das  Bild  ein- 

Z«itochrift  für  Bthnolofie.    Jahrg.  1888.  IG 


212  Karl  Friedrichs: 

Beweisversuch  dennoch  einer  ausführlichen  Widerlegung  um  der  Folgen 
willen,  die  er  gehabt  hat.  Nehmlich  ERMAN*)  hat  in  einer  ganz  ähnlichen 
Beweisführung  auch  die  Aegypter  zu  den  matriarchalen  Völkern  rechnen 
wollen;  und  es  ist  zu  befürchten,  dass  auch  andere  Forscher,  welche  die 
Entwickelung  der  Familie  nicht  zu  ihrem  besonderen  Studium  gemacht 
haben,  dieses  Beispiel  nachahmen  und  so  die  Lehre  vom  Matriarchat  über- 
haupt in  Misskredit  bringen-). 

Wir  wollen  daher  nicht  weiter  ausführen,  dass  es  nicht  sehr  poetisch 
wäre,  in  einem  volksthümlichen  Heldengedichte  rechtsvergleichende  An- 
spielungen zu  machen,  noch  dass  diese  Anspielungen  von  den  Griechen, 
welche  erst  durch  Herodot  von  den  Familienverhältnissen  der  Lyker  Kunde 
bekommen  haben,  gar  nicht  verstanden  werden  konnten,  sondern  luis 
darauf  beschränken,  darzuthun,  dass  auch  HOMER  die  Lyker  für  ein 
patriarchalisches  Volk  gehalten  hat. 

Sarpedon  ist  ein  Sohn  der  Laodameia  und  «les  Zeus,  also  nicht  im 
Hause  seines  Vaters,  sondern  in  dem  seines  mütterlichen  Grossvaters 
geboren  worden.  Seine  Stellung  ist  daher  nach  der  Stellung  der  unehe- 
lichen Kinder  im  älteren  Patriarchat  zu  beurtheilen  ^). 

Robertson  Smith  ^ )  macht  bereits  darauf  aufmerksam,  dass  das  Vor- 
langen  der  Treue  von  Seiten  der  Ehefrau  in  der  Geschichte  des  Patriarchats 
älter  ist,  als  das  der  Keuschheit  von  Seiten  der  Unverehelichten.  Dieser 
Satz  ist  durch  vielfache  Beispiele  belegt  und  an  sich  fast  selbstverständlich, 
bedarf  daher  keiner  weiteren  Ausführung.  Wir  sind  daher  nicht  genöthigt, 
dem  Sarpedon  aus  seiner  unehelichen  Geburt  einen  Vorwurf  zu  machen, 
umsoweniger,  als  im  HOMER  kein  Beispiel  vorkommt,  dass  Uneheliche 
verachtet  wären,  vielmehr  die  Götterkinder  überall  mit  dem  höchsten  An- 
sehen bekleidet  werden. 

Die  familienrechtliche  Stellung  der  Unehelichen  im  älteren  Patriarchat 
ist  aber  folgende: 

Es  ist  für  die  geschlossen -einseitige  Familie'')  wesentlich,  dass  der 
Vortheil,    den   der  Stamm  und  das  Haus  von  dem  Zuwachs  einer  Arbeits- 


1)  Ermam,  Aegypten  und  ägyptisches  Leben  im  Altertliuni.  Tubingen,  s.  a.  Bd.  1.  S.  2*24. 

2)  Schon  jetzt  hört  man  in  den  Vorlesungen  von  Revillout  und  seinem  Schüler 
Paturet  an  der  Ecole  du  Louvre  in  Paris  heftige  Ausfälle  gegen  die  Lehre  vom  Matri- 
archat, die  „von  der  deutschen  und  englischen  Schule  aufgestellt,  aber  keineswegs  bewiesen 
sei**,  und  das  zweifellos  nur  wegen  des  einen  ERMAN'sehen  Satzes. 

3)  In  Kleist's  Erzählung  «Der  Findling-,  Mever's  Volksbücher  Nr.  73/74,  S.  93,  wird 
der  Findling  als  „Gottes  Sohn-  bezeichnet,  und  ähnliche  Bedeutimg  hat  auch  der  Passus 
in  der  Marquise  von  0.  (S.  25  desselben  Heftes) :  „das  junge  Wesen,  dessen  Ursprung,  eben 
weil  er  geheimnissvoller  war,  auch  göttlicher  zu  sein  schien.** 

4)  Smith,  Kinship  and  marriage  in  early  Arabia.    Cambridge  1885.    p.  14L 

5)  Das  Wort  „einseitige  Familie**  möge  dienen  als  zusammenfassender  Name  für  Ma- 
triarchat und  Patriarchat,  im  Gegensatz  zu  der  vormatriarchalen,  losen,  und  zu  der  nach- 
j>atriarchalen,  gelockerten,  zweiseitigen  Familie. 


Zur  Matriarchatfifrajje.  213 

und  Vertheidigiingskraft  gowinnt,  grösser  ist,  als  die  Last,  die  durch  die 
Äufziehung  eines  Kindes  verursacht  wird  '). 

Wir  können  daher  sclion  a  priori  annehmen,  dass  der  Hausvater  die 
Kinder,  weicht»  ihm  seine  unverheirathete  Tocht(T  gebiert,  mit  Freude  auf- 
nehmen und  ihneli  dieselben  Rechte  und  Pflichten  zuweisen  wird,  wi«»  den 
Kindeni  seiner  Gattin  un<l  s<»iner  Schwiegertochter.  Di<»8e  Vermuthung 
wird  zur  Gewissheit,  wenn  wir  sehen,  dass  wenigstens  bei  einem  Volke 
ein  derartiges  Verfahren  bezeugt  ist,  und  dass  sich  bei  mehreren,  besonders 
arischen  Völkern  SpunMi  finden,  welche  auf  frfduTes  Vorkommen  dieser 
Sitte  hinweisen.  So  lesen  wir  von  d(Mn  hamitischen  Volke  d(T  Afar,  dass, 
wenn  ein  Madchen,  ohne  verheirathet  oder  prostituirt  zu  sein,  mit  einem 
Kinde  nie<lerkommt,  und  Keiner  darauf  Anspruch  hat,  der  Grossvater  das- 
selbe mit  d<T  grössten  Freude  ado])tirt  und  es  Yelli-Bato  (Gott  hat  es 
gf^geben)  benennt*-). 

Bei  den  Hindu  erw^irbt  nicht  Jeder,  aber  der  sohnlose  Grossvater 
niciit  nur  die  vaterliche  Gewalt  über  den  ersten  Sohn  <ler  verheiratheten 
Tochter,  sondeni  er  kann  seine  Tochter  auch  l)eauftragen,  sich  ausser- 
ehelich  für  ihn  einen  Sohn  von  einem  Dritten  erzeugen  zu  lassen  (putrikä 
putni  und  kanina)^). 

Auch  bei  den  alten  Eraniern  hjitte  der  sohnlose  Mann  Anspruch  auf 
den  ältesten  Tochtersohn*),  und  so  finden  wir  bei  JüSTI*)  den  Satz:  „weil 
Astyages,  wenn  er  keine  männlichen  Erben  hatte,  den  Thron  naturgemäss 
dem  Sohne  seiner  Tochter  hinterlassen  musste." 

Auch  bei  den  Athenern  findet  sich  «las  Recht  des  Grossvaters  an  dem 
Tochtersohnc •),  ebenso  bei  den  Chinesen')  und  vielleicht  bei  den  Juden  *). 

1)  Dieser  Satz  ist  io  dieser  AUgemeingültigkeit  noch  nicht  aufgestreut  und  bewiesen 
worden.  Hellwald,  Die  menschliche  Familie.  Leipzig  1888.  8.9;  Haberland  bei 
Ploss,  Das  Kind  in  Brauch  und  Sitte  der  Völker.  Berlin  1882.  2.  S.  244;  Plffen- 
DORF,  De  jure  naturae  ac  gentium.  Lund  1672.  (5.  1,  3,  und  Buddel'8  in  Eksch  und 
Grcber's  Allgemeiner  Encjrclopädie.  Leipzig  1838.  Sect.  I.  Bd.  31.  S.  281>,  scheinen  etwas 
Derartiges  überhaupt  ableugnen  zu  wollen.  Zur  Unterstützung  der  vorgetragenen  Ansicht 
Tergleiche  jedoch  die  sehr  guten  Ausführungen  bei  MiniAELis,  Mosaisches  Recht.  Frank- 
furt 1775  —  1803.  1.  S.  197,  2.  S.  100:  Kremer,  Kulturgeschichte  des  Orients  unter  den 
Chalifen.  Wien  1876.  2.  S.  112 f.  Es  steht  ausserdem  fest,  dass  alle  wirklich  patriarchalen 
und  matriarchalen  Völker  den  Kinderreichthum  für  einen  wahren  Segen  halten,  sei  es,  dass 
sie,  wie  die  Bondo  bei  Floss'  Kind,  2.  S.  39.5,  die  von  den  Kindern  gebrachten  materiellen 
Vortheile  offen  anerkennen,  sei  es,  dass,  wie  bei  den  Hindu,  die  FIrfüllung  religiöser 
Pflichten  nach  dem  Tode  zum  Vorwande  genommen  wird.  Bastian,  V.  O.  A.  6.  S.  172 
Note*);  Hearn,  Aryan  household.  London  und  M*»Ibourne  1879.  ]>.  71  und  oft;  Doblhoff, 
Von  den  Pyramiden  zum  Niagara.    Wien  18^1.    S.  179. 

2)  Bastian,  V.  0.  A.   6.  S.  475  Not«  *). 

8)   Kohler,  in  der  Zeitschr.  für  vergl.  Rechtswiss.   3.  S.  3%,  402:  Bachofen,  S.  201 A. 

4)  BuDDEUß,  in  Ersch  imd  (ikuber's  Allgemeine  F^ncjclopfidie.     1.  31.  S.  B86B. 

6  JuSTi,  Geschichte  des  alten  Persiens ;  in  Oncken,  Allgemeine  Geschichte  in  EinxeU 
dATstellungen.    Berlin  1879  ff.    S.  16. 

6)  Hearn,  A.  H.  p.  104. 

7)  Hart  in  Morgan,  The  sjstems  of  consangninity  and  affinity  in  the  human  family. 
W^ashington  1871.    p.  424. 

5)  MiOMABLiSy  M.fi.    2.  8.  7a 


214  Karl  Friedrichs: 

Was  nun  in  nachweisbarer  Zeit  für  den  sohnlosen  Hausvater  gegolten 
hat,  wird  früher  zweifellos  in  jedem  Falle  gültig  gewesen  sein. 

Wir  gehen  also  wohl  nicht  aus  der  gebotenen  Vorsicht  hinaus,  wenn 
wir  für  das  Homerische  Zeitalter  als  Regel  annehmen:  den  unehelichen 
Kindern  haftet  durch  ihre  Geburt  an  sich  ein  Makel  nicht  an.  Sie  stehen 
gegenüber  dem  Vater  ihrer  Muttor,  in  dessen  Hause  sie  geboren  sind,  gleich 
mit  den  anderen,  in  demselben  Hause  von  freien  Frauen  geborenen  Kin- 
dern, also  mit  den  Söhnen  und  Sohnessöhnen  des  Hausvaters. 

Somit  wird  die  Stellung  Sarpedon's  im  Hause  seines  Muttervaters 
leicht  erklärlich,  und  den  Umstand,  dass  gerade  diesem  die  Oberleitung 
des  Heeres  anvertraut  wird,  können  wir  auf  die  einfachste  Weise  durch 
die  Ahnahme  erklären,  dass  er  älter,  erfahrener,  begabter  gewesen  ist, 
als  der  treuherzige,  jugendlich -leichtsinnige  Glaukos,  der  Sohn  des  Hippo- 
lochos. 

Dass  aber  eine  andere,  matriarchale  Erklärung  des  vorliegenden  Ver- 
hältnisses nicht  zulässig  ist,  ersehen  wir  aus  folgenden  Erwägungen: 

Mag  man  über  das  Matriarchat  im  Einzelnen  denken,  wie  man  will, 
so  ist  es  doch  für  diese  Familienrechtsstufe  begriflFswesentlich,  dass  recht- 
liche Beziehungen  zwischtm  dem  Erzeuger  und  dem  Erzeugten  nicht  an- 
erkannt werden,  und  dass  alle  Familienerinnerungen,  Stammbäume,  reli- 
giösen Familiengemeinschaften  nur  auf  der  weiblichen  Seite  fortgepflanzt 
werden.  Ein  König,  wie  ein  Gemeiner  mag  eine  Frau  in  sein  Haus 
nehmen,  er  mag  mit  ihr  Kinder  erzeugen  und  dieselben  grossziehen,  er 
mag  sie  sogar,  obwohl  Fremde,  als  seine  Vertreter  mit  dem  Heere  ins 
Feld  schicken,  aber  es  ist  im  Allgemeinen  nicht  möglich  und  widerspricht 
im  Besonderen  den  Herodoteischen  Angaben  über  die  Lyker,  dass  der 
nach  seiner  Familie  gefragte  Glaukos  nur  seine  agnatischen  Verwandten 
aufzählen,  die  uterinen  aber  gänzlich  übergehen  sollte.  Das  ist  nicht  nur 
unmatriarchalisch,    das    gehört  sogar  einem  sehr  schrofifen  Patriarchate  an. 

Wir  setzen  also  als  zweites  Ergebniss  unserer  Untersuchung  fest: 
Homer  kennt  nicht  das  lykische  Matriarchat,  er  schildert  auch  hier  die 
ihm  selbst  bekannten  altpatriarchalischen  Zustände. 

Nun  hält  freilich  MAC  LennaN,  durch  eine  Entgegnung  GLADSTONE's 
gereizt,  das  ganze  heroische  Griechenland  für  matriarchal  ^).  Der  Aufsatz, 
in  welchem  dieser  Satz  bewiesen  werden  soll,  ist  einer  der  verunglücktesten, 
die  je  geschrieben  sind.  Eine  Widerl(?gung  im  Einzelnen  ist  weder  noth- 
wendig  noch  zweckmässig;  wir  weisen  nur  hin  auf  das  in  allen  Königs- 
häusern übliche  patriarchale  Thronfolgerecht,  auf  die  Raubehe  [Helena-), 
Danaiden'),  lo*)]  und  auf  die  Patriarchalität  aller  heroischen  Stammbäume. 


1)  Mac  Lennan,  Kinship   in   ancient  Greece,   der   zweite  Aufsatz  in  den  Studies  in 
ancient  history. 

2)  Dazu  auch  Lübbock,   E.  d.  C.    S.  97,  451—453. 
8)  Baohofen,  8.  98  A,  94  A. 


Zur  Matriarchatsfra^o.  215 

Zum  Schlu88  iio<*h  oino  Bomerkunj;  üIxt  das  ^Matriarchat"  hei  den 
alt<»ii  Aofi:y|)teni.  Wor  das  Matriarchat  für  eiiu»  nothwondigo  Vordtufo 
des  Patriarchats  hält,  wird  auch  uicht  bezweifehi,  dass  in  Aogypten  zu 
irgend  einer  altcMi  Zeit  einmal  das  Matriarchat  «j^ehc^rrscht  hal)e.  Bezweifelt 
soll  hier  aber  werden,  dass  das  Matriarchat  zu  der  von  EräIAN's  Buche 
umfassten  Zeit  noch  bestanden  habe.  Vielmehr  trägt  das  ägyptische 
Familienleben  in  nachweisbarer  Zeit  einen  allgemein  patriarchalen  Charakter. 
Im  Besonderen  weist  di<»  Entwicklung  der  industriellen  Arbeitstheilung 
un<l  mit  ihr  des  Obligationenrechts,  die  angesehene  Stellung  der  Frauen, 
die  liliederung  des  Volk<»s  nach  Provinz  und  Stadt,  nicht  nach  Stämmen 
und  Familien,  auf  das  spätere  Patriarchat,  im  Uebergange  zu  der  modernen, 
zweiseitigen  Familie'). 

Nun  findet  ERMAN  auf  den  Todtenstelen  der  späteren  Zeit  als  herr- 
schenden Gebrauch,  die  Herkunft  des  Todten  nach  seiner  Mutter  anzu- 
geben, „nicht  wie  es  uns  natürlich  scheint,  nach  dem  Vater"  2).  Als  zweiter 
Grund  des  vermeintlichen  Matriarchats  gilt  das  Erbrocht  der  Töchter,  bezw. 
Töcht(»r8öhne  ^)  gegenüber  dem  Vater. 

Der  erste  Grun<l  würde,  wenn  gar  nichts  Anderes  von  dem  Volke 
bekannt  wäre,  entschieden  für  ein  Matriarchats -Kenn zeichen  gehalten  werden. 
Aber  schon  der  Umstand,  dass  diese  Art  von  Metronymie  nur  in  der  spä- 
teren Zeit  vorkommt,  zwingt  uns,  eine  andere  Ursache  dafür  zu  suchen, 
da  wir  nie  davon  gehört  haben,  dass  das  Patriarchat  sich  in  allmählichem 
Uebergange  in  Matriarchat  verwandelt  hätte*).  Erklärt  und  erklärbar  ist 
diese  Metronymie  aus  Höflichkeit  noch  nicht,  es  möge  nur  erwähnt  werden, 
dass  eine  gleiche  Erscheinung  bei  dem  entschieden  patriarchalischen  Volke 
der  Kanori  (Bomu-Neger)  vorkommt'). 

Der  zweite  Grund  dient  aber  entschieden  als  Beweis  für  das  Patri- 
archat. Erbrecht  zwischen  Vater  und  Tochter  besteht  im  Matriarchate 
nicht,  da  ein  solches  dem  Grundcharakter  desselben,  Nichtanerkennung 
des  Verhältnisses  zwischen  dem  Erzeuger  und  dem  Erzeugten,  wider- 
sprechen würde. 

Aber   nicht    einmal  für  die  hohe  Stellung  der  Frauen  giebt  das  Erb- 


1)  An  dein  Unterschiede  zwischen  dem  Patriarchat  und  der  modernen  Familie  ist 
festzuhalten,  trotz  der  entgegengesetzten  Behauptung  bei  Tylor.  Einleitung  in  das  Stu- 
dium der  Anthropologie  und  Civilisation.  Deutsch  von  ü.  Siebert.  Braunschweig  1883. 
S.  485,  und  trotzdem  bei  den  meisten  ein  solcher  Unterschied  nicht  aufgestellt  ist.  Frei- 
lich ist  der  Uebergan«?  zwischen  beiden  durchaus  allmählich,  und  eine  scharfe  Scheide- 
linie nicht  zu  ziehen.    Vergl.  auch  Hear^,  64.;    Bastian,  V.  O.  A     G.  S.  87  Note*). 

2)  Erman,  Aegypten.     1.  S.  224. 
8)   Erman.    Cap.  8. 

4)  In  Starcke,  «Die  primitive  Familie".  Leipzig  1888,  wird  jetzt  ein  solcher  Ueber- 
gang  behauptet.    Die  Beweise  sind  aber  nicht  überzeugend. 

6)  Barth,  Reisen  und  Entdeckungen  in  Nord-  und  Centralafrika.  Gotha  1857/68. 
2.  Sw  297. 


216  Karl  Friedrichs:   Zur  Matriarchatsfrage. 

recht  der  Töchter  einen  sonderlichen  Beweis.  Dass  etwa  die  Töchter  den 
Söhnen  vorgezogen  würden,  sagt  ERMAN  nirgends,  und  es  scheint  beinahe, 
als  wenn  sich  das  Erbrecht  der  Töchter  auf  solche  Fälle  beschränkte,  wo 
Söhne  nicht  vorhanden  sind.  Es  ist  nun  wahr,  dass  in  vielen  patri- 
archalischen Rechtsgebieten  die  Töchter  von  der  Erbfolge  ausgeschlossen 
sind,  so  bei  den  Armeniern'),  den  Mirditen'-),  den  ältesten  Römern, 
den  Iren*),  den  Wallisern''),  den  Altslaven'),  den  Dänen*),  den 
Saliern'),  den  Altschleswigern*),  den  vormuslimischen  Arabern*), 
den  Drusen'),  den  Käfirn®). 

Aber  bei  anderen,  gleichfalls  patriarchalen  Völkern  finden  sich  Erb- 
ansprüche der  Töchter  in  Ermangelung  von  Brüdern  und  sogar  neben 
Brüdern.  So  bei  den  Athenern^)  (allerdings  in  der  Form  der  Epi- 
klerenerbschaft),  den  Schweden'®)  seit  dem  13.  Jahrhunderte,  den 
Schleswigern  seit  Svend  Gabelbarf ),  den  Arabern  seit  Muhammad**), 
den  Juden,  sowohl  im  Alterthum  ")  (unter  einer  dem  athenischen  Epi- 
klerenrechte  durchaus  verwandten  Modification),  als  auch  heute**),  den 
Ovambo  (Bantu)'*),  dön  Ilijat  (Eranischen  Türken)'«).  Die  letzt- 
erwähnten Fälle  gehön^i  dabei  nur  zum  Theil  dem  jüngeren  Patriarchat 
oder  dem  Ueborgange  zur  modernen  Familie  an,  so  dass  sich  das  ägyp- 
tische Erbrecht  der  Töchter  sehr  wohl  selbst  mit  dem  älteren,  strengeren 
Patriarchat  vertragen  würde. 

Wir  glauben  daher  das  Matriarchat  für  die  späteren  Altägypter  ab- 
lehnen zu  dürfen,  während  den  vorhistorischen  Aegyptern  ihr  Anspruch 
auf  Matriarchalität  unverkünmiert  erhalten  bleiben  soll. 


1)  Pr.  nov.  21. 

2)  Uellwald   in  Trewendt's  Wörterbuch  der  Zoologie  u.  s.  w.    Breslau.    5.  S.  429. 

3)  Hbarn,  p.  149,  150. 

4)  Dahlmank,   Geschichte   von   Dänemark,   in  Heeren  und  Ukert,   Geschichte  der 
europäischen  Staaten.     1.  S.  165. 

5)  Stemann,  Geschichte  des  öffentlichen  und  Privatrechts  des  Herzogthums  Schleswig. 
Kopenhagen  1866ff.    1.  S.  38. 

6)  Kremer,  K.  G.    1.  S.  531. 

7)  Hellwald,  in  T.  W.  B.    2.  S.  439. 

8)  Waitz,  Anthropologie  der  Naturvölker.    Leipzig  1859 flf.    2.  S.  390. 

9)  Hearn,  A.  H.  p.  95;    Smith,  Dictionary  of  Greek  and  Roman  antiquities.   Londpn 
1882.    p.  467  B ;  Lysias,  orationes.    26.  12 ;    15.  3. 

10)  Dahlmann.    1.  S  165. 

11)  Stemann,  a.  a.  0. 

12)  Kremer,  a.  a.  0. 

13)  MiOHAELis,  M.  R.    §  78. 

14)  Mendelssohn,  Ritualgesetzc  der  Juden.    4.  Aufl.    Berlin  1799.    1.  1,  §  1,  3. 

15)  Waitz.    2.  S.  418. 

16)  Hellwald,  in  T.W.  B.    4.  S.  271. 


Besprechungen. 


Grimm.  Die  Pharaonen  in  Ostafrika.  Eine  kolonialpolitische  Studie. 
Mit  einigen  Holzschnitten  und  Lichtdruekhildem.  Karlsruhe,  Maeklot. 
(1887.)    8.     184  S. 

Das  kleine  Heft  enthält  eine  Tendenzschrift  im  strengsten  Sinne  <les  Woites.  Aus  der 
ultftgjptischen  Geschichte,  namentlich  ans  der  Geschichte  der  Expeditionen  nach  Punt 
sollen  die  Waffen  geschmiedet  werden,  nm  die  Gegner  und  Zweifler  für  die  deutsche 
Kolonialpolitik  in  Ostafrika  zu  gewinnen.  Ein  sehr  sonderbares  Unternehmen!  Offenbar 
int  der  Verfasser,  der  sich  erst  in  Folge  seiner  entschiedenen  Stellungnahme  für  die 
Kolonialpolitik  auch  mit  alt&gjptischen  Dingen  beschäftigt  hat,  in  die  Materie  nicht  tief 
^^enng  eingedrungen,  um  den  gewaltigen  Unterschied  zu  erkennen,  welcher  zwischen  der 
answärtigen  Politik  der  Pharaonen  und  der  Kolonialpolitik  anderer  Herrscher  und  Völker 
des  Alterthums,  z.  B.  der  Phönicier,  Griechen  und  Römer,  bestand.  Den  Pharaonen 
kam  es  wesentlich  darauf  an.  Beute  zu  gewinnen  und  Reichthümer  heimzubringen,  um  den 
Göttern  durch  glänzende  Opfer  und  den  Priestern  durch  verschwenderische  Geschenke 
zu  gefallen.  Was  Tutmes  II.  und  III.  durch  gewaltige  Kriegszüge  erstrebten,  das  ver- 
suchte ihre  Schwester  und  Mitregentin  Hatasu  oder  Hatschepsu  auf  friedlichem  Wege 
durch  Entsendung  einer  grossen  Flotte  nach  dem  Lande  Punt,  und  sie  erreichte  ihr  Ziel 
in  glänzender  Weise.  Das  beschreibt  der  Verfasser  nach  bekannten  Quellen  sehr  umständ- 
lich, indem  er  zugleich  Lichtdmckbilder  giebt  von  den  Statuen  der  Königin,  welche  sich  im 
lierliner  Museum  befinden,  und  welche  leider  viel  stärker  verletzt  und  daher  auch  viel  um- 
fangreicher restaurirt  worden  sind,  als  der  Verfasser  annimmt.  Dass  aber  jemals  in  Punt 
eine  ägyptische  Kolonie  gegründet  oder  auch  nur  dauernde  Handelsfaktoreien  errichtet  wor- 
den seien,  davon  ist  nichts  bekannt.  Der  ägyptische  Admiral  kolonisirte  im  Weihranchlande 
ebensowenig,  als  der  römische  Ritter,  den  Nero  nach  der  Bemsteinküste  schickte.  Am 
sonderbarsten  ist  es,  dass  der  Verfasser  sich  vorstellt,  das  ägyptische  Volk  sei  durch  dies»* 
Kolonialpolitik  so  sehr  in  Enthusiasmus  versetzt  worden,  dass  es  die  monumentalen  Bilder 
in  Deir-el-Bahri  herstellen  Hess  iß,  5).  ^Die  Skulpturen  am  Tempel  von  Der-el-Bahri  zeigen, 
dass  das  damalige  ägyptische  Volk  die  von  seiner  Fürstin  ausgegangene  friedliche  Kolonie- 
gründnng  in  Ostafrika  für  ein  Ereigniss  von  gleich  hohem  Range  ansah,  wie  die  Kriegs- 
thaten  (von  Ramses  II  und  III.)."  Das  arme  ägyptische  Volk  war  sehr  passiv  bei  den 
ruhmredigen  Monumenten  seiner  Herrscher,  und  diesen  lag  kein  Gedanke  ferner,  als  der, 
sich  Monumente  durch  das  Volk  errichten  zu  lassen.  Nur  der  Herrscher  spricht  in  den 
Inschriften  <1«t  Moimmente:  er,  der  Sohn  des  grossen  Gottes,  lässt  dieselben  errichten, 
er  hat  die  Grossthaten  ausgeführt  und  er  verkündet  sie  dem  Volke.  Obwohl  der  Verfasser 
mit  seinen  etwas  mühselig  errungenen  Lesefrüchten  den  grussten  Theil  seines  Werkes 
füUt,  ohne  dass  im  Grunde  auch  nur  das  Geringste  dadurch  für  seinen  Zweck  gewonnen 
wird,  so  steckt  darin  doch  wenigstens  ein  gewisser  Antheil  von  historischer  Wahrheit. 
Aber  gänzlich  unverdaut  ist  das,  was  den  Schlnss  des  Heftes  bildet,  der  Excurs  in  die 
ägyptische  Prähistorie.  Zunächst  begeistert  sich  der  Verfasser  ganz  überflüssigerweise 
für  den  Gedanken,  da^is  ui  sprünglich  ganz  Africa  von  einem  einzigen  Urstamme  bewohnt 
worden  sei.  Dann  lässt  er  von  Asien  her  in  prähistorischer  Zeit  die  Hamiten  mit  einer 
betooderen  Sprache  eindringen  und  sich  in  Aegypten  zu  höchster  staatlicher  Organbation 
entwickeln.    Daraus   folgert  er  dann,  dass  eine  eingewanderte  Rasse  vortrefflich  sowohl 

Z«iuebrift  für  Ethnologie.    Jahrg.  18SS.  15 


218  Besprechungen. 

in  Aegjpten,  als  in  Ostafrika  überhaupt  (!)  leben  und  fortbestehen  könue,  und  da  Hie  üamiten 
zu  der  kaukasischen  Rasse  gehören  (S.  188),  so  kann  nach  seiner  Meinung  auch  „Aas 
deutsche  Volk  mit  seinen  kolonisatorischen  Plänen  in  Ostafrika  sicher  und  unbeirrt  vor- 
wärts schreiten."  Sollte  der  Verfasser  wirklich  glauben,  dass  ^kaukasische  Rasse*'  und 
^ Arier**  oder  „Indogermanen**  identische  Begriffe  sind?  und  sollte  er  gar  nichts  von  dem 
traurigen  Geschicke  der  armen  Fellachen  gehört  haben,  die  man  neuerlich  zur  Kolonisining 
von  Ostafrika  gewonnen  hatte?  RuD.  Virchow. 


Henry  O'SHEA.  La  maison  basque.  Notes  et  impressions.  Pau,  Leon 
Ribaut,  1887.  gr.  8.  87  p.  avec  22  illustratioiis  liors  texte  et  4  dans 
le  texte  par  F.  Correges. 

Axel  O.  Heikel.  Ethnographische  Forschungen  auf  dem  Gebiete  der 
finnischen  Völkerschaften,  l.  Die  Gebäude  der  Ceremissen,  Mord- 
winen, Esten  und  Finnen.  Helsingfors  1888.  gr.  8.  352  S.  mit 
311  Abbildungen  im  Text.  (Suomalais  -  Ugrilaisen  Seuran  Aikakaus- 
kirja.    IV.) 

Die  beiden  genannten  Werke  behandeln  in  ausfuhrlicher  Weise  das  Haus  mit  seinen 
Anhängen,  wie  es  sich  in  zwei  abgelegenen  Gegenden  Europas  bei  den  Eingebomen  erhalten 
hat.  Aber  so  weit  die  Entfernung  ist  zwischen  den  Basken  und  den  Finnen,  so  gross  ist 
auch  der  Unterschied  in  der  Methode  der  Auffassung  und  Schreibart  zwischen  den  beiden 
Autoren.  Während  Hr.  O'Shea  in  begeisterter  Stimmung,  unter  Heranziehung  eines  grossen, 
alle  Zeitalter  umfassenden  literarischen  Materials,  seiner  Phantasie  in  Beziehung  auf  die 
Vorzeit  und  die  Entwickelungsgeschichte  der  Basken  volle  Freiheit  lässt,  so  dass  es 
oinigemiaasseu  schwerfällt,  ans  der  Fülle  der  episodisch  an  einander  gereihten  Gedanken 
das  thatsächliche  Bild  des  baskischen  Hauses  herauszuschälen,  häuft  Hr.  Heikel  in  gr6sster 
Sorgfalt,  aber  in  fast  zu  nüchterner  Genauigkeit  eine  grosse  Anzahl  detaillirter  Schilde- 
rungen, welche  die  Hausbauten  der  finnischen  StÄmme  von  der  Wolga  und  dem  Ural  bis 
zum  botnischen  Meerbusen  umfassen.  Sonderbarerweise  nimmt  der  erste  Autor  (p.  44,  Note) 
den  Wunsch  des  Prinzen  Lucien  Bonaparte  auf,  der  die  Meinung  ausdrückte,  man 
müsse  „bei  den  uralischen  Völkern,  von  denen  mehrere  in  Scandinavien  wohnten,  sich 
über  Alles,  was  das  liaskische  Haus  betrifft,  unterrichten"  (il  faudrait  chercher  a  s'informer 
de  tout  ce  qui  tient  aiu  maisons  basques),  und  siehe  da,  Hr.  Heikel  erfüllt  in  demselben 
An;;enblicke  diesen  Wunsch,  aber,  wir  fürchten,  nicht  zur  vollen  Zufriedenheit  der  beiden 
französischen  Gelehrten.  Dem  Ref.  war  es  wenigstens  nicht  möglich,  in  seiner  Schrift 
irgend  einen  Zusammenhang  zwischen  dem  finnischen  und  dem  baskischen  Hause  zu  ent- 
decken. 

Hr.  O'Shea  hält  die  Basken  für  Turanier,  und  von  diesem  Vordersatze  aus  hält  er 
sich  auch  für  berechtigt,  die  ganze  Religions-  und  Sagengeschichte  der  Turanier,  zu  denen 
er  auch  die  Aegypter  und  die  Bewohner  der  untergegangenen  Atlantis  zählt,  für  die  Basken 
in  Anspruch  zu  nehmen.  Man  kann  nach  seinen  Ausführungen  kaum  bestreiten,  dass  das 
Haus  bei  den  Basken  noch  bis  in  ganz  späte  Zeiten  hinein  in  besonders  ausgeprägter 
Weise  mit  einem  religiösen  Charakter  bekleidet  gewesen  sein  muss,  aber  es  dürfte  wohl 
übertrieben  sein,  wenn  der  Verf.  annimmt,  dass  dieser  Charakter  auf  einem  streng 
j^epflogten  Ahnencultus  beruht  hat  und  dass  dieser  Cultus  durch  die  Sitte,  die  Todten  im 
Hause  selbst  zu  begraben,  lebendig  erhalten  sei.  Ueber  dem  Grabe  habe  sich  der  Heerd 
mit  dem  stets  brennenden  Feuer  befunden,  also  ein  Altar,  und  somit  sei  die  Heerdst«lle 
als  der  Hauptplatz  des  Hauses  anzusehen.  C'est  la  cuisine,  la  belle  et  vaste  cuisine 
basque,  qui  est  la  piece  principale  de  la  maison.  La  cuisine?  Oh!  ne  la  dedaignez  pas 
Derriere  ces  voiles  ^pais  de  pierre  et  de  mortier,  se  cachait  jadis,  dans  ce  pays,  un  antel 
sacre,  aui  augustes  mysteres,  et  aujourd^hui  un  autel  non  moins  sacre  s'y  61eve,  le  foyer 
domestique  qui,  depuis  vingt  siecles,  porte  la  sociöt^  basque,  la  plus  forte  et  la  plus 
saintement   constitu6e   qui  ait  6tc  ici-bas  (p.  15;.    Dem    entsprechend   construirt   er   das 


Besprechungen.  219 

Iiriiiiitivc  baskische  Haus  aus  8  Theilen  (p.  48,  Fig.  3):  einer  Yollkonimen  geschlossenen,  ur- 
sprünglich in  Form  eines  heinisphurischen  Thurmes  errichteten  Cella  oder  Absis  mit  dem 
Heerde :  einem  l&nglichen  Schiff  mit  offenem  Hofe  (eskaratza)  und  an  den  Seiten  mit  Woh- 
nungen ffir  die  Familie,  und  endlich  einer  Vorhalle,  wo  sich  die  Fremden  und  Oäste  auf- 
hielten, denen  es  streng  verboten  war,  das  Innere  des  Hauses  zu  betreten.  Recht  an- 
schauliche Zeichnungen  des  Hm.  Correges  veranschaulichen  sowohl  das  st&dtische,  als 
das  Iftndliche  Haus  der  Basken,  welches  letztere,  beiläufig  gesagt,  in  mehrfacher  Beziehung 
an  unser  alemannisches  oder  Alpenhaus  erinnert. 

Eine  gänzlich  verschiedene  Anschauung,  im  Ganzen  und  im  Einzelnen,  gewährt  das 
von  Hrn.  Heikel  so  genau  geschilderte  Haus  der  Tscheremissen,  Mordwinen,  Esten  und 
Finnen.  Hier  tritt  nicht  die  mindeste  Beziehung  auf  ein  Grab  oder  auf  einen  Ahnen- 
coltus,  nicht  einmal  auf  die  Religion  überhaupt  hervor.  Das  primitive  Haus  der  Wolga- 
Finnen  ist  der  nat&rliche  Ausdruck  des  einfachsten  Bedürfnisses,  Schutz  und  Sicherheit 
für  Menschen  und  Hausthiere  zu  gewinnen.  Die  ..Stangenriege"  der  Mordwinen  und 
Tschuwassen  basirt  freilich  auch  auf  einem  Erdloche  mit  einem  Feuerheerde,  über  welchem 
sich  ein  kegelfönuiger  Aufliau  aus  Holzstangen  erhebt  (S.  2,  Fig.  1),  aber  das  Erdloch 
ist  nur  die  Winterwohnung  der  heute.  Erst  indem  sich  der  Heerd  mehr  entwickelt  und 
zu  einem  Ofen  wird,  der  Oberbau  sich  nach  und  nach  zu  einem  Gebäude  entfaltet,  nimmt 
das  Ganze  allmählich  den  Habitus  einer  Wohnung  in  unserem  Sinne  an.  Freilich  betrachtet 
auch  Hr.  Heikel  (S.  XXVIII)  „die  Feuerstätte  ihrer  Lage  und  ihrer  Form  nach  als  den 
besten  Ausgangspunkt,  die  verschiedenen,  mit  Feuerstätten  versehenen  Wohnungen  und 
Häuser  seines  Forschungsgebietes  zu  gruppireu  und  zu  charakterisiren*" :  er  findet  „ein 
System  der  Bauformen,  welche  alle  in  der  Feuerstätte  ihre  Nota  characteristica  haben". 
Zu  demselben  Ergebniss  ist  auch  der  lief,  bei  seinen  Studien  über  das  altdeut«che  Haus 
gekommen.  Wenn  jedoch  Hr.  Heikel  in  gewissen  estnischen  Bauformen  eine  Erinnerung 
an  das  sächsische  Haus  erblickt  (S.  18o).  so  mag  diess  zugestanden  werden  in  Bezug  auf 
das  äussere  Aussehen,  aber  es  kann  nicht  wohl  zugestanden  werden  in  Bezug  auf  den 
Gnindplan  der  inneren  Einrichtung.  Was  bei  dem  estnischen  Hause  in  seiner  primitivsten 
Gestalt,  wo  es  nur  auf  Stube  (kota)  und  Tenne  reducirt  ist,  neben  einander  liegt,  das  ist 
in  dem  altsächsischeu  Hause  hinter  einander  gestellt:  zuerst  die  Deel,  dann  das  Flet. 
Daraus  folgt  für  die  weitere  Entwickelung  des  Hauses  ein  vollständiger  Gegensatz,  der 
sich  leicht  begreift,  wenn  man  die  ganz  verschiedenen  Bedürfnisse  der  betreffenden  Völker 
gegen  einander  stellt.  Das  sächsische  Haus  nimmt  eben  die  gesammte  Wirthschaft,  ein- 
schliesslich der  Viehställe  imd  der  Vorrathsräume,  ih  sich  auf,  so  dass  die  Wohnung 
immer  nur  einen  kleinen  Theil  des  Hauses  ausmacht:  bei  den  Finnen  wird  das 
Hans,  je  grösser  es  anwächst,  immer  mehr  Wohnhaus  und  die  Wirthschaftsräume  werden 
in  besonderen  Nebengebäuden  untergebracht.  Es  mag  sein,  dass  die,  mit  den  deutschen 
Ordensrittern  gerade  aus  Niedersachsen  und  Westfalen  heranziehende  Einwanderung  manche 
Eigenthfimlichkeit  der  Heimath  auch  in  den  Ostseeprovinzen  eingeführt  hat,  aber  sie  ist 
nicht  stark  genug  gewesen,  auf  dem  Lande  durchgreifende  Aendenmgen  der  Gewohnheiten 
zu  erzeugen.  Die  eingehenden  Schilderungen  des  Verf.  sind  daher  höchst  dankenswerthe 
Vermehrungen  unserer  Kenntniss  von  der  Art  des  häuslichen  Lebens  der  finnischen  Stämme, 
aber  sie  lehren  auch,  wie  unter  ganz  anderen  wirthschaftlichen  Verhältnissen  sich  eine 
eigenartige  Methode  des  Bauens  und  des  Wohnens  ausgebildet  hat.  Vielleicht  am  meisten 
berühren  sich  gewisse  Nebeneinrichtungen,  z.  B.  die  gesonderten  Speicher,  auf  deren  Vor- 
handensein in  der  Schweiz  Ref.  wiederholt  hingewiesen  hat.  Auch  zeigt  sich  unverkenn- 
bar, wie  der  ausschliessliche  Holzbau  gewisse  Aehnlichkeiten  in  der  Construktion  mit  sich 
bringt,  die  gewi^  auf  keine  unmittelbare  Beeinflussung  der  einen  Nation  durch  die  andere 
hinweisen.  —  Zu  besonderem  Danke  sind  wir  übrigens  dem  Verf.  verpflichtet,  dass  er 
seine  Arbeit  in  deutscher  Sprache  veröffentlicht  hat.  Man  merkt  es  ihm  an,  dass  unsere 
Sprache  ihm  gewisse  Schwierigkeiten  bereitet;  hier  und  da  wird  seine  Darstellung  dadurch 
etwas  undeutlich.  Trotzdem  wird  er  gewiss  auf  dankbare  Leser  und  auf  gebührende  Auf- 
merksamkeit bei  uns  rechnen  dürfen.  Die  Fülle  vortrefflicher  Abbildungen  und  genauer 
Grundrisse  gewährt  eine  Belehrung,  wie  wir  sie  aus  recht  vielen  Ländern  wünschen  müssen. 

Ri:d.  Virchow. 


220  BespreebuDgen. 

China.  Imperial  maritime  customs.  11.  Special  Series  No.  2.  Medicsl 
Reports  for  the  half-year  ended  30th  Sept.  1886.  32nd  Issue.  Shanghai 
1886.  —  The  same  for  the  half-year  ended  31  th  Mareh  1887.  33nd 
Issue.     Shanghai  1887.     4. 

Die  beiden  Hefte  sind  eine  Fortsetzung  früherer  Berichte  (vergl.  Zeitscbr.  f.  Etbnol.  1887. 
S.  48) ,  aber  sie  haben  einen  ungleich  reicheren  Inhalt,  der,  obwohl  speciell  medicinischer 
Art,  doch  wegen  der  mannichfachen  üebersichten  über  die  Geographie  der  Krankheiten 
in  verschiedenen  Plätzen  von  China  auch  den  Reisenden  nahe  angeht.  Von  besonderem 
wissenschaftlichem  Werthe  ist  in  dem  32.  Berichte  eine  Abhandlung  des  Mr.  Myers, 
Surgeon  to  the  .»David  Manson  Memorial*  Hospital,  über  die  Lebensgeschichte  der  Filaria 
sanguinis  hominis  und  ihr  Nichtvorkommen  in  Süd-Formosa  oder  eigentlich  in  Formosa 
überhaupt,  welches  um  so  auffallender  ist,  als  in  dem  nahe  gelegenen  Amoy  dieser  Parasit 
sehr  häufig  gefunden  wird  und  zahlreiche  Berührungen  mit  diesem  Hafenplatz  stattfinden. 
Mr.  Myers  sucht  den  Grund  davon  in  dem  Umstände,  dass  diejenige  Art  von  Mosquitos, 
welche  Dr.  Manson  in  Amoy  als  Träger  der  Embryonen  der  Filaria  nachgewiesen  hat, 
in  Formosa  nicht  vorkommt.  Der  Verf.  giebt  eine  mit  Abbildungen  erläuterte  Beschreibung 
von  3  verschiedenen  Arten  von  Mosquitos,  welche  in  Fonnosa  leben,  und  zeigt  ihre  Unter- 
schiede von  den  Amoy- Mosquitos,  welche  die  Filaria  aufnehmen  und  übertragen.  Seine 
weiteren  Ausführungen,  welche  hauptsächlich  die  Lebensbedingungen  der  Filaria  im  mensch- 
lichen Körper,  speciell  die  Sauerstoflfzufuhr  und  die  Temperatur,  betreffen,  sind  mehr  theo- 
retischer Natur;  er  bringt  damit  den  Umstand  in  Zusammenhang,  dass  die  Neigung  der 
Parasiten,  während  der  Nacht  auszuschwärmen,  sowohl  durch  künstliche  Umkehr  von  Nacht 
und  Tag,  als  auch  durch  die  natürliche  Verschiebung  der  Tages-  und  Nachtzeiten  auf 
längeren  Reisen  geändert  wird.  Im  Anschluss  daran  behandelt  er  dann  die  Elephantiasis 
in  China  und  anderswo,  von  der  er  glaubt,  dass  man  in  causaler  Beziehung  zwei  ver- 
schiedene Ari:en  unterscheiden  müsse.    Nur  eine  derselben  sei  „filarial''.  — 

Dr.  H.  N.  Allen  (33 nd  Issue  p.  38)  erstattet  einen  kurzen  Bericht  über  den  Gesund- 
heitszustand in  Seul  (Korea)  während  des  Jahres  188G.  In  demselben  wird  als  eine  der 
am  meisten  gefürchteten  Krankheiten  die  Recurrens  (yem  pyeng)  aufgeführt  Man  hält 
sie  für  bestimmt  ansteckend,  und  der  Verf.,  obwohl  er  anfangs  diese  Auffassung  bekämpfte, 
wurde  schliesslich  ebenfalls  ein  Anhänger  derselben.  Durch  einmaliges  Befallensein 
steigert  sich  die  Neigung  für  spätere  Rückfälle.  Chinin  scheint  bei  Koreanern  wirkungslos 
zu  sein.  Seine  Haupterfolge  erzielte  der  Verf.  mit  Pilocarpin,  welches  um  die  Zeit  der 
Krise  gereicht  wurde.  Es  sollen  auch  Spirillen  gefunden  sein,  indess  lautet  die  Beschrei- 
bung der  angewendeten  Methode  etwas  bedenklich. 

Ein  grosser  Theil  der  Berichte,  so  auch  der  eben  erwähnte,  liefern  Schilderungen 
der  letzten  Cholera -Epidemie,  welche  sich  über  Ostasien  verbreitete,  sowie  über  die 
verschiedenen  Formen  von  Malaria-Krankheiten.  Rl'D.  Virchow. 


Hugo  Kleist  und  Alb.  Freiherr  V.  SCHRENCK  V.  NOTZING.     Tunis    und 
seine  Umgebung.    Ethnographische  Skizzen.    Leipzig,  Wilh.  Friedrich. 

1888.    8.    253  8. 

Die  vorliegende  Schrift  ist  eine  ganz  anschauliche  und  unterrichtende  Reisebeschreibung, 
aber  sie  trägt  nicht  ganz  mit  Recht  den  Zusatz  ;, Ethnographische  Skizzfn".  Natürlicli 
ist  darin  auch  von  den  Eingebomen  die  Rede,  aber  sowohl  die  physische  Beschreibung 
derselben,  als  die  Schildenmg  ihres  Lebens  und  ihrer  volksthünilichen  Besonderheiten 
erhebt  sich  nirgend  über  die  Eindrücke  des  Touristen.  Nur  in  den  eingestreuten  medi- 
cinischen,  botanischen  nnd  zoologischen  Angaben  zeigt  sich  eine  speciellere  Schulung 
der  Beobachter.  Nichtsdestoweniger  wird  das  Buch  für  gewöhnliche  Reisende  ein 
erwünschtes  Hülfsmittel  der  Orientirung  sein.  Es  liest  sich  leicht  und  bietet  eine  üeber- 
^icht  des  Erlebten  in  guter  Anordnung.  Rro.  Virchow. 


VIII. 

Die  rossgestaltigen  Hirtfmelsärzte  bei  Indern  und 

Griechen. 

Von 
Direktor  W.  SOHWARTZ  in  Berlin. 


In  den  Sagen  aller  Völker  spielen  die  Thiere  eine  grosse  Rolle. 
Ihre  verschiedenen  Eigenschaften  und  Beziehungen  zu  den  Menschen 
schienen  ihnen  einen  bestimmten  Charakter  zu  verleihen,  demgemäss  dann 
die  Phantasie  ihr  Spiel  mit  ihnen  trieb.  Die  Thiersage  ist  uralt  und  über 
den  ganzen  Erdkreis  verbreitet,  dürftiger,  wo  die  vorhandene  Thierwelt 
weniger  geeignete  Exemplare  dazu  bot  reicher,  wo  eine  grössere  Fülle 
derartiger  vorhanden.  Diese  Sagen  haben  etwas  internationales,  nur  dass 
bei  Uebertragungen  von  einem  Volke  zum  anderen  die  Species  oft  wech- 
selt, statt  des  Fuchses  z.  B.  der  Schakal  eintritt  u.  dergl.  m. 

Unterschieden  hiervon,  wenn  auch  gelegentliche  Uebergänge  sich  finden, 
sind  die  mythischen  Thiere,  bezw.  thierartige  mythische  Wesen.  Diese 
hangen  mit  Natur-  und  namentlich  Himmelsanschauungen  zusammen,  die 
sich  zu  ganzen  Bildern  entfalteten,  aus  welchen  sich  dann  die  sogenannten 
Naturmythen  entwickelten,  und  sie  stehen  parallel  und  in  den  mannich- 
fachsten  Bezi^ungen  zu  den  anderen  überirdischen  Wesen,  die  der 
Ulanbe  in  jenen  Bildern  zu  erblicken  wähnte.  Namentlich  ist  die  indo- 
germanische Mythologie,  insofern  sie  sich  der  phantasievollen  Auffassung 
der  Himmelserscheinungen  anschloss,  reich  an  solchen  Gestaltungen,  und 
besonders  charakteristisch  haben  sich  hier  auch  die  verschiedenartigstcMi 
Mischgestalten  von  Thier  und  Mensch  entwickelt.  Besonders  sind  es 
die  an  die  heulenden  Stürme,  die  fliegenden  Wolken,  die  sich 
schlängelnden  Blitze,  sowie  die  brüllenden  oder  hallenden  Donner 
sich  anschliessenden  Bilder,  die  dabei  zur  Sprache  kommen,  indem  sie 
Wölfe,  zauberhafte  Vögel,  Schlangen,  Stiere  und  Rosse,  — tonantes 
equi,  wie  sie  HoRAZ  u.  A.  nennen,  —  in  die  Mythologie  in  den  mannich- 
fachsten  Beziehungen  einführten,  wie  ich  solche  im  „Ursprung  der  Mytho- 
logie** des  Eingellenderen  in  den  Localsagen  der  betrefTeuilen  Völker, 
d.  h.  in  ihrer  niederen  Mythologie,  verfolgt  habe. 

In  allen  möglichen  Situationen  erschienen  dort  oben  am  Himmel  diese» 
thierartigen  Wesen,    zumal    bald    in    gewaltiger  Conception   das  Bild  ein- 

Z«ittefeiift  fSr  KUmologie.    Jahrg.  1»88.  16 


222  W.  SCHWARTZ: 

heitlicher  gefasst  wurde,  bald  in  einer  gewissen  Zersplitterung  die  Vor- 
stellung vieler  derartiger  Wesen  sieh  erzeugte,  und  man  für  beiderlei 
Arten  dann  die  verschiedenste  Bestätigung  in  der  sie  umgebenden  Natur  fand. 

Indem  man  z.  B.  in  der  Gewitternacht  Alles  in  ein  finsteres  Chaos 
versinkend  wjihnte,  aus  dem  sich  dann  aber  wieder  beim  Sehwinden  jener 
eine  neue  Lichtwelt  erhob,  knüpften  sich  die  Schöpfungssagen  bei  den 
Persem  an  „einen"  Urstier,  der  in  den  brüllenden  Donnern  in  der  Entwick- 
lung des  Gewitters  aufgetreten  zu  sein  schien,  während  bei  den  Nord- 
germanen als  Ausgangspunkt  der  Schöpfung  „eine"  Kuh  auftritt,  indem  man 
die  herabhängenden  und  sich  euterartig  zuspitzenden  Wolken  als  Zitzen 
fasste  mid  so  auf  die  Vorstellung  des  betreffenden  weiblichen  Thieres  kam  ^ ). 
Beiderlei  Species  treten  dann  wieder  in  der  kretischen  Sage  auf,  indem 
bald  Zeus  als  Stier  mit  der  Europa,  bald  die  Sonnentochter  Pasiphae  als 
Kuh  mit  einem  aus  den  (himmlischen)  Wassern  angeblich  hervorgekom- 
menen Stier  buhlt. 

Diesen  einheitlich  gefassten  Bildern  gegenüber  stehen  dann  Sagen  von 
den  „vielen"  himmlischen  Wolkenkühen,  um  die  Indra  kämpft,  die  Hermes 
dem  Apoll  raubt,  die  Herakles  dem  Geryoneus  entführt  oder  die  nach  altem 
Märchen,  das  Homer  unter  die  Abenteuer  des  Odysseus  aufgenommen,  dieser 
Held  oder  vielmehr,  nach  der  Version  des  Gedichtes,  seine  Begleiter  dem 
Sonnengotte  stehlen  und  im  Gewitterfeuer  braten,  wobei  höchst  charakte- 
ristisch, wie  ich  gelegentlich  darauf  hingewiesen  habe,  die  angeblich  noch 
sich  bewegend(»n  und  brüllenden  Felle  der  geschlachteten  Thiere  an  die 
ursprüngliche  Gewitterscenerie,  nehmlich  an  die  fort  und  fort  brüllenden 
Gewitterwolken,  als  die  Häute  der  himmlischen  Wolkenkühe,  erinnern. 

In  anderer  Weise  galten  dann  die  zischenden  und  sich  schlängelnden 
Blitze  als  die  züngelnden  Häupter  „eines"  geflügelten  himmlischen  Drachens, 
welcher  der  Sonne  (oder  dem  Monde)  aus  Gefrässigkeit  oder  Liebes- 
verlang(»n  nachzustellen  schien,  oder  der  einzelne  Blitz  unter  dem  Bilde 
„einer"  Schlange  als  „ein"  solches  himmlisches  Uiithier,  in  welches  sich  der 
die  Sonnenjun^i^rau  bedrängendf^  Sturmesgott  (Zeus,  Faunus,  Odhin)  oder 
umgekehrt  das  bedrängte  Wesen  (z.  B.  Thetis)  gewandelt  habcMi  sollte,  nach- 
dem dasseUxs  was  die  Gewitters(!enerie  b(»stätigt,  vorher  vergeblich,  um 
sich    dem  Btnlränger  zu  entziehen,    zu  Wasser  oder  FeucT  geworden  war. 

Die  „Vi(»lheit"  tritt  dem  gegenüber  hier  wieder  z.  B.  in  dem  Bilde  auf, 
wenn  die  griechischen  schlangenfüssigen  Giganten,  die  Gewitterdämonen, 
welche  am  Horizont  aufsteigen,  den  Himmel  stürmen  wollen  oder  wenn  in 
der  bei  Indern,  Griechen,  Römern,  Deutschen,  sowie  Letten  hervor- 
tretenden S(}ilangenven»hrung  noch  deutlich  die  nrsprüngliche  Beziehung  auf 
jene  in  den  Wolken  wohnenden  Hinimelsschlangen  im  Hintergrunde  steht*). 

1)  lieber   derartige  Wolkenp«staltuiifr«*n    als  Zitzen  siehe  die  von  Laistnkr  in  seinen 
>Je])elsagen  1879  S.  297  ]>eijjebrachten  Stellen. 

2)  (Ursprung   der  Mjtliolojpe   S.  43  ff.  cf.   von   Scuroeder,    Indiens   Literatur    und 


Die  rossgestaltigen  HinimelsÃ